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26.09.2015
Landesarbeitsgemeinschaften, Landesmitgliederversammlung

Hessen heißt Flüchtlinge willkommen - aktiv für Menschenrechte und Integration!

Die Landesmitgliederversammlung von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Hessen hat am 26. September 2015 folgenden Beschluss gefasst:

Millionen Menschen sind aktuell auf der Flucht vor Krieg, Leid, Verfolgung und Hunger. Viele davon sind Kinder. Die Bilder und Berichte in den Medien von Menschen auf der Flucht bewegen uns GRÜNE zutiefst. Sie erinnern uns erneut daran, dass gerade der wohlhabende Teil der Welt in der Verantwortung steht, diesen Menschen eine neue Heimat zu eröffnen – auch weil viele der Konflikte auf dieser Welt mit der ungleichen Verteilung von Reichtum und Armut, der Art unserer weltweiten Wirtschaftsweise oder unserem Handeln oder teilweise Nicht-Handeln in diesen Ländern zu tun haben.

Auch in Hessen kommen Flüchtlinge aus aller Welt an, in den letzten Wochen besonders viele. Der Anteil derer, die vor Krieg und Gewalt fliehen, hat sich deutlich erhöht. Waren es 2013 noch 8.688 Flüchtlinge, die nach Hessen kamen, so waren es von Januar bis Juli 2015 bereits 22.708 Menschen. Insgesamt werden im Jahr 2015 derzeit 58.000 Asylsuchende erwartet. Die Situation für diese Menschen ist angespannt, ihnen muss sofortige Hilfe zuteil werden. Aber auch für die Akteure, die sich in den Erstaufnahmeeinrichtungen und in den aufnehmenden Gemeinden und Kreisen engagieren, ist die aktuelle Situation sehr fordernd.

Wir wollen, dass die hier ankommenden Menschen in Hessen willkommen geheißen werden Asylsuchenden, die vor Verfolgung, Krieg und Terror fliehen mussten, müssen zügig anerkannt werden. Wir wollen, dass diese Menschen gut und sicher leben können und dass sie eine Perspektive für ihr weiteres Leben entwickeln können. Wir wissen, dass viele dieser Menschen hier bleiben werden und wir begreifen dies auch als Chance für unser Land.

Es kommen auch Menschen hierher, die in ihrem Land aufgrund der ökonomischen Situation keine Perspektive für sich und ihre Familien mehr sehen. Auch sie versuchen aus individuell verständlichen Gründen Asyl zu erhalten, weil ihnen kein anderer legaler Zuwanderungsweg nach Mitteleuropa zur Verfügung steht. Auch wenn nicht alle Asylsuchenden auch einen Asylanspruch haben ist für uns elementar, dass alle ein Recht darauf haben, menschenwürdig behandelt zu werden. Eine Perspektive für diese Personengruppe liegt insbesondere in der sozialen und wirtschaftlichen Verbesserung in ihren Herkunftsländern – für die auch Deutschland und Europa Verantwortung tragen, sowie in einem für Deutschland überfälligen Einwanderungsgesetz.

In der aktuellen Situation sind alle Ebenen und Akteure gefragt, da anzupacken, wo Hilfe benötigt wird. Auch das Land Hessen muss weiterhin zeigen, dass alles getan wird, um den Schutzsuchenden die Hilfe zu geben, die sie benötigen.

Wir legen besonderen Wert darauf, dass die Ausländerbehörden bei der Vollstreckung der Ausreisepflicht jeden Einzelfall dahingehend sensibel überprüfen, ob Abschiebungshindernisse vorliegen oder eine vorübergehende Aussetzung der Abschiebung geboten erscheint. Wir setzen uns für eine Aussetzung von Abschiebungen in Regionen ein, bei denen in den Wintermonaten für die zurückkehrenden Flüchtlinge unzumutbare Härten entstehen würden. Durch eine solche Aussetzung der Abschiebung und einem humanitär begründeten Bleiberecht soll sichergestellt werden, dass Menschen vor einer die Lebensexistenz bedrohenden Diskriminierung geschützt werden. Dabei ist insbesondere die jüngste Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) und des Bundesverfassungsgerichts, wonach vonseiten des aufnehmenden Landes eine Zusicherung für eine menschenwürdige und damit winterfeste Unterkunft vorliegen muss – insbesondere für schutzbedürftige Gruppen (beispielsweise Familien mit Kindern unter 16 Jahren und Schwangere) – zu beachten.

