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04.03.2010

Mürvet Öztürk zu den Abschiebungen im Jahr 2008

Sehr verehrte Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Vorredner haben schon mehrmals bekräftigt, dass Abschiebungen ein wichtiges Thema sind und dass es deswegen auch heute hier behandelt werden darf und soll. Es wird nicht im Rahmen eines Antrags irgendeiner Fraktion, sondern im Rahmen der Beratung einer Großen Anfrage und deren Antwort behandelt.

Zugegebenermaßen waren viele Fragen schon beantwortet. Aber ich glaube, wir sollten der Situation und der Thematik gerecht werden. Wir haben heute sehr viel über die gesetzliche Lage gehört. Wir haben sehr viel darüber gehört, dass das Gesetz in manchen Fällen nicht in der Art greift, in der es greifen müsste.

Ich möchte aber meine Rede gerne dazu nutzen, einfach einmal ein paar konkrete Beispiele und Schicksale zu nennen, die wir alle in der einen oder anderen Art und Weise in den Medien schon wahrgenommen haben.

Aber vielleicht ist es auch einmal ganz gut, hier komprimiert darüber zu sprechen.

Es ist so, dass wir im Land Hessen oft Zeuge davon werden, dass sogenannte faktische Inländer abgeschoben werden. Es sind unterschiedliche Situationen. Es sind unterschiedliche Konstellationen. Aber es ist ein trauriger Sachstand, den wir heute meiner Meinung nach hier zur Kenntnis nehmen sollten. Wenn wir uns die einen oder anderen Beispiele anschauen, dann stellen wir fest, dass Jugendliche ihre Schulbildung abbrechen und abgeschoben werden müssen, wie z. B. in dem Fall des 17-jährigen Armeniers aus Eschwege, was wir beim letzten Mal kurz diskutiert haben.

Wir haben z. B. den Fall der Familie Kazan. Der liegt zwar etwas zurück. Aber auch da mussten die Kinder ihre Ausbildung abbrechen und sind abgeschoben worden. Wir haben Fälle von alleinstehenden Frauen, die abgeschoben werden. Dazu möchte ich nachher das eine oder andere Beispiel kurz nennen. Wir haben auch Familien, die auseinandergerissen und quasi zurückgewiesen werden.

Das sind alles menschliche Tragödien, die wir auf der einen Seite zur Kenntnis nehmen und auf der anderen Seite mit gebundenen Händen zuschauen sollen. Das finden wir GRÜNE nicht in Ordnung. Wir würden gerne eine stärkere Abschiebebeobachtung einführen wollen. Ich finde auch, dass wir in den nächsten Jahren das Thema Migration und Integration zusammen denken müssen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der LINKEN)

Ein Beispiel, wie Familien auseinandergerissen werden können, obwohl man von außen betrachtet sagen müsste: Es ist doch alles in Ordnung, warum musste eigentlich hier der Familienangehörige gehen? – Es ist an mich ein Fall aus dem Wetteraukreis, der auch in den Medien war, herangetragen worden, wo beispielsweise ein Vater abgeschoben worden ist, der eigentlich nur zur Ausländerbehörde gegangen ist, um seine Duldung zu verlängern. Seine Frau ist hoch schwanger. Sie hat einen festen Aufenthaltsstatus. Sie haben ein gemeinsames Kind, das in Deutschland geboren wurde. Der Mann hat sogar seine Existenz durch einen kleinen Betrieb gesichert gehabt.

Er ging zur Ausländerbehörde und wollte eigentlich nur seine Duldung verlängern. Er ist sofort in Polizeibegleitung zum Flughafen gebracht und abgeschoben worden. Wahrscheinlich wird dieser Mensch aufgrund der Familienzusammenführung wieder zurückkommen können. Aber Tatsache ist, dass er erst einmal abgeschoben worden ist, obwohl es nach Bericht der Familie heißt, sie hätten sogar eine freiwillige Ausreise angeboten, die nicht angenommen worden sei. Jetzt haben wir einen konkreten Fall aus dem Wetteraukreis, wo die Familie getrennt ist, wo beispielsweise eine sehr zerrüttende Situation besteht und die Existenzsicherung hin ist. Musste das sein, fragt man sich von außen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

