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29.09.2010
Portraitfoto von Marcus Bocklet vor grauem Hintergrund.

Marcus Bocklet: Offensive gegen Fachkräftemangel

Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren! Hessen hat ein weiteres Problem. Laut IHK werden in den nächsten Jahren im Durchschnitt 140.000 Fachkräfte in Hessen fehlen. Dabei wird es im Jahr 2014 mit weit über 500.000 fehlenden Fachkräften eine Spitze geben. Die einsetzende wirtschaftliche Erholung führt deshalb zu massiven Problemen für hessische Unternehmen. Besonders bei unternehmensnahen Dienstleistungen wird man diesen Mangel zu spüren bekommen. Hier werden allein 46.000 Kräfte fehlen. Aber auch im Maschinenbau und in der Elektrotechnik kommen wir auf ein Defizit von 8.500 Personen. Im Jahr 2014 werden in der Mathematik, in der Informatik, in den Naturwissenschaften und in der Technologie 370.000 Fachkräfte fehlen.

Wir GRÜNE erlauben uns, die IHK zu zitieren, die erklärt hat, damit sei die Wettbewerbsfähigkeit der hessischen Wirtschaft gefährdet. Dem ist nichts hinzuzufügen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Überraschend ist, dass lediglich zu einem Drittel hoch qualifizierte Fachkräfte gesucht werden, während die Menschen mit unteren und mittleren Bildungsabschlüssen zwei Drittel ausmachen. Es ist deshalb wichtig, das zu sagen, weil es andeutet, dass wir Politiker durchaus Handlungsfelder haben, in denen wir agieren können. Klar ist nämlich, dass alle Beteiligten in Politik – –

(Unruhe)

Vizepräsident Heinrich Heidel:

Einen Moment, Herr Kollege. – Ich bitte Sie, die Gespräche außerhalb des Saals zu führen, damit diejenigen, die dem Redner zuhören wollen, nicht gestört werden.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Marcus Bocklet:

Alle Beteiligten, also Politiker, die Vertreter von Bildungsinstitutionen und die Wirtschaftsvertreter, sind aufgefordert, zusammenzuarbeiten, um dieses Problem anzugehen. Aber bei dem Appell, der immer so wohlfeil daherkommt, darf eines nicht geschehen: Die Politiker dürfen nicht aus der Verantwortung entlassen werden, sich der drohenden Krise zuzuwenden und sie mit allen möglichen Mitteln zu bekämpfen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

In den ersten Reaktionen auf unsere Pressekonferenz kam der Hinweis – auch von den Gewerkschaften –, dass es vor allem eine Aufgabe der Unternehmen ist. Dem will ich nicht widersprechen. Die Frage ist nur: Was können wir Landespolitiker tun, um versteckte Potenziale auszuschöpfen und diesem Fachkräftemangel zu begegnen?

(Zuruf der Abg. Petra Fuhrmann (SPD))

– Danke, Frau Fuhrmann. Auch wir sehen es so, dass noch mehr getan werden kann.

Ich sage nicht, dass die Landesregierung da völlig untätig ist. Wir sagen auch nicht, dass es nicht bereits Programme und Landesmittel in einigen Bereichen gibt. Ich sage das präventiv, um zu verhindern, dass wir irgendwelche Gräben aufreißen, die es nicht geben müsste.

Wir glauben aber, dass das, was getan wird, nicht ausreicht.

(Beifall der Abg. Petra Fuhrmann (SPD))

Das gilt gerade dann, wenn man sich explizit die Zielgruppen anguckt, die wir uns vornehmen könnten.

Wir brauchen also eine Offensive mit dem Dreiklang Qualifizierung, Weiterbildung und Ausschöpfung vorhandener Fachkräftepotenziale. Ganz evident ist dabei, dass wir es selbst in der Hand haben, weiterhelfen zu können.

Nach unserer Auffassung gibt es in Hessen mindestens vier Gruppen. Eine davon sind die gut gebildeten Migrantinnen und Migranten, die in der Statistik der Bundesagentur für Arbeit als Ausländer aufgeführt werden. Es gibt natürlich mehr Migranten. Das wissen wir. Es gibt Tausende Jugendliche ohne Schulabschluss und ohne Berufsausbildung. Es gibt Frauen, die wegen der fehlenden Kinderbetreuungsmöglichkeiten nicht oder nur teilweise erwerbsfähig sind. Natürlich gibt es dann auch noch viele ältere Menschen, deren Möglichkeiten nicht genutzt werden. Für all diese Gruppen brauchen wir schnelle und rasche Lösungsmöglichkeiten.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Petra Fuhrmann und Nancy Faeser (SPD))

Wir haben uns diese Gruppen genau angeguckt. Denn wir wollen es auch da nicht bei oberflächlichen Aufforderungen belassen. Deswegen gehe ich jetzt noch einmal darauf ein, was man schnell tun kann.