Die große Aufnahme- und Hilfsbereitschaft in der Bevölkerung, das große Engagement vieler freiwilliger Helferinnen und Helfer der Hilfsorganisationen sowie vieler weiterer Ehrenamtlicher, der enorme Einsatz der zuständigen Behörden, die vielen Projekte und Hilfsaktionen sind ein eindrucksvolles Zeichen der vorherrschenden Willkommenskultur. Wir sind dankbar für das, was bereits geleistet wurde und wollen diesen Einsatz weiterhin stärken und unterstützen. Der vom Landesverband für den 10. Oktober organisierte Flüchtlingskongress in Wetzlar ist ein Schritt auf dem Weg zu einer Vertiefung des Dialogs und Stärkung der Vernetzung von Ehrenamtlichen, Geflüchteten, Initiativen, Unternehmen, Vereinen, Verbänden und Interessierten.

Für uns ist klar: Diese Aufgabe stellt das Land und die Kommunen vor gigantische Herausforderungen. Aber es besteht kein Zweifel, dass wir den Menschen die bestmögliche Aufnahme, Versorgung und Integration ermöglichen. Denn die meisten von denen, die bei uns Schutz suchen, werden auch hier bleiben.

Deshalb gilt es, als Land Hessen, in den Kommunen und durch bürgerschaftliches Engagement konsequent und nachhaltig alles zu tun, damit diesen Menschen die Ankunft und der Verbleib in Hessen würdig und rasch ermöglicht wird.

Wir begrüßen, dass die Landesregierung große Anstrengungen für eine möglichst gute Unterbringung und Versorgung der Flüchtlinge unternimmt und bereits eine Fülle zusätzlicher Maßnahmen ergriffen hat:

  • Damit die hier ankommenden Menschen eine menschenwürdige Unterkunft finden, hat das Land Hessen zusätzlich zur Erstaufnahmeeinrichtung in Gießen insgesamt 21 weitere Erstaufnahmeeinrichtungen und Außenstellen eröffnet. Die Zahl von 6.000 Erstaufnahmeplätzen, die bis Anfang 2015 eingerichtet wurden, wurde damit in den letzten Monaten mehr als verdoppelt, um der Vielzahl Hilfesuchender gerecht zu werden. Bis Jahresende sollen 19.000 Erstaufnahmeplätze eingerichtet werden. Eine vorübergehende Unterbringung in Zelten war bei den derzeitigen hohen Zugangszahlen innerhalb eines sehr kurzen Zeitraums leider unumgänglich. Es müssen jetzt alle Möglichkeiten genutzt werden, um dies nicht dauerhaft nötig zu machen – insbesondere nicht im Winter. In den Erstaufnahmeeinrichtungen werden die dort ankommenden Flüchtlinge medizinisch versorgt und können ihren Asylantrag stellen. Angesichts weiter steigender Flüchtlingszahlen hat das Land im kommenden Jahr 630 Millionen Euro für die Versorgung und Unterbringung von Geflüchteten in den Entwurf des Landeshaushalts eingestellt – trotz Schuldenbremse. Schon jetzt zeichnet sich ab, dass diese Summe in den Haushaltsberatungen weiter erhöht werden muss.
  • Die Gebietskörperschaften erhalten seit Anfang 2015 eine um 15 Prozent erhöhte Geldzuweisung für die Unterbringung, Versorgung und Betreuung jedes Flüchtlings. Im Laufe dieses Jahres will sich das Land mit den Kommunen auf eine weitere Anpassung der Pauschalen verständigen.
  • Die bereits zur Verfügung gestellten Bundesmittel zur Unterbringung und Versorgung von Flüchtlingen werden vom Land eins zu eins an die Landkreise und kreisfreien Städte weitergegeben. Die Kommunen erhalten somit zusätzliche 36,9 Millionen Euro für die Unterbringung und Versorgung vor Ort.
  • Für Frauen und Kinder aus dem Nordirak und Syrien, die Opfer geschlechtsspezifischer oder sexueller Gewalt geworden sind, prüft die Landesregierung, wie sie das bereits bestehende Sonderkontingent des Landes Baden-Württemberg erweitern kann. So sollen die betroffenen Frauen und Kinder direkt nach Hessen kommen, um hier Schutz und Hilfe zu finden.
  • Im Oktober und Dezember diesen Jahres wird von der Landesregierung ein Asylkonvent einberufen. Hier sollen die dringenden Fragen der Flüchtlingspolitik und die Integrationspolitik des Landes gemeinsam mit Verbänden und Experten diskutiert werden. Dies ist auch eine Weiterführung der Gespräche der im Februar 2015 von der Landesregierung einberufenen Asylkonferenz.
  • Im Rahmen des kommunalen Investitionsprogramms wird ergänzend zu den vorhandenen Programmen ein zusätzliches Wohnungsprogramm mit einem Volumen von 230 Millionen Euro aufgelegt, um für Menschen mit geringem Einkommen und Flüchtlinge zusätzlichen bezahlbaren Wohnraum zu schaffen.

