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18.05.2011
Portraitfoto von Tarek Al-Wazir vor grauem Hintergrund

Tarek Al-Wazir: Bouffier meint es mit dem Atomausstieg nicht ernst

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Stephan, man hat Ihrer Rede angemerkt, dass die Union energiepolitisch momentan nicht genau weiß, wo sie hin will. Wenn man selber nicht genau weiß, wo man hin will,

(Zuruf des Abg. Ernst-Ewald Roth (SPD))

dann ist immer ein übliches Verhalten, im Zweifel die Anderen zu beschimpfen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN und der SPD)

Sie haben gefragt, ob die Hülle in Biblis dünner geworden ist. Nein, sie ist nicht dünner geworden, sie war immer schon so dünn. Weil uns dieser Sachverhalt schon länger bekannt ist und Ihnen auch hätte bekannt sein können, haben wir, als wir erstmals in die Verantwortung auf Bundesebene kamen, im Jahre 1998 gesagt, dass wir aus der Atomkraft aussteigen wollen. Das unterscheidet uns.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Wenn Sie sich den Konsensvertrag des Jahres 2000 noch einmal durchlesen, haben wir gesagt, dass genau die unsichersten Kraftwerke schneller als die anderen vom Netz gehen sollen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN und der SPD)

Wenn Sie sich die Anlage 2 des Atomkonsenses noch einmal genauer durchlesen, als Sie das jemals getan haben, stellen Sie fest, dass sogar für Biblis A besondere Regelungen getroffen wurden, weil die Probleme bekannt waren.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN und der SPD)

Wenn wir schon bei der Vergangenheitsbewältigung sind: Wenn CDU und FDP den großen Vier nicht schon am Tag der Unterzeichnung dieses Konsenses Hoffnung gemacht hätten, dass das im Falle eines Regierungswechsel zurückgedreht wird, dann wären Biblis A und B längst vom Netz.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN und der SPD)

Denn Sie haben doch die Atomkonzerne geradezu ermutigt, genau diese alten Schrottmeiler politisch zu fahren und die Reststrommengen auf Teufel komm raus auszunutzen. Genau das unterscheidet uns. So ganz nebenbei: Im letzten Herbst haben Sie die Laufzeiten der Atomkraftwerke sogar noch einmal um durchschnittlich zwölf Jahre verlängern wollen. Insofern: Kommen Sie nicht her und beschimpfen uns, wenn Sie vor dem Scherbenhaufen Ihrer eigenen Politik stehen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Was ist gestern passiert? Die Reaktorsicherheitskommission hat gesagt, wie es aus ihrer Sicht um die Sicherheit der deutschen Atomkraftwerke bestellt ist. Ob man diese Prüfung seriöserweise in drei Monaten überhaupt machen und sich dabei nur auf die Angaben der Betreiber verlassen kann, daran mache ich ein großes Fragezeichen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Aber zumindest in Hessen kann es eigentlich keinen Streit geben. Biblis A und Biblis B gehören zu den vier Kraftwerken in Deutschland, die – Stichwort: Einwirkungen von außen, Stichwort: Dicke der Betonhüllen, baulicher Schutz – noch nicht einmal die erste, die geringste Sicherheitsstufe erreichen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, deswegen ist es völlig klar: Diese beiden Kraftwerke dürfen nie wieder ans Netz gehen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, das bedeutet, das Atomzeitalter in Hessen ist vorbei. Damit haben Sie offensichtlich ein Problem, weil Ihre gesamte Energiepolitik der letzten zehn Jahre – das merkt man an Papieren wie dem Papier der CDU-Generalsekretäre – offensichtlich atomfixiert war. Für Hessen ist dieses Zeitalter vorbei. Jetzt ist die spannende Frage: Was folgt? – Genau da liegt Ihr Problem. Da wird Ihnen keine Reaktorsicherheitskommission und übrigens auch keine Ethikkommission weiterhelfen. Sie müssen am Ende entscheiden, was Sie wollen und wohin Sie wollen. Da haben Sie bisher nichts, sondern da herrscht bei den Regierungsparteien sowohl hier als auch auf Bundesebene eine unglaubliche Kakofonie. Meine sehr verehrten Damen und Herren, genau das ist Ihr Problem.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

Wir haben Herrn Beuth, der sagt: „Nicht so schnell aussteigen“. Wir haben Herrn Röttgen, der sagt: „Abschalten“. Der CDU-Wirtschaftsrat – Herr Steiger gehört auch zu Ihnen – sagt: „Volksabstimmungen herbeiführen“. Dazu kann ich nur sagen: Nur zu, bitte sehr.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Der Grad der Verwirrtheit bei den Regierungsparteien auf Bundes- und Landesebene ist an diesen Punkten sehr deutlich geworden.

(Zuruf des Abg. Dr. Walter Arnold (CDU))

Ich zitiere immer gerne einen Satz von Volker Bouffier: Vertiefte Sachkenntnis verhindert die muntere Debatte. – Deswegen debattiert Herr Rentsch heute in der „FAZ“ so munter.

(Zurufe der Abg. Holger Bellino (CDU) und Jürgen Frömmrich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Auch da herrscht offensichtlich große Verwirrtheit. Wenn Sie wollen, dass Versorgungssicherheit in Deutschland herrscht, dann müssen wir doch auch feststellen, dass Biblis A und B zu dieser Versorgungssicherheit in den letzten zehn Jahren herzlich wenig beigetragen haben, weil sie nämlich meistens stillgestanden haben.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der LINKEN)

Wenn Sie Preisstabilität wollen, wenn Sie wollen, dass der Umbau zu den erneuerbaren Energien nicht zu teuer ist, dann sollten Sie sich überlegen, warum Sie immer gegen die günstigste Form der Erzeugung der erneuerbaren Energien, nämlich die Windkraft im Binnenland, so Front machen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Denn auch das gehört zur Wahrheit dazu. Die Offshorewindkraft ist ungefähr doppelt so teuer wie die Windkraft im Binnenland.

