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15.12.2010
Portraitfoto von Tarek Al-Wazir vor grauem Hintergrund

Tarek Al-Wazir: Ausgestaltung der Schuldenbremse in Hessen

Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Rentsch, man ändert eine Verfassung nicht alle Tage – in Hessen schon gar nicht. Ich würde diese Verfassungsänderung deshalb in der Debatte nicht mit dem Wort „Verfassungsprosa“ belegen wollen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Ich denke, das wird dieser Verfassungsänderung nicht gerecht und lässt in gewisser Weise auch den Respekt vor der Verfassung vermissen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Um einmal zu sagen, worum es geht: Wir haben heute Morgen einen Haushalt beschlossen, der eine Nettoneuverschuldung von 2,3 Milliarden € beinhaltet. Das ist die drittgrößte Verschuldung in einem Haushaltsjahr in der Geschichte des Landes Hessen. Die größte Verschuldung war im letzten Jahr, und – wenn ich mich recht erinnere – auch im Jahre 2002 wurde die 2-Milliarden-€-Grenze bei der Verschuldung überschritten. Ich könnte jetzt fragen: Was haben alle diese Jahre gemeinsam? – Antwort: Die FDP hat mitregiert. Vielleicht sind Sie ja für diese Schuldenbremse, weil Sie ein wenig Angst vor sich selbst haben.

Wir müssen klarmachen: Was wir hier und heute beschließen, ist ein wichtiger Schritt zu einer tatsächlichen Haushaltskonsolidierung. Klar ist auch: Wir beschließen das nicht allein, sondern am 27. März werden die Bürgerinnen und Bürger in dieser Frage das letzte Wort haben.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD – Präsident Norbert Kartmann übernimmt den Vorsitz.)

Wenn ich den Ursprungstext mit dem vergleiche, was jetzt vorliegt, stelle ich für meine Fraktion fest: Wir haben schon am Anfang gesagt, das wir drei ganz große Veränderungsbedarfe sehen. Erstens. Wir wollen auch eine Einnahmeverantwortung festgeschrieben haben. Diese ist jetzt festgeschrieben. Das ist weit mehr als Prosa, Herr Kollege Rentsch.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Zweitens haben wir GRÜNEN gesagt, wir wollen einen Schutzwall für die Kommunen haben. Dieser ist jetzt Bestandteil der vorgeschlagenen Verfassungsänderung.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

Drittens. Wir alle wissen, dass wir eine so große Nettoneuverschuldung nicht von einem auf den anderen Tag zurückführen können. Es ist aber völlig klar, dass aus unserer Sicht mit der Haushaltskonsolidierung jetzt begonnen werden muss, weil wir nicht wollen, dass die derzeit amtierende Landesregierung das vor sich herschiebt und die Einnahme- und Ausgabenverantwortung den Nachfolgern überlässt.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Diese drei Forderungen sind erfüllt. Die Verhandlungen zwischen den Fraktionen waren wahrlich nicht einfach. Ich verrate auch kein Geheimnis, dass die FDP bei der Frage der Einnahmen ein großes Problem hatte.

(Zuruf des Abg. Florian Rentsch (FDP))

Völlig unabhängig von der Frage, wie die Wahl 2013 ausgeht, wie die Wahl 2018 ausgeht – das wissen wir alle nicht –: Wir alle wissen, ab jetzt ist Schluss mit lustig. Man kann sich jetzt nichts mehr irgendwie zurechtbiegen und makroökonomische Argumente erfinden, dass man z. B. sagt: Wir senken die Steuern, finanzieren das über Schulden, dadurch kommt so viel Wachstum, dass am Ende mehr in der Kasse ist. – Das geht ab heute nicht mehr.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Es gab einmal eine Aktion der Zeitung mit den große Buchstaben, die einen selten dämlichen Aufkleber verteilt hat, auf dem stand: „Steuern runter macht Deutschland munter“. – Ab heute ist völlig klar: Steuern runter macht Deutschland pleite.

Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linkspartei, ich verstehe nicht, warum Sie das an diesem Punkt nicht erkennen. Sie haben am Anfang gesagt, wir brauchen keine Schuldenbremse, sondern eine Steuersenkungsbremse. Die Schuldenbremse wirkt bereits als Steuersenkungsbremse.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Zuruf von der LINKEN)

– Das war keine Prosa. – Finanzminister Schäfer hat am Montag der „Frankfurter Neuen Presse“ ein bemerkenswertes Interview gegeben.

(Zurufe von den LINKEN)

Auf die Frage, was Einnahmen- und Ausgabenverantwortung heißt, antwortet er:

Unser Einfluss auf die Steuergestaltung erfolgt im Wesentlichen durch Einfluss auf die Bundesgesetzgebung. Dort haben wir deutlich gemacht, dass wir keinen Spielraum sehen, gegenwärtig weitere Steuerabsenkungen vorzunehmen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Jetzt kommt der Satz nach dem Motto „Da sieht man, das Wort hat Auswirkungen“. Der Herr Finanzminister sagt dann:

Das ist Wahrnehmung von Einnahmeverantwortung.

Das stimmt, Herr Schäfer. Das ist Wahrnehmung von Einnahmeverantwortung.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Wenn man sich einmal betrachtet, wie der Bundesfinanzminister mit dem, was im Koalitionsvertrag steht, und mit dem, was im Haushalt zu besorgen ist, umgeht, kann man im Prinzip nur feststellen, Wolfgang Schäuble sagt völlig zu Recht: Mir gäbet nix. – Da wirkt bereits die Schuldenbremse, die im Bund vier Jahre früher gilt, als Steuersenkungsbremse. Es ist völlig klar, dass das Wahlprogramm der FDP oder auch der Koalitionsvertrag gerade mit der Wirklichkeit in Einklang gebracht werden. Deswegen finden diese Steuersenkungen nicht statt.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Zuruf des Abg. Florian Rentsch (FDP))

Ich will noch etwas hinzufügen, weil wir auch über die Begründungen und den Erläuterungstext reden, der mitgeschickt werden soll.