Wir wollen allen hier ankommenden Menschen mit Offenheit, Mitgefühl und Solidarität begegnen. Der menschenwürdige Umgang mit Schutzsuchenden ist und bleibt Leitfaden unserer Asyl- und Flüchtlingspolitik. Dies ist angesichts der Herausforderungen für einen menschenwürdigen Umgang mit geflüchteten Menschen nur ein Anfang, weitere Schritte müssen folgen.

Der Willkommenskultur muss die Integrationskultur folgen. Die Flüchtlinge, die auf absehbare Zeit oder für immer hier bleiben, brauchen schnellen Zugang zu Sprach- und Integrationskursen sowie zum Arbeitsmarkt.

Die GRÜNEN Hessen setzen sich deshalb weiterhin u.a. für Folgendes ein:

  • Den Ausbau der Unterstützungsangebote für Flüchtlingskinder an unseren Schulen. Dazu zählt auch die Ausweitung der Schulsozialarbeit, welche ein Bindeglied zur Integrationsarbeit darstellt.
  • die aktive Umsetzung der EU-Richtlinie für besonders Schutzbedürftige (Kranke, Alte, Traumatisierte, Menschen mit Behinderung)
  • die Evaluierung des Landesaufnahmegesetzes und Anpassung an bundespolitische Neuregelungen
  • die Sicherstellung einer qualitativ hochwertigen Erstaufnahme mit Ärzteteams und so weit möglich psychologischer Betreuung der Flüchtlinge. Die Zeltstädte wollen wir schnellstmöglich durch winterfeste Unterkünfte ersetzen.
  • Nach der Erstversorgung sollen eine dauerhafte Perspektive und eine Integration in die Gesellschaft schnellstmöglich sichergestellt werden. Deshalb sollen Programme zum Erwerb von Sprache und Qualifikationen sowie zur Integration in den Arbeitsmarkt für diese Zielgruppe verstärkt, fokussiert und genutzt werden.
  • Die vielen ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer sollen bei ihrer Arbeit unterstützt und koordiniert werden.
  • Wir setzen uns für eine bundesweite Einführung der Gesundheitskarte für Flüchtlinge ein und werden gleichzeitig landespolitische Handlungsmöglichkeiten nutzen. Hier ist Nordrhein-Westfalen als erstes Flächenland mit der Gesundheitskarte für Flüchtlinge bundespolitisch Vorbild – hieran sollten wir uns orientieren, um die Gesundheitsversorgung für Flüchtlinge zu verbessern.
  • Für erwachsene Flüchtlinge sollen in den Kommunen beispielsweise über die Volkshochschulen Sprachkurse angeboten werden.
  • Um die schulische und berufliche Integration zu erleichtern, sollen möglichst früh die Qualifikationen von Flüchtlingen abgefragt und anerkannt werden.

