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23.06.2010
Portraitfoto von Tarek Al-Wazir vor grauem Hintergrund

Tarek Al-Wazir: Das Land braucht den Politikwechsel

Sehr geehrter Herr Präsident, meine Damen und Herren! Natürlich habe auch ich mir nach der elfjährigen Amtszeit eines Ministerpräsidenten die Regierungserklärung von 1999 von vorn bis hinten durchgelesen. Ich muss sagen: Gerade in der Rückschau war das eine sehr vergnügliche Lektüre – wenn man das, was damals versprochen wurde, aus Oppositionssicht mit dem vergleicht, was erreicht worden ist.

Liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU und FDP und auch Herr Ministerpräsident, ich will aber vorweg sagen: Es hat uns schon sehr gewundert, dass die Tatsache, dass ein Ministerpräsident seinen Rücktritt ankündigt – das bedeutet nach der Hessischen Verfassung übrigens den Rücktritt der gesamten Regierung –, weder aus Sicht der Landesregierung Anlass für eine Regierungserklärung war, noch aus Sicht von CDU und FDP der Anlass, hier eine Debatte zu beantragen.

(Zuruf des Abg. Günter Rudolph (SPD))

Ich muss sagen, ich bin nicht dafür bekannt, in den letzten Jahren besonders unkritisch mit dem Ministerpräsidenten umgegangen zu sein – aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, nach elf Jahren hat selbst Roland Koch mehr verdient als diesen Antrag, den Sie hier eingereicht haben.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Aber nun zur Regierungserklärung. Herr Ministerpräsident, auch ich bin über diesen Satz vom 22. April 1999 gestolpert, wonach die 30 besten Arbeitsamtsbezirke bei der Arbeitslosigkeit in Bayern und Baden-Württemberg liegen. Ich will das ergänzen: Im Durchschnitt des Jahres 2009 kommt der beste hessische Bezirk jetzt auf Platz 55.

Vielleicht ist das Anlass für diejenigen, die jetzt die Verantwortung hier übernehmen werden – Herr Bouffier, bei geheimen Wahlen weiß man nie –, für diejenigen, die sich wünschen, die Verantwortung zu übernehmen, einmal zurückzuschauen und sich zu überlegen, was haben wir in diesem Bereich eigentlich getan, und was haben wir erreicht?

(Zuruf des Abg. Florian Rentsch (FDP))

Ich sage Ihnen sehr deutlich: Wenn ich zurückdenke, nicht nur an die Regierungserklärung von 1999, sondern auch an all die großen Versprechungen – Stichwort Wisconsin-Modell und alles wird besser, und die Optionskommunen können es schaffen –, dann müsste man nach elf Jahren doch jetzt einmal schauen, was wir vielleicht falsch gemacht haben. Ich würde mir wünschen, dass Sie die Kraft dazu finden.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Ich wünsche mir, dass Sie sich diesen Satz von 1999 – Herr Ministerpräsident, damals haben Sie gesagt, es ist das Ziel der Landesregierung, die finanzielle Situation der Städte und Gemeinden zu verbessern – einmal mit dem Ist des Jahres 2010 vergleichen und sich überlegen, ob Sie das, was Sie für diesen Herbst im Haushalt angekündigt haben, wirklich umsetzen werden.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Zurufe der Abg. Gottfried Milde (Griesheim) und Dr. Christean Wagner (Lahntal) (CDU))

Ich wünsche mir, dass wir uns sehr genau betrachten, was Sie, Herr Ministerpräsident, 1999 über den Quantensprung in der Bildungspolitik gesagt haben. Thorsten Schäfer-Gümbel hat es erwähnt. Physiker Kaufmann sag immer, das ist die kleinste Bewegung, die möglich ist.

(Zuruf des Abg. Thorsten Schäfer-Gümbel (SPD))

– Eine Entscheidende, das ist in Ordnung. Sie haben damals gesagt, Sie wollen Hessen zum „Bildungsland erster Klasse in der Bundesrepublik Deutschland und darüber hinaus“ machen.

