Beschluss:
Menschenrechte wahren, Menschen in Not helfen, Integration
verwirklichen
1. Weiterhin sind weltweit 60 Millionen Menschen auf der Flucht. Zwar hat sich die Situation in Deutschland und Hessen entspannt, an der Lage der Flüchtlinge hat sich dadurch hingegen nichts geändert. Im Gegenteil: Es bleibt eine Schande für die Europäische Union, dass weiter Menschen auf der Flucht im Mittelmeer ertrinken und viele Staaten der Europäischen Union auf Abschottung statt Hilfe setzen.
2. Es ist und bleibt Aufgabe Deutschlands und der Europäischen Union, Fluchtursachen zu bekämpfen, eine an Humanität und Menschenrechten orientierte europäische Flüchtlingspolitik auf den Weg zu bringen und Flüchtlingen Schutz, Integration und eine neue Heimat zu gewähren. Statt sich angesichts der Tatsache, dass weniger Flüchtlinge nach Deutschland kommen, erleichtert zurückzulehnen, müssen verstärkte Initiativen zur Stabilisierung der Lage in den Herkunftsländern und für einen europäischen Verteilungsmechanismus ergriffen werden.
3. Aber auch Deutschland und Hessen müssen sich weiter ihrer Verantwortung stellen. Der Parteirat bekräftigt daher den Beschluss „Hessen heißt Flüchtlinge willkommen – aktiv für Menschenrechte und Integration!“ der Landesmitgliederversammlung vom 26. September 2015. Er begrüßt, dass nahezu alle auf Hessen bezogenen Forderungen aus dem Beschluss umgesetzt wurden und Eingang in den „Aktionsplan zur Integration von Flüchtlingen und Bewahrung des gesellschaftlichen Zusammenhalts“ der Landesregierung gefunden haben. Im Einzelnen:
• Die Unterstützungsangebote für Flüchtlingskinder an unseren Schulen wurden durch die Ausweitung des Schulsozialindex ausgebaut und die Sprach- und Integrationsförderung mit dem Konzept InteA in berufliche Schulen und durch ein weiteres Programm auf das Alter bis 21 Jahren ausgeweitet.
• Die EU-Richtlinie für besonders Schutzbedürftige wurde durch die sozialpsychologische Beratung in Darmstadt und eine Erstaufnahmeeinrichtung speziell für Menschen mit hohem medizinischem und pflegerischem Bedarf umgesetzt. Eine landesweite Beratung ist in Arbeit.
• Der erste große Schritt der Evaluierung des Landesaufnahmegesetzes wurde mit der Erhöhung der LAG-Pauschalen für die Kommunen um durchschnittlich 45 Prozent erreicht. Die weitere inhaltliche Evaluierung ist vereinbart.
• Unsere Forderung, alle Zeltstädte schnellstmöglich durch winterfeste Unterkünfte zu ersetzen, haben wir erfüllt. Bis Winterbeginn waren alle Flüchtlinge in winterfesten Unterkünften untergebracht.
• Nach der Erstversorgung wollten wir eine dauerhafte Perspektive und die Integration in die Gesellschaft schnellstmöglich sicherstellen. Dies haben wir umgesetzt durch Sprachprogramme in Kitas, in der Erstaufnahme und in den Kommunen sowie Arbeitsmarktprogramme im Wirtschafts- und Sozialministerium. Zuständigen Stellen für die Anerkennung der im Herkunftsland erworbenen Bildungsabschlüsse und Qualifikationen erhalten mehr finanzielle Unterstützung.
• Die Arbeit und Koordination der vielen ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer haben wir mit 20.000 Euro pro Landkreis unterstützt.
• Für die Einführung der Gesundheitskarte haben wir 500.000 Euro im Landeshaushalt eingestellt und ringen aktuell mit Vertretern der Kassen und der Kassenärztlichen Vereinigung.
4. Gleichzeitig kritisiert der Parteirat, dass es von Seiten der Bundesregierung und der sie tragenden Fraktionen – insbesondere der CSU – kein vergleichbar klares Bekenntnis zu einer Willkommens- und Integrationskultur mehr gibt. Dem „Wir schaffen das“ von Bundeskanzlerin Merkel folgte auf Bundesebene leider nicht ein „So schaffen wir das“, sondern eine deutliche Kurskorrektur hin zu einer restriktiven Asyl- und Flüchtlingspolitik. Dies gilt auch für das Vorhaben von CDU/CSU und SPD, die Liste der so genannten sicheren Herkunftsländer um Tunesien, Algerien und Marokko zu erweitern.