(Zuruf des Abg. Hermann Schaus (DIE LINKE))

– Ich fange ja gerade an. – Wir reden über die Erläuterungstexte. Ich sage ausdrücklich: Das, was wir da verhandelt haben, ist natürlich auch das Ergebnis einer Einigung von vier Fraktionen. Aber ich finde, es erläutert das, was im Verfassungstext steht.

Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linksfraktion, wir werden Ihren Antrag aus inhaltlichen Gründen ablehnen; denn dort steht z. B.:

Die Einführung einer Schuldenbremse in der Hessischen Verfassung führt somit zu einem Zwang zum Kürzen öffentlicher Leistungen des Landes, zwingt die Landesregierung und den Landtag, die Ausgaben für Kommunen, Bildung, öffentliche Infrastruktur und Daseinsvorsorge zu kürzen.

Ich sage ausdrücklich, das ist falsch. Niemand wird dazu gezwungen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Aber es werden jetzt alle dazu gezwungen, ehrlich zu sein.

Präsident Norbert Kartmann:

Herr Al-Wazir, gestatten Sie Zwischenfragen?

Tarek Al-Wazir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Bei zwei Minuten restlicher Redezeit nicht, Herr Präsident. – Ja, wir GRÜNE sind der Meinung, dass wir nur durch eine Kombination von Einsparungen, Effizienzsteigerungen und Einnahmeerhöhungen – durch eben diese drei finanzpolitischen E – den Haushalt werden ausgleichen können.

Wir haben ein Konzept vorgelegt. Lieber Kollege Rentsch, es kann sein, dass Ihnen dieses Konzept nicht gefällt, weil zu viele Einnahmeerhöhungen drinstehen.

(Zuruf des Abg. Florian Rentsch (FDP))

Aber ab heute ist Schluss mit lustig. Wenn Ihnen bestimmte Punkte nicht gefallen, sagen Sie bitte ab morgen, wo Sie zusätzlich einsparen wollen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Diesen Anspruch auf Wahrheit haben die Bürgerinnen und Bürger. Dann können die Bürgerinnen und Bürger entscheiden, welchen Weg sie gehen wollen; denn das wird weiterhin eine politische Frage sein. Das ist keine juristische Frage, das ist weiterhin eine politische Frage.

(Zuruf des Abg. Peter Beuth (CDU))

Letzter Punkt. Hierbei geht es um das Wachstum. Herr Kollege Rentsch, wir werden im Jahr 2020 ein strukturelles Defizit in Höhe von 1,9 Milliarden Euro haben, vielleicht sogar noch mehr, wie man vermuten kann, wenn man sich die steigenden Versorgungslasten und das steigende Zinsniveau anschaut. 1 Prozent Wachstum bringt dem Land Hessen – das ist die langjährige Erfahrung – ungefähr 150 Millionen Euro. Das heißt, man benötigt, um das strukturelle Defizit durch Wachstum zu beseitigen, ein Wachstum von 13 Prozent.

(Zuruf des Abg. Florian Rentsch (FDP))

Wir haben in den nächsten zehn Jahren aber auch noch Tarifsteigerungen zu erwarten. Es wird bestimmte Sachkostenerhöhungen geben. Wenn wir von 12 Prozent Steigerung über 10 Jahre ausgehen, dann ist das relativ wenig. Das heißt, wir benötigten über die nächsten zehn Jahre nach FDP-Rechnung ein Wachstum von 25 Prozent.

Herr Kollege Rentsch, glauben Sie das eigentlich? Glauben Sie, dass so etwas möglich ist? In China ist das vielleicht möglich. Aber in einem Land, das ein Niveau wie die Bundesrepublik Deutschland erreicht hat, ist das schlechterdings unmöglich. Herr Kollege Rentsch, deswegen sage ich Ihnen: Machen Sie sich nichts vor. Diese Schuldenbremse zwingt alle, ehrlich zu sein. Wer Einsparvorschläge ablehnt, muss dafür andere machen. Wer Effizienzsteigerungen ablehnt, muss sagen, woher das Geld ansonsten kommen soll. Auch wer Einnahmeerhöhungen ablehnt, muss sagen, woher das Geld kommen soll.

Insofern glauben wir, dass die Schuldenbremse eine sehr segensreiche Wirkung entfalten wird. Sie bringt nämlich die Stunde der Wahrheit hervor, und in der Stunde der Wahrheit zählt das bessere Argument, nicht aber die festeste Ideologie.

(Zuruf des Abg. Florian Rentsch (FDP))

– Ja, Herr Kollege Rentsch, genau Sie meine ich.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Norbert Kartmann:

Herr Kollege, Ihre Redezeit ist zu Ende.

Tarek Al-Wazir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Herr Präsident, ich komme zum Schluss. – Deswegen meine ich, es ist gut, dass wir jetzt diese Einigung erzielt haben. Es ist gut, dass die Bürgerinnen und Bürger darüber abstimmen können. Aber ich glaube, für manche, die sich viel davon versprochen haben, wird es ein ganz schönes Erwachen geben, und auch das ist gut. – Vielen Dank.

(Anhaltender Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und Beifall bei der SPD)

Präsident Norbert Kartmann:

Vielen Dank.

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