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01.11.2011

Rede des Fraktionsvorsitzenden von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Tarek Al-Wazir: Ministerpräsident Bouffier, ziehen Sie endlich die Revision gegen das Nachtflugverbot zurück und nehmen Sie die Nöte der Menschen ernst!

– Es gilt das gesprochene Wort. –

„Seit vorletztem Freitag, seit der Eröffnung der neuen Nordwestbahn, erlebt die Rhein-Main-Region dramatische zusätzliche Belastungen durch Fluglärm. Die südlichen Stadtteile von Frankfurt, die Innenstadt von Offenbach, Teile des Main-Taunus-Kreises, ein Gebiet vom Main-Kinzig-Kreis bis hinüber nach Rheinland-Pfalz sind in bisher nicht gekanntem Maße zusätzlichem Fluglärm buchstäblich ausgeliefert. Teile der Stadt Flörsheim sind bei Ostwind aus meiner Sicht faktisch unbewohnbar geworden.

Manche Bürgerinnen und Bürger haben erstmals eine Belastung durch Fluglärm, andere haben eine höhere Belastung als bisher. 14 Jahre nach Beginn der Diskussion über einen erneuten Ausbau des Frankfurter Flughafens erleben viele, was die bisher abstrakte Zunahme des Lärms real heißt. Ich nehme wahr, dass die Menschen entsetzt sind, teilweise in einer Art Schockzustand, und ich höre immer wieder: „Es ist noch schlimmer als gedacht“.

Unser Thema der Woche – Zusammenschnitt der Rede Hessischen Landtag
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Die ungekürzte Rede hier bei hr-online.

Das hat alles nichts mit der Zeit zwischen 23 und 5 Uhr zu tun, nichts mit der Debatte über das Nachtflugverbot, sondern es sind die Folgen eines Ausbaus, der zum Ziel hat, den Frankfurter Flughafen, der mitten in einem der am dichtesten besiedelten Ballungsräume Deutschlands liegt, zum größten Flughafen Europas zu machen. Wir hielten das immer für falsch, weil der Flughafen die Grenzen des Wachstums schon lange erreicht hatte. Da, wo der Flughafen liegt und nicht etwa vor Jahrzehnten verlagert wurde, wie das in anderen Ballungsräumen auf der Welt geschah, sondern mitten im Ballungsraum immer weiter ausgebaut wurde hat er jetzt diese Grenzen des Wachstums endgültig überschritten.

Die aktuelle Flut von Briefen; Anrufen und e-mails, in der sich Empörung und Entsetzen äußern, spricht für sich. Manche Menschen, am drastischsten in Flörsheim, haben das Gefühl, dass man ihnen die Heimat nimmt, dass sie aus ihrer Heimat vertrieben werden. Wir verkennen nicht, dass seit der ersten Forderung der Lufthansa nach einem neuerlichen Ausbau des Flughafens vier Landtagswahlen stattgefunden haben: 1999, 2003, 2008 und 2009. Bei jeder dieser Wahlen haben die Ausbaubefürworter von CDU, SPD und FDP zusammengenommen immer über 75 Prozent der Stimmen bekommen. Etliche derer, die jetzt von der zusätzlichen Einflugschneise oder von der der Verschiebung der Gegenanflugstrecken betroffen sind, haben den Flughafenausbau lange befürwortet, da sie die Konsequenzen nicht erkennen wollten oder konnten. Ich sage an dieser Stelle gerade nicht: selbst schuld. Sondern ich weise die Abgeordneten von CDU und FDP darauf hin, dass auch Menschen betroffen sind, von denen sie in dieses Parlament gewählt wurden – Sie sollten sie endlich ernst nehmen!