Nein, das musste nicht sein. Wir haben auch den anderen Fall einer Familie Kpakou aus Togo, den wir in den letzten Jahren aus den Medien erfahren durften, die beispielsweise schon 2006 zwar abgeschoben worden ist. Es ist aber auch eine Entscheidung in Hessen gewesen. Es ist eine Entscheidung gewesen, mit der eine elfköpfige Familie auseinandergerissen worden ist. Der Vater ist schwer krank. Er ist immer noch in Deutschland. Die Familie wurde damals mit dem allerersten Sammelabschiebeflug, der in Deutschland organisiert wurde, abgeschoben. Wir haben jetzt die Situation, dass der schwerkranke Vater in Deutschland ist, die Mutter mit den kleinen Kindern im englischsprachigen Ghana, die ältere Tochter in Togo; die Schwester ist verschollen. Meine Damen und Herren, auch hier ist eine Existenz zerrüttet worden, zu der man beim genauen Hinsehen sagen kann: Hätte man nicht einen anderen Weg finden können?

Ich habe eben darüber gesprochen, dass auch alleinstehende Frauen abgeschoben werden. Hier ist jüngst ein Fall herangetragen und meiner Meinung nach in den Medien diskutiert worden, und zwar von einer 52-jährigen Armenierin, die gemeinsam mit ihren Töchtern im Haushalt lebte, die einen 400-€-Job hat. Die Töchter haben einen gesicherten Aufenthalt. Sie hat auf die Enkelkinder aufgepasst. Sie ist zur Ausländerbehörde gegangen, nur um die Duldung zu verlängern.

Auch da sind wir Zeuge eines Falles. Die Duldung wurde nicht verlängert. Stattdessen wurde die Frau sofort zum Flughafen gebracht, hatte nicht die Möglichkeit, von ihren Kindern Handgeld oder überhaupt Geld mitzubekommen, und ist ohne Koffer und ohne Hab und Gut abgeschoben worden. Auch hier hat sich eine breite Öffentlichkeit dafür eingesetzt, dass sie zurückkehren kann. Der Arzt, bei dem sie gearbeitet hat, hat sich dafür eingesetzt, dass die Frau zurückkommen kann. Doch es gibt keine Möglichkeit.

Wenn man sich diese Einzelfälle und diese Schicksale anschaut, bekommt man vielleicht ein Gefühl dafür, welche dramatischen Hintergründe da ablaufen. Ich finde, wir als Politikerinnen und Politiker haben natürlich die Pflicht, das Gesetz zu achten und zu wahren. Wir haben aber auch die Pflicht, Gesetze zu prüfen und zu schauen, ob sie überhaupt noch der Realität entsprechen.

Wenn sie nicht der Realität entsprechen, würde ich mir wünschen, dass man fraktionsübergreifend neue Regelungen findet, würde ich mir wünschen, dass man fraktionsübergreifend einen Konsens findet, denn im Grunde genommen geht es um faktische Inländer, die eine echte Chance haben sollten, sich in Hessen eine Perspektive aufzubauen. Wenn wir auf der einen Seite die demografische Diskussion betreiben, wenn wir auf der anderen Seite sehen, Integration ist lohnenswert, und wenn wir auf der dritten Seite sagen, der Mensch ist für uns wichtig, dann müssen wir unsere Politik und unseren Ansatz neu denken.

Ich würde mir wünschen, dass im Jahr 2010 diese dramatischen Abschiebefälle nicht mehr vorliegen. Es ist uns klar, dass in gewissen Situationen von Abschiebungen nicht abgesehen werden kann. Auch da sind wir die Letzten, die sagen, alle und jeder muss hierbleiben. Aber bei Familie, bei allein reisenden Kindern, bei Frauen und bei Schwerkranken müssen wir hinschauen. Hier haben wir eine humane Pflicht. Ich denke, dass es uns gut anstünde, wenn wir den kritischen Blick nicht verlieren würden. – Herzlichen Dank.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

Vizepräsidentin Sarah Sorge:

Vielen Dank, Frau Kollegin Öztürk.