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24.03.2010
Portraitfoto von Marcus Bocklet vor grauem Hintergrund.

Marcus Bocklet zum Thema: Sexueller Missbrauch von Kindern und Jugendlichen ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen! 16.000 Fälle von sexuellem Missbrauch in jedem Jahr werden in der Kriminalstatistik geführt. Die „Frankfurter Allgemeine“ berichtet am Sonntag von einer geschätzten Dunkelziffer von über 280.000 Fällen von sexuellem Missbrauch in der Bundesrepublik Deutschland. In Hessen sind 1.000 Fälle kriminalstatistisch bekannt. Meine sehr verehrten Damen und Herren, hinter jeder dieser Ziffern steht ein Schicksal, ein Opfer, eine geschundene Seele. Wir sind zutiefst erschüttert darüber, dass es in diesem Land zu so etwas kommen kann. Ich bin deshalb sehr froh darüber, dass der Landtag heute ein klares Signal sendet: Dieses Haus steht an der Seite aller Opfer sexueller Gewalt, in allen Familien, Einrichtungen, ob Schulen, Kirchen oder anderen Organisationen, die mit Kindern zu tun haben.

(Allgemeiner Beifall)

Der Landtag – das ist wichtig – verurteilt noch einmal gemeinsam diese sexuellen Übergriffe auf das Entschiedenste. Lassen Sie mich hinzufügen: unbenommen des Trägers, unbenommen jeglichen Ansehens oder vermeintlicher Weltanschauung. Ich wiederhole: Ob Schulen oder die katholische Kirche, die mittlerweile in 22 von 27 Bistümern und in allen drei hessischen Bistümern von Verdachtsfällen betroffen ist, unbenommen jeglichen Ansehens und der Trägerschaft, verurteilen wir diese Vorkommnisse auf das Entschiedenste. Der Landtag und wir alle sehen immer noch einen immensen Nachholbedarf bei der Aufklärung. Da sollten wir auch nicht lockerlassen. Es ergeht deshalb von uns allen heute das Signal an alle Institutionen und Verantwortlichen, der unmissverständliche Aufruf, alles zu tun, damit eine rückhaltlose Aufklärung und Aufarbeitung stattfinden kann.

(Allgemeiner Beifall)

Die Politikerinnen und Politiker dieses Hauses werden allen Versuchen der Vertuschung entschieden entgegentreten. Es muss ein Ende haben mit Bagatellisierungen und Vertuschungen. Schweigen schützt den Täter.

(Allgemeiner Beifall)

In diesem Zusammenhang müssen wir auch darüber reden, dass mit dem Aufkommen dieser Meldungen in der Presse über den Kindesmissbrauch auch über die Formen hausinterner Ermittlungen zu sprechen war. Kindesmissbrauch duldet keine rechtsfreien Räume. Hausinterne oder arbeitsrechtliche Untersuchungen ersetzen nicht die Einschaltung der Strafverfolgungsbehörden.

(Allgemeiner Beifall)

Wir brauchen eine Aufklärung, die nach Ursachen und Umständen fragt. Dazu gehört auch die Aufarbeitung der Umstände, die es Pädokriminellen einfach machten. Was wir heute wissen: Es geht um Dominanz, um Macht und Unterdrückung. Frau Wiesmann hat es schon gesagt: Es geht um geschützte, intransparente Räume, um geschlossene Systeme und ein Umfeld, in dem über Sexualität und sexuelle Gewalt nicht gesprochen werden darf oder wo man nicht darüber sprechen will. Dabei muss klar sein: Das Opfer muss im Mittelpunkt stehen. Es müssen jetzt Verfahren gefunden werden, damit die Opfer nicht ein zweites Mal traumatisiert werden und sie gleichzeitig zu einer gerechten Entschädigung kommen. Dafür muss der Landtag an der Seite der Opfer stehen.

