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25.09.2014

Mürvet Öztürk: Schnelle Hilfe für Flüchtlinge aus dem Irak – islamistischen Terror entschlossen bekämpfen

Herr Präsident, sehr verehrte Damen und Herren! Die Gräueltaten und die Vertreibung durch die Milizen der ISIS – ich benutzen diesen Begriff bewusst, die Selbstbezeichnung „IS“ möchte ich nicht verwenden – im Irak und in Syrien hat uns alle sehr erschüttert, vor allem seit August dieses Jahres. Im Rahmen einer Delegationsreise hatte ich die Möglichkeit, mir mit Kirchenvertretern und Journalisten aus Baden-Württemberg letzte Woche ein Bild von der Situation vor Ort zu machen und ein Gefühl dafür zu bekommen, was im Nordirak los ist.

Wir bekommen jeden Tag Bilder in unsere Wohnzimmer geliefert, abends nach dem Essen, und wir sind jeden Tag erschüttert, wenn wir sehen, dass Menschen in der Lage sind, im Namen der Religion andere Menschen abzuschlachten, andere Menschen vor laufenden Kameras zu enthaupten, Frauen, die zu anderen Religionen gehören, zu entführen, sie mehrfach zu missbrauchen, zu vergewaltigen und dann auf Märkten verkaufen zu wollen. Wir sind erschüttert darüber, dass Männer kaltblütig abgeschossen werden und dass im Nahen Osten zurzeit eine ethnische Säuberung, ein Völkermord stattfindet. Das ist eine Situation, die uns alle sehr erschüttert.

Wir alle fragen uns: Wie sieht die Lösung aus? Wie können wir in Hessen diesen Menschen helfen? Wie können wir einerseits die Gräueltaten vor Ort aufhalten, andererseits dem Leid der Menschen, die auf der Flucht sind, Abhilfe schaffen?

Wir sollten nicht vergessen: Viele der Menschen, die jetzt im Norden Iraks unterwegs sind, haben Angehörige und Verwandte bei uns in Hessen – oder zumindest in Deutschland. Denken Sie an die vielen traumatisierten Familien, die hier in Deutschland leben, mit ihren Angehörigen vor Ort verbunden sind und versuchen, diesen unbürokratisch zu helfen. Deshalb ist wichtig, dass wir uns in diesem Landtag darüber unterhalten, wobei ich die Bitte äußere, den Fokus nicht auf die Militärschläge, sondern auf die Situation der Zivilbevölkerung zu legen und sich darüber Gedanken zu machen, wie wir den Menschen konkret helfen können.

Die Hilfe der internationalen Gemeinschaft ist vor Ort vorhanden, soweit ich gesehen habe, aber die Hilfe kommt schleppend an – das muss man zugeben –, weil die Zahl der Flüchtlinge enorm hoch ist. Wir haben im Norden Iraks erfahren, dass seit kurzer Zeit, seit dem 3. August, ungefähr 400.000 Jesiden aus dem Shingal-Gebirge in die Regionen Dohuk und Erbil geflüchtet sind. Einschließlich der syrischen Binnenflüchtlinge, die der Irak aufnimmt – das sind etwa 200.000 Menschen –, sowie der Chaldäer, Mandäer und der sunnitischen und schiitischen Minderheiten sind es insgesamt 1,8 Millionen Binnenmigranten und -Flüchtlinge, die zurzeit im Norden Iraks versuchen, Unterkunft zu finden. Das ist eine Herausforderung, die die Regionen destabilisiert, eine Situation, die dazu führen könnte, dass die Regionen kollabieren. Daher brauchen diese Menschen unsere Hilfe.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU und der SPD)

