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24.03.2010

Andreas Jürgens zum Thema: Ehemalige Heimkinder in Hessen

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Ich ergreife das Wort als Vorsitzender des Ausschusses für Arbeit, Familie und Gesundheit.

Lassen Sie mich mit einem Zitat beginnen:

Wenn sich … die Pforten hinter einem geschlossen hatten, hat man keine Menschenrechte mehr, keine Selbstwürde und vor allem keinerlei Freiheit.

Das war die Aussage einer Frau, die als Jugendliche in das Erziehungsheim Guxhagen-Breitenau bei Kassel gesteckt wurde. Ihr ehemaliger Ausbilder hatte, wie sie sagte, ein reges sexuelles Interesse an ihr entwickelt. In ihrer Not wandte sie sich mit der Bitte um Hilfe an das Jugendamt. Das Jugendamt hatte nichts Besseres zu tun, als sie als „sittlich und moralisch gefährdete Jugendliche“ ins Heim zu stecken. Hier wurde sie erst einmal zehn Tage lang isoliert. Auch danach war alles verboten. Es war verboten, während der Arbeit zu reden, es war verboten, Radio zu hören oder Zeitungen und Illustrierte zu lesen. Das Rauchen war strengstens verboten und wurde mit mehreren Tagen „Besinnungsstube“ bestraft, eine verharmlosende Umschreibung für Isolationshaft. Fluchtversuche wurden mit „Besinnungsstube“ und einem drei Monate längeren Heimaufenthalt bestraft. „Hier lernte ich, dass es besser ist, sich selbst Schmerz zuzufügen, damit man den Schmerz, der von außen kam, nicht mehr spüren musste“, erklärte die Frau in der Anhörung durch den Ausschuss. Unter weiter: „Ich habe Mädchen gesehen, die für ein Stück Leberwurstbrot sexuellen Wünschen nachgeben.“

Meine Damen und Herren, der Ausschuss für Arbeit, Familie und Gesundheit hat im Oktober letzten Jahres eine ganztägige Anhörung zur Situation ehemaliger Heimkinder in Hessen – vor allem in den Fünfziger- und Sechzigerjahren – durchgeführt. In einem öffentlichen Aufruf hatten wir Betroffene gebeten, sich bei uns zu melden. Es haben sich fast 50 Personen gemeldet, überwiegend ehemalige Betroffene aus Einrichtungen der damaligen Zeit in Hessen. Das Protokoll liegt inzwischen vor und ist auf der Internetseite des Landtags einzusehen. Ich kann es zur Lektüre empfehlen, muss allerdings warnen: Es ist keine leichte Kost.

Die Betroffenen haben in der Anhörung mit erschütternden Berichten ein fürchterliches Bild der Heimerziehung gezeichnet. Herr Prof. Kappeler nannte in der Anhörung konkrete Zahlen. 1969 befanden sich in der alten Bundesrepublik rund 140.000 Kinder und Jugendliche in verschiedenen Formen der Heimerziehung, davon etwa 18.000 Säuglinge. Von 1950 bis 1980 waren rund 800.000 bis 900.000 Kinder und Jugendliche betroffen. Ihre Aufenthaltsdauer reichte von wenigen Monaten bis zu 21 Jahren, also von der Geburt bis zur damaligen Volljährigkeit. Viele kamen schon als Säuglinge ins Heim oder wurden dort geboren.

Statt Zuwendung und Wärme erfuhren sie Abweisung und Kälte oder, wie es eine Betroffene ausdrückte, eine Form von innerer Verwahrlosung, von Ignorieren, ein großes Gefühl von Einsamkeit. Ich zitiere aus dem Bericht einer ehemaligen Praktikantin auf einer Kleinkindstation:

Die Kinder kamen nie aus ihrem Zimmer heraus. Die haben für sich allein krabbeln, laufen usw. gelernt. Kein Kind hat sprechen können … Für diese Kinder von zwei bis drei Jahren gab es nicht ein einziges Spielzeug, keinen Löffel, keine Dinge in die Hand zu nehmen.

