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27.02.2013

Kai Klose: Faire Arbeitsbedingungen für Leiharbeiter

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Seit der Ausstrahlung der Dokumentation „Ausgeliefert – Leiharbeiter bei amazon“ des Hessischen Rundfunks am 13. Februar kocht die Volksseele – zu Recht; denn eindrucksvoll hat der HR aufgezeigt, wie Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter bei amazon in Bad Hersfeld unter Vortäuschung falscher Tatsachen ins Land geholt wurden, ihre Situation ausgenutzt wurde und wie sie überdies noch durch Angestellte eines Sicherheitsdienstes mit rechtsextremem Einschlag überwacht und drangsaliert wurden. Der Hessische Landtag muss deshalb heute ein deutliches Zeichen setzen, dass er solche Missstände nirgendwo in Hessen duldet.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der LINKEN)

Meine Damen und Herren, die bei amazon dokumentierten Vorgänge stehen leider exemplarisch für eine besorgniserregende Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt. Wir GRÜNEN fordern schon lange gleichen Lohn für gleiche Arbeit, Mitbestimmungsrechte und vor allem effektive Kontrollen, die im vorliegenden Fall ganz offensichtlich nicht funktioniert haben.

Das allein reicht aber nicht. Immer mehr Firmen weichen auf Leiharbeit und in jüngerer Zeit auch zunehmend auf Werkverträge aus, um die Lohn- und Sozialkosten zu drücken. In den Unternehmen entsteht so eine Dreiklassengesellschaft aus Stammpersonal, Leiharbeitern und Werkvertragsbeschäftigten. Auch hier brauchen wir klare Regelungen. Vor allem aber muss der Trend zu immer mehr Befristungen gestoppt werden.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

amazon ist auch hierfür ein extremes Beispiel; denn beispielsweise im neuen Lager in Koblenz sind von den 3.300 Beschäftigten gerade einmal 200 unbefristet angestellt. 3.100 sind befristet angestellt. Auch das ist ein Skandal. Hier besteht dringender Handlungsbedarf des Gesetzgebers, und entsprechende Initiativen liegen dem Deutschen Bundestag vor.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Meine Damen und Herren, den Wettbewerb mit Billiglohnländern können wir nicht dadurch gewinnen, dass wir deren Arbeitsbedingungen hierher importieren. Dazu gehört auch, dass die Bundesanstalt für Arbeit ihrer Aufsichtspflicht gegenüber den Leiharbeitsfirmen nachkommt. Die von Frau von der Leyen angeordnete Sonderprüfung war richtig, aber sie ist nur nötig geworden, weil die Kontrollmechanismen vorher nicht richtig gegriffen haben.

Dass die Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter im Ausland mit dem Versprechen angeworben wurden, bei amazon direkt angestellt zu werden, und dann, nach ihrer Ankunft, zu einem niedrigeren Stundensatz an eine Leiharbeitsfirma weitergereicht wurden, ist schlicht und einfach schäbig und darf von uns allen nicht hingenommen werden.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der LINKEN)

Meine Damen und Herren, ich glaube, die HR-Dokumentation hat vor allem deshalb eine so drastische Welle der Empörung ausgelöst, weil viele Menschen als frühere Kundinnen und Kunden selbst betroffen waren. Damit konfrontiert zu werden, unter welchen realen Bedingungen die praktischen Päckchen in Bad Hersfeld und anderswo gepackt werden, hat wütend gemacht, mich auch.

Denn die vermeintlich bequeme Onlinebestellerei hat eine Schattenseite, die beim örtlichen Einzelhändler unseres Vertrauens in aller Regel eben nicht verborgen bleiben kann. Genau diese persönliche Betroffenheit hat die Verbraucherinnen und Verbraucher dann zu Konsequenzen greifen lassen. Erst dadurch ist öffentlicher Druck entstanden, der endlich auch amazon bewegt hat. Deshalb steckt in dieser ganzen misslichen Sache auch eine positive Erfahrung: Der aufgeklärte Verbraucher ist willens und in der Lage, Veränderungen herbeizuführen. Er ist nicht ohnmächtig und ausgeliefert, und das ist gut so.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD sowie des Abg. Hermann Schaus (DIE LINKE))

Es genügt allerdings nicht, dass sich das Unternehmen jetzt von zweien seiner Dienstleister getrennt hat. Wir erwarten, dass amazon Transparenz darüber herstellt, ob die Anwerbung der Leiharbeitnehmerinnen und -arbeitnehmer unter falschen Voraussetzungen von der Firma mitgetragen wurde, und auch aufklärt, ob die Sicherheitsfirma im Auftrag amazons oder eigenmächtig so mit den Menschen umgesprungen ist, wie es die Dokumentation belegt.