Seit Sonntagabend gilt erstmals ein absolutes Nachtflugverbot. Das Mediationsverfahren wird in seinem Erfolg oder Misserfolg von uns hier unterschiedlich bewertet, am Punkt absolutes Nachtflugverbot waren wir uns anfangs einig. Im Mai 2000, vor über 11 Jahren, hat dieses Parlament einstimmig beschlossen, dass es ein absolutes Nachtflugverbot geben muss. Die Ausbaubefürworter haben sogar immer davon gesprochen, dass das eine das andere bedinge. Ich habe sie noch im Ohr, die markigen Worte von Roland Koch: „Ohne Nachtflugverbot kein Ausbau, ohne Ausbau kein Nachtflugverbot“. Oder von Jörg-Uwe Hahn: „Der Ausbau und das Nachtflugverbot sind zwei Seiten ein und derselben Medaille.“ Jetzt konnten wir am vorletzten Wochenende ein Interview in der FAZ lesen, in dem Koch das Nachtflugverbot kritisiert. Und Jörg-Uwe Hahn gehört einer Regierung an, die gegen das Nachtflugverbot, das sie einst selbst versprochen hat, in Revision vor das Bundesverwaltungsgericht zieht. Sie haben sich, um im Bild von der Medaille zu bleiben, als politische Falschmünzer entpuppt.

Wir haben im letzten Jahr in dieser Republik viel über den so genannten Wutbürger gesprochen. Wer wissen will, wie das Phänomen Wutbürger entsteht, der muss sich die Geschichte des Mediationsverfahrens am Frankfurter Flughafen, die Entwicklung des Nachtflugverbotes und den Wortbruch von CDU und FDP im Hessischen Landtag betrachten.

Zuerst gab es ein hochheiliges Versprechen: Wir belasten euch mehr am Tag, aber dafür gibt es wenigstens 6 Stunden Ruhe in der Nacht. Dann fingen die ersten Lobbyisten an, Schwarz-Gelb neue Parolen ins Ohr zu flüstern, am Anfang noch ohne großen Erfolg. Ich erinnere mich gut an den ersten parlamentarischen Abend von Lufthansa Cargo und die ehrliche Empörung zum Beispiel des heutigen Staatsministers Michael Boddenberg, als dort erstmals nur noch wenig versteckt die Forderung nach einem Ausbau UND Nachtflügen geäußert wurde. Lang, lang ist es her…

Diese Regierung hat 2007 ihr Versprechen gebrochen: Sie hat den Ausbau UND durchschnittlich 150 Nachtflüge zwischen 22 und 6 Uhr genehmigt, davon 17 Flüge in der vorher geradezu zum Heiligtum erklärten Mediationsnachtzwischen 23 und 5 Uhr. Der Grund waren die Einflüsterungen der Luftverkehrswirtschaft, die Begründung damals natürlich eine andere: Wenn man diese Ausnahmen vom Nachtflugverbot nicht genehmigen würde, könne man Nachtflüge überhaupt nicht rechtssicher einschränken, das würde vor Gericht scheitern. Sie haben dann im Jahre 2008 erklärt, dass eine Planergänzung mit dem Ziel, das absolute Nachtflugverbot nachträglich einzuführen, den gesamten Ausbau gefährde. Ich denke in diesen Tagen an manche Presseerklärung der Landesregierung und von CDU und FDP, an manche Kommentare beispielsweise in FAZ und Wiesbadener Kurier, aber auch an manche Äußerungen eines gewissen Jürgen Walter im Oktober 2008 zurück.

Die Begründung für das nicht gehaltene Versprechen eines absoluten Nachtflugverbotes und die angebliche Unmöglichkeit einer nachträglichen Veränderung der Planfeststellung war schlicht falsch, von vorne bis hinten falsch. Der Verwaltungsgerichtshof in Kassel hat, im Gegenteil, genau diesen Teil des Planfeststellungsbeschlusses 2009 aufgehoben und als rechtsfehlerhafte Abwägung bezeichnet. Er hat, im Gegenteil, genau die Planergänzung gefordert, die sie vorher als rechtlich unmöglich bezeichnet haben. Und jetzt, Kolleginnen und Kollegen von CDU und FDP, wird die ganze schreckliche Geschichte noch schlimmer: Schlimm genug, dass Sie ihr eigenes Versprechen nicht einhalten wollten. Jetzt hatten Sie alle Instrumente in der Hand, um Ihr Versprechen zu halten. Der Verwaltungsgerichtshof hat Sie sogar aufgefordert, Ihr Versprechen zu halten. Was machen Sie? Sie gehen in Revision vor das Bundesverwaltungsgericht, um dagegen zu klagen, Ihr eigenes Versprechen zu halten. Ich an Ihrer Stelle würde rot werden vor Scham.

