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30.09.2010
Portraitfoto von Tarek Al-Wazir vor grauem Hintergrund

Tarek Al-Wazir: Atomkraftwerk Biblis: Statt verharmlosen und verschweigen – Risikogutachten offenlegen

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn man einen Strich unter das zieht, was die Ministerin Puttrich hier gesagt hat, dann hat sie gesagt: Es ist alles kein Problem.

Frau Ministerin, ich frage mich schon: Wenn alles kein Problem ist, warum waren Sie dann eigentlich gestern Nachmittag zu diesem Thema nicht sprechfähig?

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der LINKEN – Zurufe von der CDU)

Frau Ministerin, wenn alles kein Problem ist, warum gehen Sie dann jetzt zur Vorwärtsverteidigung über und melden sich noch vor den Fraktionen, damit Sie um Gottes willen auf keine einzige der hier gestellten Fragen eine Antwort geben müssen?

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Zuruf des Abg. Gottfried Milde (Griesheim) (CDU))

Sie versuchen sich hier als Meisterin des Neusprechs. Sie stellen hier immer Bilder. Das tun Sie, seit wir mit Ihnen die erste Debatte hier in diesem Haus geführt haben. Ein paar Tage später werden genau diese Bilder durch die Wirklichkeit absolut widerlegt.

Wir haben am 8. September hier in diesem Hause die erste Debatte Ihrer Amtszeit über Biblis geführt. Sie waren eine Woche im Amt. Da haben Sie schöne Bilder gestellt. „Sicherheit ist nicht verhandelbar“ haben Sie gesagt.

(Zuruf der Abg. Judith Lannert (CDU))

Sie haben auch gesagt: „Sicherheit geht vor Wirtschaftlichkeit.“

(Zuruf der Abg. Judith Lannert (CDU))

Frau Lannert, zwei Tage später wird der Geheimvertrag der Bundesregierung mit den Atomkonzernen bekannt, bei dem völlig klar ist: Sicherheit ist offensichtlich doch verhandelbar, sie darf die Konzerne nämlich nicht mehr als 500 Millionen Euro kosten.

(Lebhafter Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der LINKEN – Zuruf des Abg. Gottfried Milde (Griesheim) (CDU))

Eine Woche später sitzen wir im Umweltausschuss, 16. September. Da stellen Sie sich hin und sagen: Die Sicherheit der Menschen ist das einzige, was uns leitet.

(Zuruf der Abg. Judith Lannert (CDU))

Eine Woche später machen Sie ein dpa-Gespräch. Nebenbei geben Sie zu – im Umweltausschuss sind Sie noch drumherumgeschwurbelt –, es gibt keine externe Notstandswarte, und es gibt keinen Schutz gegen Flugzeugabstürze. – Offensichtlich ist die Sicherheit der Menschen nicht das Einzige, was Sie leitet, sondern auch der Profit von RWE.

(Lebhafter Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der LINKEN)

Sie haben am 14. September ganz dick die Backen aufgeblasen und gemeinsam mit Herrn Söder gesagt: Länder fordern Geld aus dem Atomdeal – das war die Überschrift. Zwei Tage später gibt es die uneingeschränkte Zustimmung zu allem, was die Bundesregierung verhandelt hat.

Sie haben am 25.09., letzten Samstag, wieder ein dpa-Gespräch gehabt, das sogar zur Überschrift geführt hat – das ist die Krönung des Neusprechs gewesen –: „Puttrich macht Druck“. Am Ende stand darin: Es gibt keine externe Notstandswarte, es gibt kein Notstandssystem. Sie haben gesagt, das ist nicht nötig, weil sich die beiden Blöcke im Falle eines Falles gegenseitig stützen. Deswegen brauchen sie übrigens als einziger deutscher AKW-Standort keine externe Notstandswarte. Sie haben den Zusatz gebracht: Biblis ist sicher, sonst wäre es gar nicht am Netz.

(Lachen bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der LINKEN)

Am Montag nach diesem Samstag wird bekannt, dass seit Ende letzten Jahres im Bundesumweltministerium und, wie Sie gerade gesagt haben, seit dem 20.07. bei Ihnen das Gutachten vom Öko-Institut liegt, das von 80 relevanten Schwachstellen ausgeht. Sie haben gesagt: Das ist alles hypothetisch, und real hat es überhaupt keine Bedeutung.

Da frage ich Sie – Norbert Schmitt hat ein paar Sachen genannt –, warum in der Liste, die gestern bekannt geworden ist, Ihre eigenen Leute in der Bund-Länder-Kommission genau etliche dieser Schwachstellen als Schwachstellen definieren.

(Lebhafter Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der LINKEN)

Für mich ist die spannende Frage, wenn Sie sagen, das liegt seit dem 20.07. im Ministerium: Hat man am 21.07. z. B. den TÜV Süd beauftragt: „Hier ist die Endversion, prüft bitte alles durch“, ja oder nein? Haben Sie das getan? Wenn Sie es nicht getan haben: Warum haben Sie es nicht getan?

(Lebhafter Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der LINKEN)

Sie haben, wie gesagt, am Samstag erklärt, alles ist sicher, das Notstandssystem funktioniert wunderbar. Am Montag wird bekannt, das Gutachten spricht von 80 Schwachstellen. Gestern wird bekannt, dass genau dieses Notstandssystem der gegenseitigen Stützung nicht automatisch funktioniert hätte.

