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16.09.2009
Portraitfoto von Marcus Bocklet vor grauem Hintergrund.

Marcus Bocklet zum Thema Arbeitsmarktreform dringend weiterentwickeln

Meine sehr verehrten Damen und Herren, Herr Präsident! Ja, Frau Kollegin, man muss noch einmal betonen, dass die Zusammenführung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe zu einer Grundsicherung für Arbeitsuchende richtig war,

(Beifall des Abg. Dr. Thomas Spies (SPD))

allein schon deswegen, weil es immer wieder von Ihnen negiert wird.

Diese Zusammenführung war wichtig, und sie war richtig. Ich sage Ihnen auch gerne, warum. Für alle diejenigen, die noch nie einen längeren Einstieg ins Arbeitsleben hatten und auf Sozialhilfe angewiesen waren, bedeutete dies: keine arbeitsmarktpolitischen Leistungen vom Arbeitsamt, Einzelanträge für jeden einzelnen Bedarf. Das heißt, für jeden Küchenstuhl und für jeden Wintermantel musste man extra Anträge stellen. Es gab die volle Anrechnung des Einkommens der Eltern, egal, wie alt man wurde, kein Anrecht darauf, sein Auto behalten zu können, eine Anrechnung der Ersparnisse des eigenen Kindes oberhalb von 256 Euro, keinen Beitrag für die Rentenversicherung, keinen Beitrag für die Krankenversicherung. All dies war das alte System, und das wurde positiv verändert. Das muss man auch in dieser Stunde einmal festhalten.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD – Zuruf des Abg. Willi van Ooyen (DIE LINKE))

Deswegen gefällt mir der Duktus Ihres Antrages nicht, weil er so tut, als ob Fördern und Fordern der falsche Weg wäre. Wir sagen noch einmal, dass Fördern und Fordern richtig ist, dass das Mitwirkungsrecht richtig ist, dass auch eine Mitwirkungspflicht richtig ist. Im Übrigen hätten Sie, selbst wenn Sie mit absoluter Mehrheit entschließen würden, Hartz IV abzuschaffen, dann die alte Sozialhilfe. Auch dort gab es schon eine Mitwirkungspflicht für die Betroffenen. Von daher war das bisher üblich und auch Standard. Das Fördern und Fordern wollen wir aber auch.

(Willi van Ooyen (DIE LINKE): Und Beschäftigungsmöglichkeiten!)

Wenn Sie in Ihrem Antrag fordern, § 31 zu streichen, dann geht es um nichts anderes, als dass grundsätzlich und für alle Zeiten sämtliche Sanktionen aus diesem Gesetz gestrichen werden sollen.

Ich will Ihnen eine Zahl sagen. Sie haben die Bundesdruckssache auch. Ich kann sie nur zur Lektüre empfehlen. Das war eine Anfrage Ihrer Fraktion, deswegen kamen Sie wahrscheinlich auch auf das Thema. Dort gibt es eine Zahl, die sofort das Argument liefert, warum wir den Paragrafen nicht grundsätzlich streichen, sondern die Sanktionen nur zeitlich befristet aussetzen sollten. Ich sage Ihnen auch, warum: Es wurden 800.000 Sanktionen ausgesprochen.

34 440.000 Sanktionen – also in weit über der Hälfte aller Fälle – wurden nicht wegen 1-€-Jobs oder falschen Eingliederungsvereinbarungen ausgesprochen, sondern deshalb, weil sich die Leute nicht bei den Jobcentern gemeldet haben. 440.000 Menschen haben sich geweigert, vorstellig zu werden. Wenn man aber nicht einmal vorstellig wird, dann muss man mit einer Sanktion rechnen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU, der SPD und der FDP – Zurufe von der LINKEN)

– Lesen Sie die Antwort der Bundesregierung auf Ihre Anfrage. Eine vertiefte Sachkenntnis hätte auch Ihnen weitergeholfen.