Die Begründung diesmal: Die Landesregierung sei geradezu gezwungen, Revision einzulegen, man bräuchte jetzt endlich Rechtssicherheit, und deshalb sei es geradezu zwingend, Revision einzulegen. Auch diese Begründung ist schlicht falsch. Rechtssicherheit bekommt man durch ein Urteil der höchsten Instanz, das ist richtig. Aber dazu bräuchte es keine Revision des Landes Hessen, schließlich ist das Land Hessen nicht der einzige Kläger. Wenn die Landesregierung morgen beschließen würde, die Revision zurückzunehmen, es gäbe trotzdem am 13. März 2012 eine Verhandlung und in der Folge ein Urteil. Aber die Rücknahme der Revision wäre ein deutliches Zeichen, auch an das Bundesverwaltungsgericht, dass die Landesregierung das Nachtflugverbot endlich akzeptiert und ein Interesse daran hat, dass es kommt.

Das absolute Nachtflugverbot wurde erst von klagenden Anwohnerinnen und Anwohnern und den Städten Rüsselsheim und Offenbach vor 3 Wochen gegen diejenigen durchgesetzt, die genau dieses Nachtflugverbot immer versprochen hatten. Spätestens jetzt müssten sie doch merken, was für eine Katastrophe für das Vertrauen in die Politik Sie angerichtet haben und endlich die Revision zurücknehmen.

Es geht in diesem Trauerspiel aber nicht nur um die Politik, es geht auch um die Rolle der Luftverkehrswirtschaft. Der Lufthansa-Chef Christoph Franz hat vor 2 Wochen im Spiegel den Gipfel des Irrsinns erreicht. Er hat dort wörtlich gesagt: „Der Preis für die neue Landebahn ist mit dem totalen Nachtflugverbot zu hoch“ und weiter: „Hätten wir diese Entwicklung vorhergesehen, hätte unsere Forderung nach einer neuen Bahn ganz anders ausgesehen.“ Ganz abgesehen davon, dass ich glaube, einen offensichtlicheren Versuch, Druck auf das Bundesverwaltungsgerichts auszuüben hat es noch nie gegeben, übersetze ich das mal: Die Lufthansa, die den Bau der neuen Bahn als erste forderte und damit letztlich den Ausbau in Gang setzte, hatte nie vor, sich an das Nachtflugverbot zu halten und hat immer drauf vertraut, dass auch die Landesregierung willige Vollstreckerin ihrer Wünsche sein wird. Ich weiß nicht, ob Herr Franz ein gläubiger Mensch ist, aber ich finde, von den sieben Todsünden begeht er mindestens drei: Habgier, weil ihm eine Steigerung von unter 500.000 auf mindestens 750.000 Flugbewegungen im Jahr nicht genügt. Nein, er möchte auch noch in der Zeit von 23 bis 5 Uhr die Anwohnerinnen und Anwohner um des schnöden Mammons willen quälen. Maßlosigkeit, weil ihm eine Steigerung von mindestens 50 Prozent der Bewegungen immer noch nicht genügt. Und Hochmut, weil ihm die Nöte der Anwohnerinnen und Anwohner offensichtlich völlig egal sind.

