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13.05.2008
Portraitfoto von Tarek Al-Wazir vor grauem Hintergrund

Tarek Al-Wazir zu „Vielfalt in der Einheit – Chance und Notwendigkeit des Vertrags von Lissabon“

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Lieber Kollege Lenz, auch die Linkspartei im Hessischen Landtag wird es nicht schaffen, den Kommunismus in Hessen einzuführen. Daran sind, glücklicherweise, schon ganz andere gescheitert.

(Dr. Christean Wagner (Lahntal) (CDU): Sie versuchen es aber immer wieder!)

Ich habe mich noch einmal gemeldet, weil ich an einem einzigen Punkt – an einem einzigen Punkt; regen Sie sich nicht auf – der Linkspartei im Hessischen Landtag ein bisschen dankbar bin. Durch ihren völlig verquasten Antrag hat sie immerhin dazu beigetragen, dass die Hessische Landesregierung in einer Debatte zum Thema Europa endlich einmal wieder über den positiven Geist von Europa und über die Größe der europäischen Idee geredet hat.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Denn in der Vergangenheit haben wir oft erlebt, dass sich die Europapolitik der Landesregierung auf den Kampf gegen die Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie oder auf den Kampf gegen die Chemikalienrichtlinie oder sonstiges konzentriert hat, und der eigentliche Grund, warum es so etwas wie die Europäische Union gibt, ein wenig untergegangen ist. Deswegen kann ich es nur ausdrücklich begrüßen, dass die Landesregierung heute mit der europäischen Idee angefangen hat und nicht mehr auf Bananenkrümmungsrichtlinienniveau diskutiert hat.

Zweitens finde ich es ausdrücklich gut, dass über die Frage debattiert wird, dass man sich sehr genau anschauen muss, wer für und wer gegen den Vertrag von Lissabon ist. Ich finde es völlig richtig, dass man der Linkspartei „ordentlich eins auf die Ohren gibt“ – um es im übertragenen Sinne zu sagen. Aber ich finde, es ist auch kein Zufall, dass nicht nur Oskar Lafontaine, sondern auch Peter Gauweiler diesen Vertrag ablehnt. Meine sehr verehrten Damen und Herren, das zeigt noch einmal, wie richtig es ist, ihm zuzustimmen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

Der Vertrag von Lissabon ist ein großer Fortschritt für die Europäische Union. Deswegen ist es so wichtig, dass er in allen 27 Mitgliedstaaten ratifiziert wird. Natürlich ist er nicht perfekt. Es kann auch gar nicht sein, dass 27 verschiedene Staaten mit 27 verschiedenen Regierungen und 27 unterschiedlichen Interessen etwas Perfektes hinbekommen. Aber die Frage ist doch: Ist es ein Fortschritt? – Wir sagen: Ja, ausdrücklich, es ist ein riesiger Fortschritt. – Ich finde, die Tatsache, dass sich nicht alle Interessen durchgesetzt haben, zeigt, dass es durchaus sinnvoll sein kann, diesem Vertrag zuzustimmen. Ich weiß, manchem fehlt der Gottesbezug. Den anderen fehlt der Sozialismus.

(Gottfried Milde (Griesheim) (CDU): Na, na, na! – Zuruf des Abg. Jörg-Uwe Hahn (FDP))

Am Ende ist es ein Kompromiss. – Elmar Brok sagt, er habe den Gottesbezug nicht hinbekommen. Sylvia-Yvonne Kaufmann sagt, sie habe den Sozialismus nicht hinbekommen. Aber Sylvia-Yvonne Kaufmann, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linkspartei, stimmt am Ende zu. Das unterscheidet sie von der Fraktion DIE LINKE im Hessischen Landtag.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich finde, die Mitglieder der Fraktion DIE LINKE wären gut beraten, zurückzublicken und sich zu überlegen, welche Positionen sie in der Vergangenheit vertreten haben. Ich bin mir ziemlich sicher, dass Willi van Ooyen gegen den Binnenmarkt war. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er gesagt hat, er will kein Europa der Konzerne, sondern ein Europa der Menschen.

(Dr. Christean Wagner (Lahntal) (CDU): Er ist auch gegen die soziale Marktwirtschaft!)