(Allgemeiner Beifall)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie uns heute aber auch eines feststellen: Der Aufklärung muss auch die Erkenntnis folgen. Man muss kein Hellseher sein, um zu sagen, dass wir es hier mit der Spitze des Eisbergs zu tun haben. Wir haben eine extrem hohe Dunkelziffer. Es gibt kein Argument, warum dies alles in den Neunzigerjahren aufgehört haben soll. Wir müssen uns also die Frage stellen: Haben wir als Politiker, haben wir als Landtag, jeder Einzelne von uns, tatsächlich alles getan, um unsere Kinder zu schützen? Können wir diese Frage tatsächlich mit voller Überzeugung bejahen? Ich möchte selbstkritisch für mich persönlich sagen: Es stimmt mich sehr nachdenklich. Ich glaube, wir haben nicht alles getan. Wenn wir das alles nachdenklich und selbstkritisch so konstatieren, muss daraus aber auch genauso entschlossen ein ganzheitliches Handeln resultieren.

(Allgemeiner Beifall)

Meine Kolleginnen und Kollegen Vorredner haben es schon gesagt: Eine nachhaltige Verbesserung kann nur durch ein Zusammenwirken von Aufklärung und Sanktion, von Ursachenforschung und Prävention erreicht werden. Wir haben auch in Hessen ein großes Umfeld, das wir bearbeiten können. Wir haben schon im Kulturpolitischen Ausschuss über die Aufsicht durch die Schulämter gesprochen. Herr Merz, wir haben es im Landesjugendhilfeausschuss eingebracht, dass auch das Landesjugendamt mit den Jugendämtern zu sprechen haben wird. Ich fordere auch den Sportminister auf – Herr Müller, ich habe auch schon mit Ihnen gesprochen –, noch einmal in die Sportvereine zu gehen. Überall dort, wo es zu diesem geschlossenen System kommt und Kinder- und Jugendarbeit stattfindet, entsteht für diese Täter eine Sogwirkung.

Wir müssen also eine Kultur des aktiven Hinschauens installieren. Wir wissen, wer alles zusammenarbeiten muss. All das ist auch nicht neu. Wir wissen es seit mehreren Jahren, und zu dem selbstkritischen Hinterfragen der Politik muss auch gehören: Warum haben wir nicht schon öfter und länger auf die Opferorganisationen und die Vertreter von Frauenorganisationen gehört, die uns schon seit mehreren Jahren darauf hingewiesen haben? Wir müssen uns diese Frage stellen, wir müssen sie aber auch heute beantworten. Wir müssen ihnen mehr Aufmerksamkeit schenken.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der LINKEN – Willi van Ooyen (DIE LINKE): Genau! – Petra Fuhrmann (SPD): Ja!)

Präventionsmaßnahmen und Beratungsstrukturen müssen gestärkt werden. Das haben wir hier in diesem Antrag einvernehmlich festgestellt. Ich bin darüber sehr froh. Es ist nicht selbstverständlich, dass auch die Regierung dieses mit unterschreibt. Wir werden alle Handlungsfelder abarbeiten müssen, auch das große Feld der Familienpolitik, Herr Familienminister. Wir werden die Präventionsstrukturen und die Öffentlichkeitsarbeit verstärken müssen. Lassen Sie uns aber auch ehrlich sein: Das wird es nicht zum Nulltarif geben. Wir müssen auch in einer Finanzkrise darüber nachdenken, wie wir diesem Menschenrecht, diesem Kinderschutz Rechnung tragen und damit auch die Strukturen so verbessern, dass etwa Beratungsstellen, die bis heute ehrenamtlich arbeiten, tatsächlich in die Lage versetzt werden, Opfer auch angemessen zu beraten.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der CDU)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Politik gibt heute mit diesem Entschließungsantrag ein Versprechen ab. Sie gibt mit diesem Entschließungsantrag das Versprechen ab, dass wir uns um dieses Thema nachhaltig kümmern – Justizministerium, Sportministerium, Schule, Soziales, wir Landtagsabgeordnete und Fachpolitiker. Wir haben mit diesem Entschließungsantrag ein Signal gesendet, dass wir uns um dieses Thema nachhaltig kümmern werden: Aufklärung der Fälle, Aufarbeitung der Ursachen, Opferhilfe, durchgreifende Konsequenzen auf allen Ebenen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir haben heute eine Willenserklärung abgegeben. Wir stehen in der Schuld der Opfer; und wir stehen in der Verpflichtung potenzieller Opfer, dass wir alles tun werden, damit wir heute tatsächlich nicht nur darüber geredet haben, sondern dass die Politik in aller Glaubwürdigkeit zeigt, dass sie auch handeln wird. – Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Anhaltender Beifall)

Vizepräsident Lothar Quanz:

Herzlichen Dank, Herr Bocklet.

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