Laut Statistischem Landesamt haben wir in diesem Land 100.000 Menschen, die ohne Abschluss arbeiten. Diesen Menschen im Job Weiterqualifizierung zukommen zu lassen, ist eine ganz wichtige Aufgabe. Hier wäre es eine Aufgabe der Landesregierung, mit den Weiterbildungsinstitutionen dafür zu sorgen, dass sie zu Abschlüssen und zu einem Upgrading der Abschlüsse kommen, um diese Menschen sattelfest zu machen und den Fachkräftebedarf zu stillen.

Es gibt ein zweites Feld. Meiner Meinung nach ist es fast schon skandalös, dass da nicht längst gehandelt wurde. Das betrifft die über 25.000 Ausländerinnen und Ausländer in Hessen, die ihre Abschlüsse nicht anerkannt bekommen und deshalb dem Fachkräftearbeitsmarkt nicht zur Verfügung stehen.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Abg. Petra Fuhrmann (SPD))

Nach einer Studie der Universität Duisburg kann man davon ausgehen, dass von den 100.000 Ausländerinnen und Ausländern, die Mittel nach dem Sozialgesetzbuch II beziehen, etwa ein Viertel eine gute Ausbildung haben, die sie hier aber nicht anerkannt bekommen. Diese Situation muss man sich vor Augen führen. Das Bild wird geprägt von den Schlagwörtern: Putzen mit Diplom und Taxi fahren mit Doktortitel. – Wir haben Fachkräfte, die hier leben und ihre Abschlüsse nicht anerkannt bekommen. Es gibt ein unglaublich verwirrendes Anerkennungsverfahren, das unendlich lange dauert. Auch das führt zu einer Dequalifizierung.

Hier könnten wir schon längst etwas tun. Das fordern wir in unserem Antrag. Wir wollen, dass es eine zentrale offizielle Stelle gibt, die diesen Ausländerinnen und Ausländern hilft, bei ihrem Antragsverfahren zügig voranzukommen. Das war Erstens.

Zweitens. Wenn festgestellt wird, dass es Module gibt, die diesen Ausländern bei ihren Abschlüssen fehlen, dann müssen wir schnell zu einer Nachqualifizierung in Zusammenarbeit mit der Bundesagentur für Arbeit kommen. Wenn es ein schnelles Verfahren, eine schnelle Anerkennung und die Nachqualifizierung geben würde, hätten wir ein unglaublich großes Potenzial an Fachkräften, das sofort zur Verfügung stehen würde.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der Abg. Petra Fuhrmann (SPD))

Ein besonderer Schwerpunkt wird des Öfteren diskutiert. Wir wollen das aber noch einmal betont wissen. Das betrifft die Jugendlichen ohne Abschluss. Wir haben in Hessen jedes Jahr 2.000 Jugendliche, die die Schule ohne Abschluss verlassen. Das ist nicht hinnehmbar.

Ich will diejenigen, die unter 25 sind, jetzt noch einmal als Jugendliche bezeichnen, weil sie nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz Jugendliche sind. Wir haben 21.000 Jugendliche unter 25 Jahre, die keinen Abschluss haben. Sie verharren in der Arbeitslosigkeit, weil sie keine guten Abschlüsse haben. Wir entlassen eine große Anzahl Jugendlicher ungelernt aus den Schulen. Wir entlassen sie ohne Abschluss in das Leben. Sie werden dem Fachkräftemarkt fehlen.

Wir haben den Vorschlag gemacht, die Ausbildungsprogramme des Landes Hessen neu auszurichten. Wir müssen sie auf Abschluss, Abschluss, Abschluss fokussieren. Ich will es noch einmal sagen: Die ganzen Übergangssysteme, die zu einer guten Betreuung, aber nicht zu einem Abschluss führen, müssen wir entrümpeln. Wir brauchen gute Abschlüsse und eine überbetriebliche Ausbildung. Wir brauchen diese jungen Menschen dringend auf dem Fachkräftemarkt.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Lothar Quanz und Petra Fuhrmann (SPD))

Das gilt auch für die älteren Arbeitnehmer. Hier hat das Land Hessen, haben also CDU und FDP – oder war es noch die CDU alleine? –, das Programm „Erfahrung hat Zukunft“ aufgelegt. 37 Millionen Euro hat das Land Hessen dafür ausgegeben. Am Ende kam dabei heraus, dass 289 ältere Menschen in den ersten Arbeitsmarkt integriert wurden.