Von der Bundesregierung erwarten wir:

  • Strukturelle und dauerhafte finanzielle Beteiligung des Bundes an den Kosten der Flüchtlingsunterbringung: Es kann nicht sein, dass der Bund bei steigenden Flüchtlingszahlen nur feste Beträge anbietet. Auch die Mitarbeiterzahlen des Bundesamts für Migration und Flucht müssen endlich kontinuierlich an die aktuellen Entwicklungen angepasst werden.
  •  Klare Zusagen des Bundes bei den Sprach- und Integrationskursen: Der Willkommenskultur muss die Integrationskultur folgen. Viele Flüchtlinge werden lange oder für immer in unserem Land bleiben. Sie brauchen Unterstützung beim Lernen unserer Sprache und beim Zurechtfinden in einem neuen, ihnen bislang fremden Land.
  • Erleichterter Arbeitsmarktzugang: Es ist widersinnig, Fachkräftemangel zu haben, und das Potenzial von qualifizierten Flüchtlingen mit Bleibeperspektive nicht möglichst frühzeitig zu nutzen und zu fördern. Daher fordern wir die Abschaffung der Vorrangprüfung.
  • Einwanderungsgesetz: Jenseits des Asylrechts braucht es klare und legale Wege zur Einwanderung in unser Land. Dabei muss ein Einwaderungsgesetz mehr sein als eine Zusammenführung der bisherigen Regelung sein. Wir fordern, dass Deutschland endlich als Einwanderungsland begriffen wird.
  • populistischen Tendenzen zu widerstehen: Sprüche, ideologische Debatten oder Scheinlösungen helfen niemanden. So atmet der bekanntgewordene Referentenentwurf der Bundesregierung zur Änderung des Asylrechts den Geist von Aktionismus, Sanktion und Repression, statt die Länder und Kommunen bei ihren Aufgaben ausreichend zu unterstützen. Auch löst die Debatte um eine Ausweitung der sicheren Herkunftsstaaten kein einziges real vorhandenes Problem. Weder hat die bisherige Ausweitung die Zuwanderung aus den Balkan-Ländern gestoppt, noch ist das Asylrecht das richtige Instrument, um die Perspektivlosigkeit vieler Menschen in diesen Ländern zu ändern.
  • Eine Asylablehnung aus diesem Grund muss rechtsstaatlichen Erfordernissen genügen und in jedem Fall auch gerichtlich überprüfbar sein.

Vor dem Hintergrund der genannten Erwartungen enthalten die Vereinbarungen des Bund-Länder-Flüchtlingsgipfels vom 24. September 2015 Licht und Schatten.

Wir haben den legalen Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt, eine direkte Unterstützung der Minderheiten auf dem westlichen Balkan und eine regelmäßige Überprüfung der so genannten sicheren Herkunftsländer erkämpft. Wir haben damit faktisch den Einstieg in ein Einwanderungsgesetz geschafft. Die Öffnung und Finanzierung von Integrationskursen, Qualifizierungen für den Arbeitsmarkt, ein Wohnungsbauprogramm und eine dauerhafte, dynamische und strukturellen Beteiligung des Bundes an den Kosten wurde vereinbart. Die von Teilen der Union geplanten grundsätzlichen Verschärfungen des Asylrechts, konnten in wichtigen Teilen abgewehrt werden. Vor allem wurden alle Angriffe auf das Grundrecht auf Asyl verhindert.

Es handelt sich jedoch um ein Paket, in dem auch Punkte enthalten sind, die grünen Vorstellungen zuwiderlaufen. So sind Leistungskürzungen für Ausreisepflichtige oder weitere sichere Herkunftsländer schwer tragbar. Und eine Reihe von Maßnahmen, die Bürokratie abgebaut und damit Flüchtlinge, Behörden und Helfer entlastet hätten, waren partout gegen die Große Koalition nicht durchsetzbar, etwa eine Altfallregelung oder die Abschaffung der Vorrangprüfung.

Wir sehen uns in der Verantwortung, den Menschen, die zu uns vor Krieg und Verbrechen fliehen, schnell eine Perspektive in unserer Gesellschaft zu geben. Den vielen Menschen, die ihnen helfen, Unterstützung zu geben und die Kommunen und Organisationen in die Lage zu versetzen, die große Aufgabe der Integration zu meistern.

Vor dem gesamten Hintergrund schließen wir uns der gemeinsamen Bewertung des GRÜNEN Ministerpräsidenten, der GRÜNEN stellvertretenden Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten sowie der Partei- und Fraktionsvorsitzenden der GRÜNEN im Bund an und sehen in dem Paket eine tragfähige Grundlage für das weitere Gesetzgebungsverfahren.