Alle Betroffenen unterschiedlicher Altersstufen berichten über drakonische Strafen in den Einrichtungen.

Bestraft wurden wir so: Wir mussten die Finger auf den Tisch legen, und dann wurde uns mit der Rückseite einer Schere auf die Finger geschlagen. Oder unser Kopf wurde unter fließend kaltes Wasser gehalten, mit dem Gesicht nach oben: Man hatte das Gefühl, man erstickt.

Aus einem weiteren Bericht:

Am Gürtel der Schwestern befanden sich drei Knoten, die die heilige Dreifaltigkeit darstellten. Ich lief zu schnell und war zu laut im Treppenhaus. Darauf nahm die Schwester ihren Gürtel und schlug mich, bis ich blutete. Es war ihr egal, wo auf dem Körper sie mich traf. Hernach konnte ich nicht mehr normal laufen, und der ganze Körper war geschunden.

Solche Ausbrüche unvorstellbarer Gewalt waren nach allem, was wir hören mussten, in den damaligen Einrichtungen an der Tagesordnung. Ich könnte Ihnen hier stundenlang Berichte zitieren, die uns zugegangen sind von Menschen, die die Hölle auf Erden erlebt haben.

Zum Glück gab es auch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die unter schweren Bedingungen den ihnen anvertrauten Kindern Zuwendung und Geborgenheit zu geben versuchten. Es gibt immer auch ein Licht in der Hölle. In der Anhörung unterschied eine Betroffene anschaulich zwischen den lieben und den bösen Schwestern. Böse Schwestern gab es aber eben auch. Ihr Handeln kann nur als sadistisch bezeichnet werden – nach allem, was wir gehört haben.

Aber: Das System der Heimerziehung der damaligen Zeit ist mit individuellen Verfehlungen noch nicht hinreichend erklärt. Die Situation in den Heimen war auch draußen durchaus bekannt. Schon 1956 erklärte ein Fachausschuss der AGJJ, der Arbeitsgemeinschaft für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfe:

Wenn z. B. zwei Pflegerinnen für 35 Kinder eingesetzt werden, so zeigt das, wie wenig die menschliche Aufgabe, die bei der Pflege von kleinen Kindern zu leisten ist, gesehen wird. Kinder aus solchen Heimen bleiben in ihrer körperlichen und geistigen Entwicklung weit zurück, sodass sie nicht selten wie Schwachsinnige wirken.

Von einer Einrichtung wurde übrigens geschildert, dass für eine Gruppe von 35 Kindern oder Jugendlichen eine Schwester und eine Laienschwester zuständig waren – und zwar nicht pro Schicht, sondern sieben Tage pro Woche, 24 Stunden am Tag. Die Schwester und die Laienschwester wohnten mit der Gruppe zusammen. Man kann sich vorstellen, dass das nicht zu einem gedeihlichen Miteinander beigetragen hat.

Herr Prof. Kappeler zitierte in der Anhörung aus dem „Handbuch der Heimerziehung“ aus dem Jahre 1955. Ich zitiere:

Das Erzieher-Zöglings-Verhältnis ist autoritär. Lehrer, Meister und Erzieher fordern als Vertreter objektiver Ansprüche Gehorsam … Der Apparat garantiert die Ordnung, die Leitung ordnet die Arbeit an, überwacht sie und bricht den Widerstand mit Gewalt. Drill, blinder Gehorsam und die Entpersönlichung des Verkehrs werden auf die Spitze getrieben … Es wird unentwegt gearbeitet, um die Kraft der anderen Triebe zu schwächen.

Die Situation in den Heimen, wie sie uns geschildert wurde, entsprach also durchaus den angeblich fachlichen Vorgaben. Eine autoritäre Anstaltserziehung war gesellschaftlich akzeptiert oder wurde zumindest geduldet.

