Nach der mühsamen Lektüre des gesamten Koalitionsvertrags können wir eine erste Bewertung vornehmen. Das Konkreteste in diesem Koalitionsvertrag sind die Seitenzahlen. Es ist schon sehr erstaunlich, wie man es trotz rund 200 Seiten schafft, nahezu nichts Verbindliches zu sagen. Da wird geprüft, evaluiert und nachgedacht, was das Zeug hält. Aber wirklich zugesagt wird den Bürgerinnen und Bürgern nahezu nichts. Es mag ja sein, dass wir GRÜNEN manchmal zu detailverliebt sind, aber der vollständige Verzicht auf konkrete Aussagen ist auch keine Lösung. Wer keine Ziele hat, kann auch keine erreichen.
Statt klarer Ziele findet sich im Vertrag tief schwarze Prosa. Die CDU fällt zurück in eine Zeit vor Volker Bouffier und Angela Merkel. Das löst bei manchen nostalgische Gefühle und Begeisterungsstürme aus, mit der Vielfalt der gesellschaftlichen Realität von heute hat das wenig zu tun. Der angeblich neue Konsens zwischen CDU und SPD ist ein Konsens der Vergangenheit. Es hat sich eine Koalition aus Vergangenheitsbewahrern und Zukunftsverweigerern zusammengefunden. Die CDU wollte diese andere Politik. Die SPD hat sich dafür hergegeben. Herausgekommen ist eine christlich-soziale Union oder anders ausgedrückt: Es regiert künftig die Hessen-CSU.
Die Koalition hat sich den Bürokratieabbau auf die Fahnen geschrieben. Erstmal wird aber neue Bürokratie aufgebaut und werden gleich zwei neue Ministerien geschaffen. Die Digitalministerin war bislang mehr oder weniger eine Abteilung der Staatskanzlei. Künftig gibt es ein eigenständiges Ministerium mit all dem Overhead und der Bürokratie, die dafür notwendig ist. Völlig neu ist, dass es künftig gleich zwei Sozialministerien geben wird: eines für die Schwarzen und eines für die Roten. So war das mit dem One-in-two-out-Prinzip beim Bürokratieabbau sicher nicht gemeint. Für die SOZIALdemokratische Partei ist es eine Demütigung, dass ihr noch nicht einmal ein vollständiges Sozialministerium zugetraut wird.
Im Kapitel Finanzen des Vertrags wird es auf einmal überraschend konkret. Zitat: „Aus diesem Grund wird die gesamte Aufgaben-, Ausgaben- und Einnahmenstruktur einschließlich der Standardvorgaben des Landes mit Blick auf die Kernaufgaben des Staates, den rechtlichen Bindungsgrad, die politische Bedeutung einer Maßnahme, den Nutzen für Bürgerinnen und Bürger, den Mehrwert für die staatliche Verwaltung und mögliche Umsetzungsrisiken einer ergebnisoffenen Prüfung unterzogen“. Auf Deutsch bedeutet das: Sämtliche Ausgaben stehen auf dem Prüfstand, überall kann und wird gekürzt werden. Das ist somit die Ankündigung von drastischen Einschnitten bei den Leistungen des Landes. Mit ähnlichen Worten hat vor gut 20 Jahren Roland Koch den Kahlschlag in der sozialen und öffentlichen Infrastruktur begonnen. Damals haben das SPD und GRÜNE gemeinsam „Operation düstere Zukunft“ genannt, heute ist die SPD voll dabei.
Im Abschnitt über das Berufsbeamtentum fragt man sich, was die Koalitionäre während der Verhandlungen geraucht haben. Zitat: „Für die Legalisierung von Cannabis müssen wir klare Regelungen für den Dienstbetrieb finden.“ Was dürfen wir hier erwarten? Hasch-Räume in allen Ministerien? Kiffen während der Dienstzeit? Wir glauben, die Menschen in der Landesverwaltung beschäftigen ganz andere Probleme.
Auch sonst gibt der Vertrag entgegen der Ankündigung der Koalitionäre keine Antworten auf die Herausforderungen unserer Zeit. Einige Beispiele:
Die Koalition bleibt im Bildungskapitel zwar jegliche konkrete Aussage beispielsweise zur Anzahl neuer Lehrerstellen oder zur Ausweitung der Schulsozialarbeit schuldig. Aber eines weiß sie ganz genau. Zitat: „Wir werden ein Blockflötenprojekt mit Schulanfängerinnen und Schulanfängern starten, bei dem die Grundschülerinnen und Grundschüler eine Blockflöte und die Lehrkräfte passendes Unterrichtsmaterial erhalten.“ Es gab in der Vergangenheit ganze Generationen von Kindern, denen durch solche Maßnahmen die Freude am Musizieren nachhaltig und dauerhaft vergällt wurde. Es gibt sicher bessere Maßnahmen, um allen Kindern die Freude am Musizieren und am Erlernen eines Instrumentes zu ermöglichen.“