Das endete dann im Jahr 2009. Seitdem haben wir davon nichts mehr gehört. Haben wir plötzlich eine Auslastung der Menschen über 50 Jahre zu 100 Prozent? – Nein, das haben wir nicht. Wir haben immer noch unglaublich gut qualifizierte ältere Menschen, die aber von den Betrieben der Wirtschaft nicht mehr genommen werden.

Wir müssen also die Potenziale, die in den Landesmitteln vorhanden sind, gezielt einsetzen. Wir müssen entrümpeln, entstauben und schauen, wie wir Anreize schaffen, damit ältere Menschen wieder von den Betrieben stärker genommen werden. Im Zweifel wird das unter dem Stichwort Lifelong Learning erfolgen.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Abg. Petra Fuhrmann (SPD))

Seit 2009 ist nichts mehr passiert. Es wurde einmal ein Programm gestartet, das Programm „Erfahrung hat Zukunft“. Das hat gefloppt. Seitdem passiert nichts mehr. Herr Staatsminister Grüttner, ich würde mir wünschen, dass Sie sich dieses Themas intensiv annehmen.

(Zuruf des Abg. Horst Klee (CDU))

– Herr Kollege, nein, das stimmt. Herr Kollege, es gibt zu dem Thema „Erfahrung hat Zukunft“ nichts mehr. Ich hätte mir auch gewünscht, dass es zu dem Thema noch etwas gibt. Da wurde ein Versuch gestartet. Den hat man mit Randstadt gemacht. Dann hat man es in den Boden gerammt. Man hat es nicht geschafft, mehr Menschen zu integrieren. Weil man einmal einen Fehlversuch hatte, hat man gedacht: Davon lassen wir jetzt die Finger.

Wir haben Sie damals nicht massiv kritisiert. Denn wir fanden es mutig, dass Sie überhaupt einen Modellversuch gemacht haben. Dass der nicht erfolgreich war, heißt nicht, dass man zur Untätigkeit verdammt ist. Vielmehr muss man sich neue Gedanken darüber machen, wie man an diese Gruppe der älteren Menschen besser herankommt. Das muss die Antwort sein.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Petra Fuhrmann und Uwe Frankenberger (SPD))

Schließlich muss ich bei dieser Gelegenheit auch noch einmal etwas sagen: Wir haben in Hessen 11.600 Alleinerziehende, und zwar alleinerziehende Erwerbsfähige. Da reden wir nicht über die 18.000, die für sich entschieden haben, nicht zur Arbeit zu gehen, weil ihre Kinder noch zu klein sind.

Wir haben 11.600 Alleinerziehende, die aufgrund der fehlenden Kinderbetreuung dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung stehen. Das ist ein unglaublicher Zustand. Liebe Landesregierung, kommen Sie in die Puschen. Kommen Sie von dem Sofa. Helfen Sie diesen Alleinerziehenden, endlich in Arbeit kommen zu können.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Petra Fuhrmann und Nancy Faeser (SPD))

Wir sagen es deshalb noch einmal: Es ist eine umfangreiche Offensive nötig. Wir brauchen eine Strategie. Wir wollen bei der Landesregierung eine erkennbare Strategie sehen, mit der sie sich des Fachkräftemangels annimmt.

Im Jahr 2014 wird sich eine große Spitze ergeben. Wir werden dann vor einem großen Problem stehen. Jeder, der weiß, dass eine Ausbildung zwei bis drei Jahre dauert, weiß, dass er heute damit beginnen muss. Deswegen haben wir GRÜNE diesen Aufschlag gemacht.

Ich sage Ihnen noch einmal: Sie sind nicht gut beraten – –

Vizepräsident Heinrich Heidel:

Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss Ihrer Rede kommen.

Marcus Bocklet:

Ich komme zum Schluss meiner Rede. – Die Landesregierung und die sie tragenden Fraktionen sind nicht gut beraten, dass sie den Titel der arbeitsmarktpolitischen Programme von 42 Millionen Euro auf 35 Millionen Euro kürzen wollen, und zwar ohne ein neues Konzept. Darauf liegt die Betonung. Sie richten das nicht neu aus. Sie kürzen sinnlos von 42 Millionen Euro auf 35 Millionen Euro. Damit verschenken Sie Potenziale. Diese unausgeschöpften Potenziale müssen gehoben und den Fachkräften zugeführt werden.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, es muss mehr passieren. Wenn nichts passiert, droht eine Krise bei den Fachkräften. – Danke schön.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Thorsten Schäfer-Gümbel und Lothar Quanz (SPD))

Vizepräsident Heinrich Heidel:

Herr Kollege Bocklet, schönen Dank.

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