Wenn wir uns jetzt darüber unterhalten, ob die militärische Intervention die richtige oder die falsche Entscheidung war, dann kann ich mich nur dem Satz anschließen: Nichts zu tun ist ebenfalls eine Gefahr, deren Konsequenzen wir tragen müssen. – Falsches Handeln bringt ebenfalls Gefahren, mit deren Konsequenzen wir leben müssen. Ich glaube, es gibt zurzeit nicht nur die eine richtige Antwort. Ich finde aber, dass wir im Hessischen Landtag anerkennen müssen, dass im Bundestag verschiedene Fraktionen eine sehr intensive Auseinandersetzung über diese Fragen und auch darüber führen, wie man die ISIS im Irak und in Syrien bekämpfen kann. Ich glaube, dass in dieser Region ein Gesamtstrategie notwendig ist, und ich glaube auch, dass die Lieferung von Militärausrüstung und von Beratern der Bundeswehr an die Peschmerga ein wichtiger und richtiger Schritt ist. Auch wenn bei der Abstimmung jeder eine Entscheidung nach seinem Gewissen treffen muss, ist es, wenn wir uns die Belange der Menschen vor Ort anschauen, zurzeit wichtig, dass überhaupt gehandelt wird.

Wenn wir vom Bürgerkrieg und von unterschiedlichen Parteien sprechen, dann muss uns klar sein, von wem wir reden. Die Peschmerga ist ein fester Bestandteil der nordirakischen Verteidigung, während die ISIS als militärische Einheit kein fester Bestandteil des Irak ist. Die ISIS ist vielmehr eine Terrormiliz, die den Menschen Angst und Schrecken einjagt und sie vertreibt.

In dieser Ausnahmesituation ist es zur Verhinderung eines Völkermordes ein legitimes Mittel, militärische Hilfe zu leisten und vor Ort präsent zu sein. Gleichwohl weiß ich, dass dieser erste Schritt nicht der Schritt ist, der die Region retten wird, auch nicht der Schritt ist, der diese Region auf die Dauer stabilisieren wird. Deswegen müssen weitere Schritte folgen.

Wenn wir über weitere Schritte sprechen, dann möchte ich mein Augenmerk in der verbliebenen Zeit auf die Situation der Frauen richten. Wir alle vergessen bei der Diskussion um Militärschläge und Rüstungslieferungen sowie bei der politisch-strategischen Dauerdiskussion, dass heute noch ca. 5.000 Frauen in den Händen der ISIS sind. Diese Frauen sind verschleppt und in der Region um Mossul festgehalten worden. Man bekommt unterschiedliche Berichte, was mit diesen Frauen geschieht. Ein Teil der Frauen sollen sie, so heißt es, vergewaltig worden sein und sollen verkauft werden. Ein anderer Teil der Frauen wurde umgebracht. Die Situation der Frauen, die noch am Leben sind, ist dramatisch. Sie melden sich täglich bei ihren Familien in Erbil und in Dohuk und bitten darum, gerettet oder befreit zu werden. Ich weiß nicht, ob man die Befreiung von hier aus organisieren kann. Ich möchte aber nicht, dass wir so tun, als ob es diese Frauen nicht gäbe, die auf Hilfe warten.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU und der SPD)

Es ist unsere Pflicht, auf diese Situation aufmerksam zu machen und uns zu überlegen, wie wir den Geflüchteten therapeutische Hilfe leisten können, wenn sie gerettet sind, und wie wir sie – ungefähr 300 Frauen haben es geschafft, sich aus den Händen des IS zu befreien – vor Ort, in der jesidischen und in der christlich-chaldäischen Gemeinde, unterstützen können.

Wir müssen wissen, dass die Menschen vor Ort kein Dach über dem Kopf haben, dass in sechs Wochen im Norden Iraks der Winter beginnt und dass die Menschen in Rohbauten, in Schulen, in Zelten und in provisorischen Lagern darben. Nahrungsmittel gibt es in einigermaßen ausreichender Menge. Aber wenn sie nicht binnen sechs Wochen winterfeste Unterkünfte bekommen, werden diese Menschen erfrieren.