Wir erwarten, dass amazon erklärt, wie solche Zustände für die Zukunft, auch während der Hochsaisonphasen, ausgeschlossen werden. amazon ist ein großer und wichtiger Arbeitgeber in Nordhessen. Hier hat er eine Vorbildfunktion, und der muss er anders als bisher nachkommen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

Amazon ist auch ein weiteres Beispiel dafür, dass dieses erschöpfte und verbrauchte Kabinett mit seiner Verantwortung für Hessen inzwischen völlig überfordert ist.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Zurufe von der CDU – Zuruf des Abg. Dr. Christean Wagner (Lahntal) (CDU))

Wirtschaftsminister Rentsch und Sozialminister Grüttner haben nach der Ausstrahlung der Sendung bekanntlich gebetsmühlenhaft erklärt, dass sie sich zur Causa amazon nicht verhalten wollten; sie seien nämlich gar nicht zuständig.

(Zuruf des Ministers Stefan Grüttner)

Ausgerechnet die beiden Minister, denen sonst kein Thema zu einem Statement zu abseitig ist, wehren sich also mit Händen und Füßen dagegen, irgendeine formale Zuständigkeit zu haben. Und Ministerpräsident Bouffier, der Möchtegernkümmerer aller Hessen, ließ wissen, er wolle zwar die weitere Entwicklung beobachten, lege aber ansonsten ebenfalls allergrößten Wert auf die eigene Unzuständigkeit.

(Zuruf der Abg. Petra Fuhrmann (SPD))

Meine Damen und Herren, diese Landesregierung hat leider die Rolle, die dem Staat im Wirtschaftsleben zukommt,

(Zuruf des Abg. Holger Bellino (CDU))

nämlich auch für faire Arbeitsbedingungen zu sorgen, nie wahrgenommen – im Gegenteil. Wir erinnern uns alle mit Grauen an die verächtliche Haltung, die Minister Rentsch den ehemaligen Schlecker-Beschäftigten entgegengebracht hat. Ihre Wirtschaftspolitik kennt als Bezugsgröße nur materielle Werte.

(Zuruf des Abg. Holger Bellino (CDU) – Weitere Zurufe von der CDU)

Wir wollen eine Wirtschaftspolitik, für die Werte wie Verantwortung, Solidarität und die Verpflichtung, die Eigentum mit sich bringt, keine Fremdwörter sind.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Meine Damen und Herren, es ist unser aller erklärter Wille, dem Fachkräftemangel in unserem Land neben anderen Maßnahmen auch durch den Zuzug ausländischer Arbeitskräfte zu begegnen. Frank Martin, der Chef der hessischen Bundesagentur für Arbeit, hat leider recht, wenn er feststellt, dass diesem Ansinnen durch die Missstände bei amazon schwerer Schaden zugefügt wurde. Wer die Begrüßung des ersten spanischen Facharbeiters so pompös inszeniert, wie es die Landesregierung am Frankfurter Flughafen getan hat,

(Zuruf des Abg. Hermann Schaus (DIE LINKE))

der trägt eben auch Verantwortung dafür, wie es deren Landsleuten hier in Hessen ergeht.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

„Nicht zuständig“, ist nicht nur sachlich falsch. Es ist auch zynisch gegenüber den betroffenen Menschen. Herr Minister Grüttner, Sie berichten jetzt, Sie seien bereits am Freitag nach der Ausstrahlung tätig geworden. Nur hat davon irgendwie niemand etwas mitbekommen, auch nicht der Ministerpräsident, der noch am darauffolgenden Wochenende auf der Unzuständigkeit seiner Regierung beharrte.

(Zuruf des Ministers Stefan Grüttner – Zuruf des Abg. Holger Bellino (CDU))

Herr Grüttner, jetzt sind Sie bisher auch nicht in erster Linie für Ihre zurückhaltende Bescheidenheit aufgefallen.