Ich bin mir ziemlich sicher, dass Willi van Ooyen gegen die Europäische Währungsunion war. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er gesagt hat: Ich bin dagegen, dass nur das Kapital fließen kann. Ich möchte, dass auch die Menschen grenzenlos unterwegs sein können.

Manchmal ist es sinnvoll, wenn man zurückblickt und sich überlegt: „War meine Position in der Vergangenheit richtig?“ und daraus dann für die Positionierung in der Gegenwart lernt.

(Dr. Christean Wagner (Lahntal) (CDU): Keine falschen Hoffnungen!)

Insofern kann ich nur sagen: Wer sich betrachtet, welch ein Friedensprojekt die Europäische Union in den vergangenen 60 Jahren ist, der kann nicht davon reden, dass die EU ein Projekt der Militarisierung ist. Das ist einfach hanebüchen.

(Lebhafter Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der CDU, der SPD und der FDP)

Als ich angefangen habe, im Landtag zu arbeiten und im Petitionsausschuss war, war es ein ständiges Problem, wenn Klassen auf Klassenfahrt gegangen sind und diejenigen, die nicht Deutsche waren, nicht mitfahren konnten, weil sie keine Visa bekommen haben. Das ist kein Problem mehr, seitdem es den Schengener Vertrag gibt – außer wenn man auf die Idee kommt, nach London zu fahren. Vielleicht ist die Konsequenz daraus, nicht zu sagen: „Die EU ist falsch“ oder „Der Schengener Vertrag ist falsch“, sondern vielleicht ist das die Werbung dafür, dass endlich auch Großbritannien und Irland dem Schengener Vertrag beitreten.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der CDU und der SPD)

Als ich auf die Welt kam, war ich dank eines vorsintflutlichen deutschen Staatsangehörigkeitsrechts ein Drittstaatenangehöriger, wie man heute sagen würde. Um einmal um den Bodensee zu fahren, brauchte man zwei Visa. Das ist heute kein Thema mehr, weil auch nicht EU-Mitglieder wie die Schweiz Mitglied des Schengener Vertrages geworden sind. Was für ein riesiger Fortschritt, gerade in einem Land wie Deutschland, in dem die evangelische Kirche immer noch in den Grenzen des Deutschen Bundes organisiert ist. Daran kann man sehen, welche Kleinstaaterei wir hier einmal betrieben haben. Was für ein Fortschritt, dass man inzwischen vom Nordkap bis nach Ljubljana und von Sizilien bis nach Estland, und zwar ohne Passkontrolle, fahren kann. Was für ein Fortschritt. Wie kann man das nicht als großes Friedensprojekt, als großes Projekt von Zusammenarbeit betrachten?

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der CDU, der SPD und der FDP)

Ich finde, gerade wenn man sich betrachtet, wie die Europäische Union in den Neunzigerjahren auf dem Balkan versagt hat, wenn man sich betrachtet, dass im Jahre 1995 der Vertrag, der am Ende dazu geführt hat, dass der fürchterliche Bosnische Bürgerkrieg beendet wurde, mit allen Unzulänglichkeiten, dass das nicht der Vertrag von Petersberg, sondern der Vertrag von Dayton war: was für eine Schande für Europa. Das ist genau der Grund dafür, dass wir auch eine gemeinsame Außenpolitik benötigen.

Am Sonntag waren Wahlen in Serbien. Die sind sehr knapp ausgegangen. Das zeigt, wie gespalten dieses Land immer noch ist. Aber ich bin mir 100-prozentig sicher, dass ohne die Beitrittsperspektive zur Europäischen Union niemals die Hälfte der Serben für Europa gestimmt hätte, sondern dass es höchstens ein Drittel, wenn nicht sogar weniger gewesen wären.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der CDU, der SPD und der FDP)

Deswegen finde ich, dass die Linkspartei sich bei aller – Willi van Ooyen ist sich in diesem Punkt leider treu geblieben – Gleichförmigkeit der politischen Argumentation beim Blick in die Vergangenheit überlegen müsste, ob die heutige Position noch richtig ist. – Vielen Dank.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der CDU, der SPD und der FDP)

Erster Vizepräsident Lothar Quanz:

Vielen Dank, Herr Al-Wazir.

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