Wenn die Frauen jetzt keine traumatherapeutische Unterstützung und Begleitung bekommen, droht die Gefahr, dass sie Selbstmord begehen, weil sie sich als geschändete, entwürdigte Frauen nicht mehr in ihre Familien zurückwagen. Das will ich nicht. Es gehört dazu, dass wir das sehen und versuchen, von hier aus Hilfe für diese Frauen zu organisieren.

(Allgemeiner Beifall)

Im Norden Iraks ist der Schulbetrieb nicht aufgenommen worden. Am 15. September hätten die Schulen geöffnet werden müssen. Aber da alle Gebäude besetzt sind, gibt es keinen normalen Schulbetrieb.

Die normalen Krankenhäuser sind überfordert, weil auch die Flüchtlinge dort behandelt werden. Wenn Angehörige der einheimischen Bevölkerung krank werden und eine Notversorgung in den Krankenhäusern benötigen, bekommen sie diese nicht, weil sie einfach überfüllt sind.

Deswegen glaube ich, dass eine Diskussion, die wir führen sollten, die über die langfristigen Ziele – über die wir ja reden – und über die politischen Gesamtstrategien ist, die wir brauchen. Die dringende Diskussion ist: Wie schaffen wir es, innerhalb von sechs bis acht Wochen winterfeste Unterkünfte in dieser Region zu errichten? Die Vereinten Nationen sind aktiv, aber es reicht nicht. Der Raum, in dem sich die Menschen bewegen, die versorgt werden müssen, ist viel zu groß. Die karitativen Verbände, die dort unterwegs sind, sind mit ihren Möglichkeiten am Ende. Die kurdische Regionalregierung unter Barzani versucht mit allen Mitteln, zu helfen, aber auch sie sind am Ende.

Ganz schwerwiegend ist, dass das Vertrauen, das die Menschen bislang den anderen entgegenbrachten – z. B. ihren Nachbarn –, ist erschüttert. Das heißt, die Christen vertrauen den Muslimen nicht mehr, die Jesiden vertrauen den Sunniten nicht mehr, und die Schiiten vertrauen den anderen ebenfalls nicht mehr. Die multikulturelle Gesellschaft – die Wiege der zivilisierten Kultur, die aus dieser Region stammt – droht zu kollabieren bzw. auf immer und ewig zerstört zu werden. Ein Weltkulturerbe droht zerstört zu werden.

Deswegen glaube ich, dass wir in drei Schritten vorgehen müssen. Der erste Schritt sind die kurzfristigen Hilfeleistungen, um die Menschen vor den Folgen des Winters zu retten. Der zweite Schritt ist, zu überlegen, wie man die Menschen in ihren Dörfern, wenn sie dorthin zurückkehren wollen – viele wollen zurückkehren –, bei Aufbau- und Infrastrukturmaßnahmen unterstützen kann. Der dritte Schritt ist eine politische Gesamtstrategie für den Nahen Osten: wie man dort eine Stabilisierung hinbekommt, bei der nicht nur die Ressourcenpolitik eine Rolle spielt, sondern bei der es auch um die Menschen und um die multikulturelle Zusammensetzung dieser Gesellschaft geht.

Das alles sind Dinge, die wir gemeinsam andenken können. Aber ich denke, aus Hessen werden uns begrenzte Mittel zur Verfügung stehen.

Von daher ist mein letzter Appell: Lassen Sie uns der jesidischen Gemeinschaft in Hessen und auch den christlichen Gemeinschaften in Hessen – der chaldäischen und der syrisch-orthodoxen – die Hand reichen, damit wir gemeinsam an Wegen und Lösungsmöglichkeiten arbeiten, um den Menschen vor Ort direkt und unbürokratisch zu helfen. Das ist mein Appell. Ich hoffe, dass wir nicht sehr oft über dieses Thema reden müssen. – Herzlichen Dank.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der CDU und der SPD)

Vizepräsident Wolfgang Greilich:

Vielen Dank, Frau Kollegin Öztürk.