An dem Punkt ist es eigentlich falsch, grundsätzlich jede Form der Sanktion auszuschließen, aber an einem Punkt nähern wir uns Ihnen an. Wir von den GRÜNEN halten es tatsächlich für sehr kritikwürdig, dass die versprochene Balance des Förderns und Forderns in den letzten Jahren immer weiter ausgehöhlt wurde und auf Arbeitsuchende durch verschärfte Zumutbarkeits- und Sanktionsregeln massiver Druck ausgeübt wurde. Das sage ich in Richtung der Kollegen der CDU und der SPD. Sie waren doch in Berlin auf dem Holzweg. Sie haben das Fortschreibungsgesetz mit über 70 Änderungen an dem Hartz-IV-Gesetz beschlossen, an dem wir GRÜNEN mitgewirkt haben.

Selbst wenn wir die Vision hätten, 3,5 Millionen Arbeitslosen eine optimale Fort- und Weiterbildung zu geben, könnten wir angesichts von 500.000 offenen Stellen in der Bundesrepublik nicht alle mit Arbeitsplätzen auf den ersten Arbeitsmarkt versorgen. Deswegen stellt sich grundsätzlich die Frage: Mit welchen Mitteln erhöhe ich den Druck auf dieses Klientel? Wir haben keine 3,5 Millionen offene Stellen, sondern nur 500.000. Das müssen wir in dieser Stunde einmal zur Kenntnis nehmen. Das heißt: Selbst dann, wenn Sie die übelsten Stellschrauben anlegen, wenn Sie dieses Klientel diffamieren – ich erinnere an das, was Herr Schröder gesagt hat, und die nachfolgende Debatte über Faulenzer und Sozialschmarotzer –, sind die Sanktionen eindeutig zu hart, vor allem dann, wenn man nicht richtig fördert, wie es momentan passiert. Das ist der zweite Teil unserer Kritik. Die Große Koalition hat die Sanktionen weiter verschärft, aber im gleichen Moment sehen wir mit großer Sorge, dass sich bei etlichen Jobcentern innerhalb von vier Jahren nichts geändert hat. Ich habe zuletzt ein Jobcenter im Odenwaldkreis besucht. Ich besuche viele Jobcenter, und immer wieder kommen dieselben Beschwerden, dass nämlich das Fordern gegenüber dem Anbieten passgenauer individueller Hilfen und der Motivation zur Selbstständigkeit, also dem Fördern, überwiegt.

(Zurufe von der LINKEN)

Deshalb sind wir der Meinung, der Landtag muss sich für ein umgehendes und zeitlich befristetes Sanktionsmoratorium einsetzen – so lange, bis diese Missstände behoben sind.

Ein weiterer Indikator für diesen Missstand ist, dass von den 6 Milliarden Euro Eingliederungsmittel in der Bundesrepublik nur 3 Milliarden Euro bei den betroffenen Arbeitslosen landen. In Hessen wurden von den zur Verfügung stehenden 300 Millionen Euro Eingliederungsmittel, die der Fort- und Weiterbildung, der Qualifizierung von Arbeitslosen dienen sollen, 156 Millionen Euro zurückgegeben, also nicht ausgegeben. Das ist ein Skandal und widerspricht dem Geist dieses Gesetzes.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

An der Stelle sind Rote wie Schwarze in einem Boot. Sie stellen die dafür verantwortlichen Landräte. Sie können dafür sorgen, dass dort bessere und mehr Eingliederungshilfen angeboten werden. Sie können dafür sorgen, dass die Mittel vollständig und präzise ausgegeben werden. Das passiert aber nach wie vor nicht. Deshalb stimmen wir durchaus der Kampagne zu, zu sagen: Wir brauchen ein Sanktionsmoratorium gegenüber den Menschen, die sich zu Recht beschweren, die sagen: „Was ist eigentlich los? Ich bin willig, aber ich bekomme nichts, ich muss zum dritten Mal einen schwachsinnigen Trainingskurs besuchen.“ – Das ist der Punkt, an dem wir gerne zusammenkommen können, denn hier muss etwas passieren. Aber offensichtlich passiert nichts. Ich habe diese Rede schon vor drei Jahre gehalten, ich habe sie vor zwei Jahren gehalten, ich habe sie vor ein paar Monaten gehalten. In den Jobcentern verbessert sich die Situation nicht. Ich glaube, die richtige Reaktion ist, denen einen Schuss vor den Bug zu geben und zu sagen: Solange ihr nichts verbessert, so lange bestrafen wir die Menschen vor Ort nicht.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Arbeitsmarktreformen haben die Situation verschärft. Ich habe das kritisiert. Ich glaube aber, man muss noch einmal positiv und konstruktiv beschreiben, was wir jetzt brauchen. Deshalb haben wir diesen Antrag eingebracht, Wir sind der Meinung, dass wir die LINKE mit ihrem populistischen Slogan „Hartz muss weg, Hartz schafft Armut“ nicht alleine stehen lassen dürfen.