Jetzt sagen Sie – das stand nicht in der Presseerklärung, das haben Sie nur hier gesagt –, es hat 40 Minuten gedauert, den Schalter aus dem Lager zu holen. – Es ist schön, wenn der Schalter im Lager ist. Wir haben Glück gehabt, dass Biblis A gerade heruntergefahren ist. Aber das ist doch genau das Restrisiko, das nicht hinnehmbar ist. Wenn Biblis A in Betrieb gewesen wäre – –

(Lebhafter Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der LINKEN – Florian Rentsch (FDP): Tarek, das ist unter deiner Würde! – Weitere lebhafte Zurufe von der CDU und der FDP)

Die Letzten, die versucht haben, einen Reaktor manuell zu steuern, das war die Bedienmannschaft in Tschernobyl. Das Ergebnis ist bekannt.

(Lebhafter Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der LINKEN – Zuruf des Abg. Hans-Jürgen Irmer (CDU))

Deswegen gibt es automatische Systeme. Wenn die nicht funktionieren, ist das ein Problem. Da kann man nicht sagen, das macht nichts.

(Zuruf des Abg. Hans-Jürgen Irmer (CDU))

Frau Puttrich, vielleicht wissen Sie nicht, aber Norbert Schmitt hat es angesprochen, was am 17. Dezember 1987 passiert ist. Als ein Absperrventil offen stand und ein Lämpchen gezeigt hat, das etwas nicht stimmt, was hat die Bedienmannschaft manuell gemacht? Sie ist nicht hingegangen und hat den Reaktor abgeschaltet. Sie hat die Warnlampe abgeschaltet, und genau das ist der Grund, weil der Mensch ein fehlbares Wesen ist, warum das nicht hinnehmbar ist.

(Lebhafter Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der LINKEN)

Frau Puttrich, am Tag, als Volker Bouffier Sie nominiert hat, hat Ihr Kreisverband in der Wetterau eine Erklärung mit der Überschrift gebracht: CDU Wetterau freut sich, dass Lucia Puttrich Landwirtschaftsministerin wird. – Sie sind auch für Wetterauer Kartoffeln zuständig, das stimmt. Aber Sie sind eben auch für südhessische Atomkraftwerke zuständig, Frau Ministerin.

(Lebhafter Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der LINKEN)

Präsident Norbert Kartmann:

Herr Al-Wazir, gestatten Sie Zwischenfragen?

Tarek Al-Wazir:

Nein, Herr Präsident. – Ich hatte gedacht, Sie wollten mich gerade wegen der Wetterauer Kartoffeln rügen, Entschuldigung.

Ich sage Ihnen sehr deutlich, Ihnen wird vielleicht gerade jetzt klar, worauf Sie sich eingelassen haben. Wir haben in Biblis Reaktoren, die zu den störfallanfälligsten der Bundesrepublik Deutschland gehören. Wir haben Reaktoren, in denen seit Jahren große Nachrüstungserfordernisse bestehen, denen nicht nachgekommen wird. Sie sind jetzt in der Situation, dass Sie einerseits politisch versprochen haben: „Liebe Atomlobby, wir sorgen dafür, dass ihr weiter Geld drucken könnt“ und auf der anderen Seite einen Amtseid geschworen haben, dass Sie für die Bevölkerung da sind, und zwar für die Sicherheit der Bevölkerung, nicht nur derjenigen, die mit Atomkraftwerken Geld verdienen, Frau Puttrich.

(Lebhafter Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der LINKEN – Hans-Jürgen Irmer (CDU): Was ist das für ein erbärmliches Niveau! – Weitere Zurufe von der CDU und der FDP)

Präsident Norbert Kartmann:

Darf Herr Beuth eine Zwischenfrage fragen?

Tarek Al-Wazir:

Nein. Ich weiß ja, was da kommen wird. Ich höre die Zwischenrufe, die reichen mir. Die sind übrigens nicht bürgerlich, Herr Irmer.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der LINKEN – Zuruf des Abg. Hans-Jürgen Irmer (CDU))

Präsident Norbert Kartmann:

Herr Kollege Irmer. – Herr Al-Wazir, Sie haben das Wort.

Tarek Al-Wazir:

Frau Ministerin, Ihnen sollten die letzten 30 Tage endgültig gezeigt haben, dass Biblis A und B Reaktoren sind, die nicht dem Stand von Wissenschaft und Technik entsprechen, die heute nicht mehr genehmigungsfähig sind, die 36 und 34 Jahre alt sind und die schnellstmöglich abgeschaltet werden müssen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der LINKEN)

Das ist Ihre Aufgabe. Wenn Sie diese Aufgabe nicht erfüllen, dann müssen Sie sich gefallen lassen, dass Sie nicht mehr die Energie- oder die Umweltministerin sind, sondern dass Sie die Atomministerin sind. Ich sage Ihnen: 70 Tage sind es noch zur 100-Tage-Bilanz, und dann werden wir sehr genau schauen, wessen Interessen Sie vertreten.

(Lebhafter Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der LINKEN – Zuruf der Abg. Judith Lannert (CDU))

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