5. Wie schon bei den vorangegangenen zwei Beratungen über eine Ausweitung der sicheren Herkunftsländer in den Jahren 2014 und 2015 waren GRÜNE bereit, über Verhandlungen zwischen Bundestag und Bundesrat die Pläne der Großen Koalition zu korrigieren und im Zuge eines Kompromisses Verbesserungen für Flüchtlinge zu erreichen. Hierzu haben einige grün mitregierte Länder eine Stellungnahme zum Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Einstufung der Maghreb-Staaten als sichere Herkunftsländer eingebracht (Bundestagsdrucksache 68/16(B)). Diese Stellungnahme wurde im März 2016 von der Länderkammer beschlossen. Darin wird die Bundesregierung u.a. aufgefordert,
• die Einhaltung der Kriterien des Bundesverfassungsgerichts in Bezug auf sichere Herkunftsländer präziser darzulegen,
• die besondere Situation von Minderheiten, einzelnen Volksgruppen sowie von Homo-, Trans- und Intersexuellen, ebenso wie die Gewährleistung der Pressefreiheit und rechtsstaatlicher Verfahren besonders zu beachten,
• das Bundesamt für Migration und Flucht (BAMF) besser auszustatten,
• eine Altfallregelung für besonders langjährige Asylverfahren auf den Weg zu bringen,
• das Monitoring über die Menschenrechtssituation in als sichere Herkunftsstaaten eingestufte Ländern zu verbessern.
6. Landesvorstand und Landtagsfraktion haben unsere GRÜNEN Regierungsmitglieder und unseren Koalitionspartner gebeten, auf dieser Grundlage für Verhandlungen zwischen Bund und Ländern bereit zu sein.
7. Der Parteirat kritisiert, dass der Bundestag mit der Mehrheit der Großen Koalition trotz der beschlossenen Stellungnahme des Bundesrats das Gesetz zur Ausweitung der sicheren Herkunftsstaaten im Mai in der Substanz unverändert beschlossen hat. Auch wurden von Seiten der Bundesregierung keine Verhandlungen mit den Bundesländern mit Blick auf die Bundesratsentscheidung am 17. Juni 2016 aufgenommen. Somit unterscheidet sich die Situation nach aktueller Lage substanziell von den früheren Beratungen über die Ausweitung der sichereren Herkunftsländer.
8. Unsere grüne Position in Hessen – wie wir sie zuletzt mit der Landesmitgliederversammlung im letzten Jahr zum Ausdruck gebracht haben – war und ist, dass wir über Verhandlungen zwischen Bund und Ländern versuchen, Verbesserungen für Flüchtlinge zu erreichen, anschließend das Verhandlungsergebnis bewerten und dann eine Entscheidung über unser Abstimmungsverhalten treffen. Angesichts der bisher nicht vorhandenen Bereitschaft der Bundesregierung zu ernsthaften Gesprächen lehnen die hessischen Grünen folgerichtig den vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Einstufung Algeriens, Marokkos und Tunesiens als sichere Herkunftsstaaten ab. Die Bundesregierung konnte außerdem bisher nicht nachweisen, auf welcher Grundlage sie Algerien, Marokko und Tunesien als „sicher“ einschätzt. Im Gegenteil geben Berichte von Menschenrechtsorganisationen Anlass zur Sorge, die von schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen, staatlicher Repression und Verfolgung gegenüber Homosexuelle, Frauen und Journalist*innen berichten.
9. Wir GRÜNE bleiben zu Fragen der Flüchtlingspolitik gesprächsbereit. Für ein Gespräch braucht es aber immer mindestens zwei. Wir schlagen vor, diese Gesprächsbereitschaft für reale Lösungen bei der großen Koalition zu prüfen. Dies könnte beispielsweise über eine Anrufung des Vermittlungsausschusses zwischen Bundestag und Bundesrat geschehen. Unser Ziel bleibt, Fehlentwicklungen in der Flüchtlingspolitik der Bundesregierung zu korrigieren und reale Verbesserungen für Flüchtlinge zu erreichen. Hierzu sind wir weiterhin auch zu Kompromissen bereit, sofern diese mit unseren Grundsätzen und dem individuellen Recht auf Asyl vereinbar sind.
10. Das Ergebnis möglicher Verhandlungen zwischen Bund und Ländern beziehungsweise eines möglichen Vermittlungsverfahrens wird mit Blick auf das Abstimmungsverhalten im Bundesrat vor einer Festlegung der Landesregierung vom Parteirat bewertet.
11. Für uns Grüne ist es an der Zeit, das umstrittene Konzept der sicheren Herkunftsstaaten durch ein zielführendes Verfahren zur Beschleunigung der Asylverfahren zu ersetzen, das gleichzeitig den Grundsätzen unseres Asylrechts besser gerecht wird. Eine Orientierung kann am Vorbild der Schweiz erfolgen. Hierbei kommt es jedoch auf das Gesamtpaket an. Die von der Schweiz ergriffenen Maßnahmen zur Verfahrensbeschleunigung, wie etwa die Kategorisierung der Asylgesuche, sind kritisch in Bezug auf ihre Übertragbarkeit in das deutsche Asylrecht zu prüfen. Von grundlegender Bedeutung sind bei allen Maßnahmen zur Verfahrensbeschleunigung ein unabhängiges Verfahren und ein umfassender Rechtsbeistand für jede*n Geflüchtete*n. Erste Gespräche über dieses Konzept könnten ebenfalls im Rahmen von Bund-Länder-Verhandlungen begonnen werden, wobei eine solche grundsätzliche Veränderung vermutlich erst mittelfristig zu realisieren sein wird.