Wir müssen uns auch einmal vor Augen führen, dass der gesellschaftliche Umgang mit Kindern in dieser Zeit ein völlig anderer war. Ich bin 1956 geboren und war in jungen Jahren mehrfach im Kinderkrankenhaus. Ich kann mich noch erinnern, ich war vielleicht drei Jahre alt, ich lag in einem Saal, da standen 15 bis 20 Betten, und zweimal in der Woche war Besuchstag. Am Besuchstag durften die Eltern nicht zu ihren Kindern, sondern durften ihnen nur durch ein Guckfenster zuwinken. Das war eine völlig irre Situation, wenn man sich vorstellt, dass wir uns heute bemühen, Eltern den Zugang zu ihren Kindern im Krankenhaus rund um die Uhr zu ermöglichen. Früher stand aber das Funktionieren der Institution über dem Wohl des Kindes, sogar in Einrichtungen wie einem Kinderkrankenhaus – um wie viel mehr in Einrichtungen, die Zucht und Ordnung vermitteln wollten. Meine Mutter hat mich damals sofort mit nach Hause genommen, hat mich buchstäblich gerettet. Die Kinder in den Heimen hatten aber niemanden, der sie retten konnte oder retten wollte – auch keiner von denen, die die Verhältnisse kannten. Wir müssen uns klarmachen, dass diese strukturelle und gesellschaftlich legitimierte Gewalt, die damals herrschte, ein wichtiger Unterschied ist beim Vergleich mit Fällen von Missbrauch und Gewalt aus jüngerer Zeit in solchen Einrichtungen. Diese Gewalt gibt es heute, so hoffe ich zumindest, in den Einrichtungen nicht mehr.

Natürlich gibt es aber zwischen damals und heute auch Parallelen. Das ist in den Reden, die eben gehalten wurden, schon angesprochen worden. Gewalt und Missbrauch sind eben Ausdruck von Machtausübung. In geschlossenen Institutionen, die hierarchisch strukturiert sind und von außen nicht hinreichend kontrolliert werden, erhalten Menschen Macht über andere. Damit werden Gelegenheiten geschaffen, die in dem einen oder anderen Fall ausgenutzt werden. Das gilt insbesondere dann, wenn die Täter kaum befürchten müssen, tatsächlich zur Rechenschaft gezogen zu werden. Das ist eine weitere Lehre aus der Vergangenheit.

Nur in seltenen Ausnahmefällen kam es bei festgestellten Übergriffen tatsächlich zur strafrechtlichen Verfolgung. Vertuschen, abwiegeln, verharmlosen – das war die häufigste Reaktion, wenn Betroffene überhaupt einmal den Mut aufbrachten, das Erlebte zur Anzeige zu bringen. Mir hat einer in einer Zuschrift geschildert, dass er mit seinem besten Freund, mit dem er in einer Einrichtung außerhalb Hessens war, damals zur Polizei gegangen ist und die Polizisten gesagt haben: „Das müsst ihr aber beweisen, und wenn ihr es nicht beweisen könnt, werdet ihr schwere Folgen zu tragen haben“. – Sein bester Freund hat sich einen Tag später umgebracht.

Die Heimaufsicht, die Jugendämter, die Vormundschaftsgerichte, die Staatsanwaltschaften und andere Stellen blieben überwiegend untätig. Das Gefühl, nicht ernst genommen zu werden, wenn man sich offenbarte, hat viele ebenso verletzt wie das zuvor erlittene Unrecht.