(Zuruf der Abg. Petra Fuhrmann (SPD))

Nach elf Jahren muss man, glaube ich, feststellen: Erstens. Bei dem, was wir heute diskutieren, finde ich es ein bisschen komisch, dass sich die Kultusminister jetzt geeinigt haben, sich nicht mehr international zu vergleichen, sondern nur noch zwischen den Bundesländern. So viel zum „darüber hinaus“.

Aber auch da müssen wir fragen, wenn ich mir beispielsweise die Ergebnisse in Deutsch anschaue und weiß, dass diesmal die Naturwissenschaften – in denen Hessen traditionell nicht so gut ist – nicht geprüft wurden, und die Ergebnisse zur sozialen Herkunft: Was war vielleicht an dem falsch, was hier in den letzten elf Jahren gemacht wurde?

Ich wünsche mir, dass jemand auf der Regierungsbank die Kraft dazu findet, auch einmal zu sagen: Wir können nicht einfach weiter nur nichts tun, wie das z. B. in den letzten 15 Monaten geschehen ist.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Wenn ich mir anschaue, was im Jahr 1999 hier so versprochen wurde, dann wünsche ich mir, dass man sich auch einmal kritisch den Satz zu Gemüte führt – und das ist eigentlich fast die größte Katastrophe in diesen elf Jahren: Herr Ministerpräsident, Sie haben am 22. April 1999 gesagt:

Mittelfristig ist es unsere Absicht, einen ausgeglichenen Haushalt vorzulegen. Dies wird nur durch Strukturveränderungen zu erreichen sein, die über eine Legislaturperiode hinausgehen.

Das Protokoll verzeichnet hier einen Zwischenruf:

Kaufmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Aha!

Ich glaube, dieses „Aha“ hat sich als sehr weise herausgestellt. Sie sind mit einer Landesverschuldung von 22 Milliarden Euro gestartet, und am Ende dieses Jahres werden wir 40 Milliarden Euro erreichen – und in dieser Zeit haben Sie dazu noch Landesvermögen für 2 Milliarden Euro auf Nimmerwiedersehen verscheuert. Das ist fast eine Verdoppelung der Schulden in Ihrer Amtszeit.

Ich finde, das ist fast das Schlechteste, was in dieser Bilanz zu finden ist, weil es uns auf Generationen hinaus lähmen wird.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der SPD und Abgeordneten der LINKEN)

Letzter Punkt aus der Regierungserklärung. Sie haben damals gesagt:

Eine Schlüsselrolle für die Umwelt nimmt die Energiepolitik ein.

Aha. Dann kommt der schöne Satz:

Dabei setzen wir auch auf eine verstärkte Nutzung von alternativen Energien.

(Petra Fuhrmann (SPD): Windkraftmonster!)

Herr Ministerpräsident, wir sind leider meilenweit davon entfernt, Bildungsland Nummer eins zu sein. Wir sind leider meilenweit davon entfernt, Musterland für erneuerbare Energien zu sein. Im Gegenteil, wir sind da inzwischen auf dem letzten Platz der Flächenländer. Wir sind leider keinen Schritt weiter gekommen, die soziale Spaltung dieser Gesellschaft zu minimieren. Im Gegenteil, sie wurde verstärkt. Wir sind, was die Verschuldung Hessens angeht, auf einem katastrophalen Platz.