Natürlich ist es geradezu irrsinnig, wenn jetzt innerhalb von 10 Tagen der Flugplan von Lufthansa Cargo umgestrickt werden musste und jetzt jeden Abend kurz vor 23 Uhr ein Frachtflugzeug nach Köln startet, dort ein paar Stunden wartet, um dann von dort nach China zu fliegen. Aber, und das sage ich auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von Lufthansa Cargo: Schuld daran sind nicht die Ausbaugegner. Schuld daran ist der Lufthansavorstand, der mindestens 2 Jahre Zeit hatte, um sich um neue Slots für den Flug nach China zu bemühen, es aber nicht getan hat, weil er das Nachtflugverbot schlicht ignoriert hat. Schuld daran ist die hessische Landesregierung, die genau diesem Vorstand offensichtlich immer gesagt hat, dass das Nachtflugverbot am Ende nicht kommt, obwohl sie genau dieses selbst versprochen hat. Und: Die Tatsache, dass das Flugzeug ja offensichtlich vor 23 Uhr komplett beladen werden kann beweist, dass das Argument, der Interkontinentalverkehr vertrage keine Nachtruhe in Frankfurt, offensichtlich immer falsch war. Im Übrigen: Selbst Herr Franz behauptet nicht, dass die Zunahme des Verkehrs um 50 Prozent auf mindestens 750.000 Flugbewegungen im Jahr nicht genügend Arbeitsplätze schafft, um den Wegfall von 10 Flügen in der Nacht zu kompensieren. Die beiden letzten Nächte haben bewiesen, dass ein Nachflugverbot absolut machbar ist,

Ich fordere die Landesregierung auf, sich Ihre Argumente nicht mehr von solchen Leuten einflüstern zu lassen, sondern endlich Ihrem Amtseid entsprechend die Interessen der hessischen Bevölkerung zu vertreten. Es geht jetzt darum, das Leben rund um den Flughafen nicht immer unerträglicher werden zu lassen, sondern endlich im Sinne der Bürgerinnen und Bürger zu handeln und nicht immer im Sinne dieser maßlosen Menschen in der Luftverkehrswirtschaft zu handeln.

Es ist jetzt 11 Jahre her, dass der Landtag 3 Tage lang in den Rhein-Main-Hallen die große Anhörung zum Mediationsergebnis durchführte. Es ist geradezu ein Witz, dass es vom Mai 2000 bis zum Oktober 2011 dauert, bis der Verkehrsminister Posch eine „Task Force“ einrichtet, die sich mit der offensichtlich völlig überraschenden Frage auseinandersetzen soll, was man denn für zusätzlichen Lärmschutz am Flughafen tun kann.

Wir könnten schon längst einen anderen, steileren Anflugwinkel haben, damit die Flugzeuge aus größerer Höhe anfliegen, schneller sinken und dadurch weniger Menschen belästigen. Wir brauchen sie nicht irgendwann, sondern JETZT.

Wir könnten schon längst Steilstarts haben, damit die Flugzeuge schneller an Höhe gewinnen. Wir brauchen sie nicht irgendwann, sondern JETZT.

Wir könnten schon längst eine noch höhere Gebührenspreizung bei den Start- und Landegebühren haben, um lautere Flugzeuge noch stärker zu belasten und dadurch einen Anreiz zu geben, die Flugzeugflotten schneller zu modernisieren. Eine MD 11 F ist nicht nur nachts, sondern auch tagsüber eine Zumutung. Wir brauchen diese stärkere Spreizung nicht irgendwann, sondern JETZT.

Wir brauchen ein Nachtflugverbot, nicht nur für ein halbes Jahr, sondern dauerhaft. Deswegen ziehen Sie JETZT ihren Revisionsantrag zurück.

Wir müssen auch die Teile der Nacht ins Auge fassen, die bisher nicht vom Nachtflugverbot erfasst sind.

Und wir müssen es im Luftverkehrsgesetz hinbekommen, dass Aufgabe der Flugsicherung nicht nur wie bisher Sicherheit und maximale Kapazitätsauslastung ist, sondern Sicherheit UND Lärmschutz Aufgaben der DFS werden, und das brauchen wir nicht irgendwann, sondern JETZT.

Es ist schon genug Vertrauen verspielt worden, es sind genug Unwahrheiten verbreitet worden, die Bürgerinnen und Bürger müssen mit ihren Nöten endlich ernstgenommen werden – JETZT!“


Pressestelle der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN im Hessischen Landtag
Pressesprecherin: Elke Cezanne

Schlossplatz 1-3; 65183 Wiesbaden
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