Meine Damen und Herren, wir haben in der Anhörung nicht nur von unvorstellbaren Verhältnissen in den Heimen gehört, die in früheren Zeiten herrschten. Wir haben vom lebenslangen Problem vieler Betroffener gehört, einen Platz in der Gesellschaft zu finden, im Leben Fuß zu fassen. Wir haben von abgebrochenen Ausbildungen gehört, von häufigen Ortswechseln, von einem unsteten Leben, von Karrieren in psychiatrischen Anstalten und Knästen, von fehlendem Urvertrauen, von Beziehungsunfähigkeit und von Angstzuständen – kurz gesagt von Lebensverläufen, die am Anfang von traumatischen Erlebnissen und im weiteren Verlauf von deren Verdrängen geprägt sind. Wir haben in Abgründe menschlichen Daseins geblickt und einen Eindruck davon erhalten, was der Mensch dem Menschen anzutun in der Lage ist. Worte können nicht ausdrücken, was wir dabei empfunden haben.

Der Ausschuss für Arbeit, Familie und Gesundheit hat in Auswertung dieser Anhörung einen Beschlussvorschlag für den Landtag erarbeitet, dessen Text heute zur Abstimmung steht. Wir wollen uns der Gesamtverantwortung für ein dunkles Kapitel unserer jüngeren Geschichte stellen.

Der Landtag als Vertreter des hessischen Volkes entschuldigt sich bei den betroffenen ehemaligen Heimkindern für das erlittene Unrecht.

(Allgemeiner Beifall)

Das ist einer der zentralen Sätze in unserem Entschließungsantrag. Eine solche Entschuldigung haben viele der Betroffenen erhofft, und sie wird ihnen hoffentlich ein Mindestmaß an Genugtuung verschaffen. Sie sollte vielleicht auch ein Vorbild für andere sein, insbesondere für die Vertreter der Träger der damaligen Einrichtungen. Eine Entschuldigung ist das Mindeste, was wir, vor allem aber die Betroffenen und ihre Organisationen erwarten können.

(Allgemeiner Beifall)

Viele wissen bis heute gar nicht, warum genau sie damals ins Heim kamen. Schon aus diesen Gründen ist die Sicherung von Akten, die vielleicht bei Einrichtungsträgern, bei Jugendämtern, bei Vormundschaftsgerichten oder an anderen Stellen noch vorhanden sind, von großer Bedeutung. Sie sollten für die Einsichtnahme der Betroffenen oder auch deren Nachkommen ebenso zur Verfügung stehen wie für die wissenschaftliche Forschung.

Eine Betroffene hat mir berichtet, dass sie durch die Einsicht in die Akten überhaupt erst erfahren hat, dass ihre Eltern die treibenden Kräfte bei der Heimeinweisung waren und dass ihre Eltern später auch ihre Zwangssterilisation veranlasst haben – ein weiteres dunkles Kapitel, über das zu reden sich vielleicht einmal lohnen würde.

Die Qualifikation des Personals in den Einrichtungen und eine ausreichende Personalausstattung sind für die Jugendhilfe unerlässlich. Eine Erfahrung aus der damaligen Zeit: 1969 hatten von 100.000 Erziehern gerade einmal 17 %, also 17.000, eine pädagogische Ausbildung. Auch das ist etwas, was wir festgestellt haben. Es ist wichtig, dass wir dort qualifiziertes Personal einsetzen.

Kinder und Jugendliche sollten möglichst wenig in Institutionen leben, sondern in der Regel familiennah betreut werden. Eine geschlossene Unterbringung von Kindern und Jugendlichen außerhalb des Jugendstrafvollzugs lehnt der Landtag damit ab.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten der CDU und der FDP)

Es gibt Fragen, die wir in Hessen schlecht allein regeln können. Deswegen bitten wir den runden Tisch, Vorschläge dazu zu machen. Das gilt insbesondere für eine eventuelle Entschädigung oder die Berücksichtigung von Arbeitszeiten ohne Beitrag in der Rente.

Meine Damen und Herren, wir wollen mit unserem Beschluss tun, was wir können, um den ehemaligen Heimkindern ein Stück Würde zurückzugeben. Wenig genug ist es.

(Allgemeiner Beifall)

Präsident Norbert Kartmann:

Vielen Dank, Herr Dr. Jürgens.