Herr Ministerpräsident, da kann ich nur sagen: Ich verstehe, warum Sie jetzt gehen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

Ich würde mir wünschen, dass dieser Rücktritt des Ministerpräsidenten und die Tatsache, dass es jetzt eine neue Landesregierung geben wird, wirklich als Chance für einen Neuanfang in der hessischen Landespolitik genutzt wird.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Aus unserer Sicht muss aus diesem Personalwechsel auch ein Politikwechsel werden. Herr Bouffier, wir wissen, dass Sie in den letzten elf Jahren jede, auch jede falsche Entscheidung mitgetragen haben. Aber wenn Sie sich einfach nur die Fakten anschauen, müssten Sie eigentlich wissen, dass Sie hier etwas verändern müssen, wenn Sie bei der Landtagswahl im Jahr 2013 auch nur den Hauch einer Chance haben wollen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Karlheinz Weimar (CDU): Aber warum haben Sie bisher noch nie eine Wahl gewonnen?)

– Herr Weimar, schön, dass Sie zwischenrufen. Stichwort: Warum hat wer keine Wahl gewonnen? Ich habe eigentlich gedacht, ich werde es nicht vorlesen. Sie haben im Jahr 1999  1.215.000 Zweitstimmen gehabt und sind im Jahr 2009 bei 963.000 Zweitstimmen gelandet.

(Lachen des Abg. Karlheinz Weimar (CDU))

– Lachen Sie nicht, Herr Weimar. – Volker Bouffier muss zeigen, ob er die Kraft für einen wirklichen Neuanfang hat oder ob er diesen Scherbenhaufen, den ihm Ministerpräsident Koch hinterlässt, zum großartigen Erbe erklärt. Diese Frage wird sich in den nächsten dreieinhalb Jahren stellen, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD – Zuruf des Abg.  Karlheinz Weimar (CDU))

Noch ein Punkt. Man muss sich einmal den Politikstil anschauen. Herr Ministerpräsident, Sie sind jemand, der, wenn ich das „FAZ“-Interview richtig verstanden habe, jetzt anfängt, an seinem Nachbild zu arbeiten. Für die Art und Weise, wie Sie von der Öffentlichkeit wahrgenommen werden, sind Sie und nur Sie verantwortlich.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der LINKEN)

Ich erinnere an den Wahlkampf 1999, ich erinnere an den Wahlkampf 2008, ich erinnere an Ihren Umgang mit der Spendenaffäre. Bei der Spendenaffäre finde ich es sehr spannend, dass Sie jetzt sagen, Ihnen habe jemand Nitroglyzerin übergeben. Die spannende Frage ist doch: Man kann von Angela Merkel halten, was man will, aber die hat in dieser Zeit klare Worte zu Helmut Kohl gefunden, die wir von Ihnen zu Manfred Kanther bis heute vermissen, Herr Ministerpräsident.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der LINKEN)

Deswegen sage ich: Sie sind verantwortlich für Ihr Bild. Deswegen glaube ich, auch in diesem Punkt ist es an der Zeit, dass man selbstkritisch ist und sich anschaut, welche eigenen Fehler man gemacht hat.

Nils Minkmar hat in der „FAZ“ einen schönen Satz zur Frage des Stils des Wahlkampfs der Hessen-CDU und des Stils von Roland Koch geprägt. Er hat gesagt:

Im „knappen“ Land Hessen war Koch darauf angewiesen, auch noch den letzten Krümel seiner zum Teil hochbetagten Stammwählerschaft an die Urne zu bewegen. Wie ein Notarzt mit Stromstößen die Herzmuskeln stimuliert, hat er die Ladungen angesetzt: Autos, Atomkraft, Ausländer, Kriminalität, Kommunisten. Sicher hatte er für Notfälle an einem Satz gebastelt, der all das bündelt: irgendetwas mit kommunistischen Ausländern, die Fahrradständer vor Schwulen-/Lesbentreffs fordern.

(Heiterkeit bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Herr Ministerpräsident, das hat schon 2008 und 2009 nicht mehr funktioniert. Das wird auch in Zukunft nicht mehr funktionieren. Ich wünsche mir, dass es jetzt wirklich einen Neuanfang in der hessischen Landespolitik gibt. – Vielen Dank.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der LINKEN)

Vizepräsident Lothar Quanz:

Vielen Dank, Herr Al-Wazir.

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