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26.06.2024

Fünf Lehren - nicht nur für die Grünen

Erschienen als Gastbeitrag von Mathias Wagner in der Frankfurter Rundschau vom 23. Juni 2024

Keine Frage: Mit einem Minus von über acht Prozent hatten die Grünen bei der Europawahl die größten Verluste zu verzeichnen. Keine Beschönigung: Wir Grünen müssen das Ergebnis analysieren und daraus Schlussfolgerungen ziehen. Eine Analyse griffe aber zu kurz, wenn nur das Ergebnis der Grünen betrachtet würde. Vielmehr zeigt die Europawahl weiterreichende Entwicklungen bei der Entscheidung der Wählerinnen und Wähler.

Eine vertiefende Analyse lässt sich in fünf „Vs“ zuspitzen

Vertrauenskrise: Viele Menschen glauben nicht mehr daran, dass die klassischen Parteien (CDU, SPD, GRÜNE, FDP) ihre Probleme richtig sehen und lösen können. Das zeigt sich am Minus der Grünen. Es zeigt sich aber auch am Abschneiden der CDU, die als größte Oppositionsfraktion mit 30 Prozent nicht wirklich von den geringen Zufriedenheitswerten der Bundesregierung profitieren konnte. Und es zeigt sich am historisch schlechten Abschneiden der SPD, die mit 13,9 Prozent keine Volkspartei mehr ist.

Verunsicherung: Angesichts der Vielzahl der Krisen sind die Menschen verunsichert, machen sich Sorgen um ihre Zukunft und den Erhalt ihres Lebensstandards. Sie suchen Orientierung, Lösungen und Sicherheit – und finden sie in ihrer Wahrnehmung immer weniger bei den klassischen Parteien. Eine große Offenheit für neue und bisherige Kleinstparteien sowie leider auch für die AfD ist die Folge.

Veränderungsskepsis: Aus der vorhandenen Verunsicherung folgt wenig Bereitschaft, etwas zu verändern. Zu groß ist die Sorge oder auch die bisherige Erfahrung, dass Veränderungen nicht zu Verbesserungen führen.

Verelendungserzählung: Es ist sehr populär geworden, nicht nur schlecht über einzelne Parteien oder die Politik zu reden, sondern gleich über unser ganzes Land. Immer mehr Gespräche kommen zu dem Fazit: In Deutschland geht alles den Bach runter. Befeuert wird diese Erzählung vor allem – aber leider nicht nur – von den Populisten und den Parteien am rechten und linken Rand.

Verstrittene Ampel: Es gehört leider zur Wahrheit, dass der Dauerstreit in der Ampel-Koalition auf Bundesebene seinen Anteil an der Vertrauenskrise, der Verunsicherung und der Veränderungsskepsis hat.

An den genannten fünf „Vs“ sind nicht allein die Grünen schuld. Alle Parteien haben ihren Anteil daran. Alle sind gut beraten, Wege zu finden, wie sie auf die fünf „Vs“ reagieren.

Für die Grünen könnte die Antwort lauten: Vertrauen dafür schaffen, dass durch Veränderungen der Verunsicherung in unserem Land begegnet werden kann. Das ist wahrlich leichter gesagt als getan. Waren es doch auch wir Grünen, die durch als zu schnell und zu weitreichend wahrgenommene Veränderung Vertrauen verspielt und Verunsicherung geschaffen haben.

Wir haben bei der Europawahl und zuvor bei den Landtagswahlen in Hessen und Bayern die Quittung bekommen. Wir haben unsere Lektion schmerzlich verstanden und sollten daraus lernen: Veränderung geht nur so schnell, wie die Menschen mitkommen.

Wahr ist allerdings auch: Nichts zu verändern und alles so zu lassen, wie es ist, ist eine falsche Sicherheit. Denn Nichtstun hat noch in den seltensten Fällen Probleme gelöst. Im Gegenteil: Viele der Probleme, vor denen Deutschland steht, sind durch Nichtstun oder Zu-wenig-Tun erst entstanden. Exemplarisch hierfür steht die Zeit der Bundesregierung aus CDU und SPD von 2013 bis 2021. Es geht also um „Change you can believe in“, wie es einmal Barack Obama genannt hat.

Veränderung braucht Vertrauen. Vertrauen darauf, dass sich die Grünen um die für die Menschen relevanten Fragen kümmern. Klimaschutz gehört ohne Zweifel dazu – die Sorgen um die wirtschaftliche Entwicklung, Migration und innere Sicherheit allerdings auch. Und es braucht das Vertrauen, dass Veränderungen auch Verbesserungen bringen.

Veränderung braucht Orientierung. Orientierung, die der Bundeskanzler schmerzlich vermissen lässt und die Friedrich Merz nur als Beschreibung dessen hinbekommt, was er nicht will. Welch ein großes Feld könnte sich hier für Grüne öffnen, die gezeigt haben, dass sie die richtigen Worte zur richtigen Zeit finden.

Veränderung braucht Zuversicht oder wie es Karl Popper formuliert hat: Zu Optimismus gibt es keine Alternative. Wenn wir uns der Verelendungserzählung hingeben, werden die Populisten und extremen Parteien weiteren Zulauf erfahren. Ja, wir haben Probleme in unserem Land und müssen unsere Hausaufgaben machen. Aber wir leben immer noch in einem der besten Länder der Welt. Daraus sollten wir die Zuversicht ziehen, dass wir Herausforderungen bewältigen können. Das ist eine Aufgabe für uns alle – nicht nur für die Grünen.

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