(Zurufe von der LINKEN)

– Das ist Unfug. Hartz schafft keine Armut. Das ist totaler Blödsinn. Sie wissen, dass die Sätze vorher niedriger waren, dass es entmündigend war, in jedem Einzelfall einen Antrag stellen zu müssen. Es kam also zu Verbesserungen, und Sie stehen an dem Punkt alleine, weil alle anderen in diesem Saal denken: Lasst die mal machen. – Das ist aber falsch. Wir treten Ihnen entgegen. Man muss diese sinnvolle Reform weiter verbessern, aber man braucht sie nicht abzuschaffen. Das wäre ein Rückfall in alte Zeiten.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP – Zurufe von der LINKEN)

Der Großen Koalition muss man noch einmal ins Stammbuch schreiben: Sie hat zu sehr verschärft, Sie hat versucht, die Arbeitsmarktpolitik als Sparbüchse zu benutzen. Das haben auch der vorherige und der jetzige Arbeitsminister so gemacht. Es wird zentralistisch dirigiert. Fragen Sie die Geschäftsführer, ob bei den Optionskommunen oder bei kommunalen Trägern. Alle sagen, es wird von der Bundesagentur dirigistisch hineinregiert. Das ist eine unerträgliche Situation. Deshalb sagen wir: Die Jobcenter vor Ort brauchen deutlich mehr Kompetenzen. Das umzusetzen wird eine der Hauptaufgaben nach der Bundestagswahl sein. Wir wollen auch die Rechte der Betroffenen stärken, ihnen mehr Möglichkeiten zur Mitentscheidung bei der Auswahl aus verschiedenen marktpolitischen Maßnahmen geben. Wir wollen dort, wo sie immer noch fehlen, Ombudsmannstellen in den Jobcentern einführen. Es gibt ein weiteres Bündel an Maßnahmen, das peripher dazugehört. Wir sagen, dass der Regelsatz zu niedrig ist. Wir sagen, dass man mit 351 Euro nicht auskommen kann, dass der Regelsatzes generell auf 420 Euro angehoben werden muss. Es muss auch etwas bei der Anrechnung des Partnereinkommens passieren. Die Schonvermögen für Ältere werden immer noch zu stark angetastet. Das sind Stellschrauben, an denen dringendst etwas verändert werden muss. Aber man muss Hartz IV nicht abschaffen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, man muss vielmehr konstruktiv daran arbeiten.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zurufe von der CDU)

Wir haben einen Antrag dazu eingebracht. Wir lehnen Ihren Antrag ab, weil wir der Meinung sind, es wird das Kind mit dem Bad ausgeschüttet. Noch ein Wort in Richtung SPD-Fraktion: Sie haben einen eigenen Entschließungsantrag eingebracht. Dazu kann ich nur sagen: Sie fordern zu Recht, dass nach wie vor die Höhe der Leistungen überprüft und fortentwickelt werden muss. Sie fordern zu Recht, den Schutz des Schonvermögens neu zu regeln. Sie fordern auch, dass der Personalschlüssel verbessert werden soll. All dem kann man nur zustimmen. Wir bleiben als Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN aber relativ ratlos zurück

(Willi van Ooyen (DIE LINKE): Das kann ich verstehen! – Weitere Zurufe von der SPD und der LINKEN)

bei der Frage – Herr Dr. Spies, ich sage Ihnen auch, warum wir ratlos zurückbleiben –, weil wir uns fragen, wer in den letzten vier Jahren in Berlin regiert hat. Das waren Sie, und Sie haben dort nichts von dem umgesetzt, was Sie hier populistisch fordern. Das ist das eigentlich Schlimme. Sie können hier nicht so tun, als ob Sie die Retter des sozialen Abendlandes seien, denn in der Großen Koalition in Berlin haben Sie von diesen Punkten nichts durchsetzen können.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zurufe von der SPD und der LINKEN)

Vizepräsident Heinrich Heidel:

Herzlichen Dank, Herr Bocklet.

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