(Heiterkeit bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Deshalb verwundert es schon ein wenig, dass Sie diese Tätigkeit als geheime Kommandosache behandelt haben wollen. Nichtsdestotrotz: Alles, was Sie aktiv unterstützen, um die Situation der Beschäftigten bei amazon zu verbessern, begrüßen wir ausdrücklich.

(Zuruf des Abg. Holger Bellino (CDU))

Wichtig ist aber auch, neben der sozialpolitischen die wirtschaftspolitische Dimension nicht auszublenden. Minister Rentsch und sein Vorgänger, Herr Posch, haben jahrelang die goldene Zukunft Nordhessens als Logistikstandort beschworen. Wenn das tatsächlich Ihre Vision für Nordhessen ist, dann übernehmen Sie gefälligst auch Verantwortung für die Menschen, die in der Branche arbeiten, und schlagen sich nicht in die Büsche, sobald es ernst wird.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

Dass Sie sich leider für die reale Situation der Beschäftigten in dieser Logistikbranche kaum interessieren, zeigt noch ein anderer Fall. Im Sommer letzten Jahres erschien im Magazin der „Zeit“ eine ausführliche Reportage über die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beim Paketzustelldienst GLS, der unter anderem in Neuenstein, ebenfalls im Landkreis Hersfeld-Rotenburg, ein Depot unterhält.

In dieser Reportage wird eindrücklich geschildert, unter welchen Druck GLS seine Fahrer setzt. Dort wird beschrieben, wie GLS alle unternehmerischen Risiken auf Subunternehmer auslagert, die sie wiederum an die angestellten Fahrer weitergeben, wie diese genötigt werden, Geschwindigkeitsbegrenzungen systematisch zu überschreiten, wie ihnen nahegelegt wird, Fahrtenbücher nicht allzu ernst zu nehmen, und das alles für 1.300 Euro Brutto. Und die Landesregierung?

Nun, im Rahmen ihrer sogenannten Wirtschaftswochen Anfang des Monats hat Frau Staatssekretärin Dr. Breier GLS in Neuenstein besucht und sich hoch erfreut gezeigt, dass die – ich darf zitieren – hervorragenden Rahmenbedingungen, für die die Landesregierung gesorgt hat, im hessischen Mittelstand ihre Früchte trägt. Angesichts der geschilderten Arbeitsbedingungen bei GLS fragt man sich, in welcher Parallelwelt sie eigentlich war.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

Welchen hessischen Mittelstand will Frau Dr. Breier eigentlich bei GLS getroffen haben? GLS ist eine Tochter der staatseigenen britischen Royal Mail, also wohl kaum hessischer Mittelstand. Die Subunternehmer und angestellten Fahrer können auch nicht mit dem hessischen Mittelstand gemeint sein. Dieser Vorgang belegt einmal mehr, dass diese sogenannten Wirtschaftswochen ausschließlich der Selbstbeweihräucherung und nicht den realen Gegebenheiten vor Ort dienen sollen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

Meine Damen und Herren, der Hessische Landtag sollte dem Deutschen Bundestag nicht nachstehen. Lassen Sie uns heute gemeinsam ein starkes Zeichen setzen. Zustände, wie sie bei amazon dokumentiert wurden, dulden wir in Hessen nicht. Wir stehen ein für faire Lebens- und Arbeitsbedingungen. Hessen heißt Einwanderinnen und Einwanderer willkommen und wendet sich gegen rechtsextremistische Tendenzen.

Lassen Sie uns die Bundesagentur für Arbeit an ihre Pflichten gegenüber Leiharbeitsfirmen erinnern. Lassen Sie uns die Initiative für einen runden Tisch ergreifen, um den sich die anwerbenden Firmen, die Arbeitnehmervertretung und die Bundesagentur für Arbeit unter der Leitung der Landesregierung versammeln, um die Vorgänge bei amazon aufzuklären, aber auch um sicherzustellen, dass solche Missstände zukünftig ausgeschlossen werden können. Stimmen Sie unserem Antrag zu. – Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

Vizepräsident Heinrich Heidel:

Schönen Dank, Herr Klose.