(Thorsten Schäfer-Gümbel (SPD): So ist es!)

Wer sagt: „Ich will das irgendwo draußen haben, wo ich es nicht sehe“, der muss auch sagen, dass das doppelt so teuer wird. Ich sage das hier nur. Vielleicht sollten Sie sich ein bisschen mit der Sache beschäftigen. Das würde allen gut tun.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Dann wird immer gesagt, man bräuchte aber neue Trassen. Dazu kann ich nur sagen: Ach, ja. Das wissen wir. Wir brauchen neue Trassen.

(Zuruf der Abg. Judith Lannert (CDU))

– Frau Lannert, Stichwort: Verhinderung. Ich habe nur darauf gewartet. Vielen Dank.

(Zuruf der Abg. Judith Lannert (CDU))

In einer der Arbeitsgruppen beim Energiegipfel ist unter anderem die Frage gestellt worden: Müssen wir etwas am Umwelt- und Naturschutzrecht ändern? – Daraufhin sagte ein Vertreter des Hessischen Ministeriums für Umwelt in dieser Arbeitsgruppe: Es ist kein Fall bekannt, wo das Umwelt- und Naturschutzrecht in Hessen jemals zu einer Verzögerung dieser Trassenplanung geführt hätte.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD – Zurufe von dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Was bauen Sie denn da für neue Pappkameraden auf? Ich finde es abenteuerlich, dass es in dieser Situation bei den Regierungsfraktionen offensichtlich immer noch große Erkenntnisdefizite gibt und dass Sie versuchen, die Opposition zu beschimpfen, um davon abzulenken, dass Sie selbst nicht wissen, was Sie eigentlich wollen. Das ist das Grundproblem.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD – Zuruf des Abg. Dr. Walter Arnold (CDU))

Deswegen wird am Ende keine Reaktorsicherheitskommission, keine Ethikkommission und übrigens auch kein Energiegipfel des Landes dazu beitragen, dass die Landesregierung nicht einmal sagen muss, wie ihr Energiekonzept aussieht.

(Zuruf des Abg. Norbert Schmitt (SPD))

Wir arbeiten beim Energiegipfel konstruktiv mit, weil wir an Fortschritten in der Sache interessiert sind.

(Zuruf des Abg. Dr. Ralf-Norbert Bartelt (CDU))

Ich habe sehr genau hingehört, als der Ministerpräsident gesagt hat, dass die Arbeit bis Ende September vorbei sein soll. Wir werden darauf achten, dass daraus keine Arbeit bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag wird. Wir werden uns vielmehr irgendwann auf eine Antwort auf die Frage einigen müssen – da ist die Regierung gefragt; da sind die Regierungsfraktionen gefragt –: Wie soll der Energiemix der Zukunft im Bundesland Hessen aussehen? – Die Atomenergie wird dabei keine Rolle mehr spielen. Das ist allerspätestens seit dem gestrigen Tag klar. Deswegen stehen Sie vor der spannenden Frage, wie Ihr Ausbauszenario für die erneuerbaren Energien in Hessen aussieht. Darauf müssen Sie eine Antwort geben. Wir haben diese Antwort übrigens schon gegeben, weil das Energiekonzept der GRÜNEN und das Energiekonzept der SPD auf dem Tisch liegen. Was fehlt, ist das Energiekonzept der Landesregierung und von CDU und FDP in Bezug auf die jetzige Situation. Meine sehr verehrten Damen und Herren, deswegen müssen Sie liefern.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Ich bin froh, dass sich einiges verändert hat. Der Kollege Schäfer-Gümbel hat gerade eben gesagt, er trete dafür ein, im Jahr 2020 den Anteil der großen Vier an der Energieerzeugung auf unter 50 % zu drücken. Ich finde das ausdrücklich richtig. Ich füge an, dass vor zehn Jahren, als die GRÜNEN solche Debatten geführt haben, die SPD-Wirtschaftsminister Müller und Clement so etwas als Sonnenblumenromantik bezeichnet haben. Aber bitte sehr.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zurufe der Abg. Dr. Thomas Spies (SPD), Janine Wissler und Hermann Schaus (DIE LINKE))

Ich finde das ja gut. Insofern kann ich nur sagen: Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind in einer entscheidenden Phase der Umgestaltung der Energieerzeugung in Hessen. Was die SPD will, was die GRÜNEN wollen, liegt auf dem Tisch. Was die Landesregierung will, das weiß ich immer noch nicht. Was die Koalitionsfraktionen wollen, das weiß ich auch nicht.

(Zuruf des Abg. Norbert Schmitt (SPD))

Was die FDP will, weiß ich seit dem Bundesparteitag am Wochenende noch weniger als vorher. Insofern sind Sie gut beraten, sich einfach einmal die Frage zu stellen, was Sie in den nächsten 20 Jahren energiepolitisch eigentlich erreichen wollen. Wenn Sie darauf eine Antwort haben, dann können Sie wiederkommen und uns beschimpfen. – Vielen Dank.

(Lebhafter Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Vizepräsident Lothar Quanz:

Danke sehr, Herr Al-Wazir.

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