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19.11.2005
Landesmitgliederversammlung

Die Elefanten in Bewegung halten!

Durch die Beschlüsse der Parteigremien von CDU, CSU und SPD sind die Weichen für die zweite große Koalition nach 39 Jahren gestellt. Es ist zwar gute Tradition, der neuen Regierung 100 Tage Bewährungsfrist zu geben, bevor eine erste Bilanz gezogen wird. Der eklatante Bruch von Wahlversprechen, das wochenlange Gezerre der schwarz-roten Parteien, die Besetzung von Posten vor der Einigung auf Inhalte und die zu Markt getragenen Eitelkeiten ihrer Protagonisten verheißen jedoch nichts Gutes. Schon jetzt steht fest, dass beide Volksparteien nicht im Stande sind, ein klares Aufbruchsignal zu setzen. Deshalb gibt es keine Schonfrist.

Bündnis 90/DIE GRÜNEN in Hessen stellen fest: Mit dem Koalitionsvertrag ist die Blockadepolitik der Union während der letzten Jahre entlarvt:

  • Hätte Roland Koch der Abschaffung der Eigenheimzulage und Einschränkungen bei der Pendlerpauschale früher zugestimmt, wären mehr als 1,5 Milliarden Euro Mehreinnahmen allein für die Zukunft des Landes Hessen möglich gewesen. Angesichts dessen rotgrün für die Haushaltslage allein verantwortlich machen zu wollen, weisen wir zurück.
  • Die beschlossene „Reichensteuer“ wird allenfalls symbolischen Wert haben. Ein Spitzensteuersatz von 45% bei gleichzeitiger Trennung von Privat- und Unternehmenseinkommen wäre ein echter Solidarbeitrag der Besserverdienenden.
  • Schon längst hätten die Verbraucherinnen und Verbraucher weit gehende Informationsrechte haben können, wenn die Union das nun vereinbarte Verbraucherinformationsgesetz nicht über fünf Jahre im Bundesrat blockiert hätte.
  • Die Verbesserung der Kinderbetreuung ist ein überfälliger Schritt in die richtige Richtung. Ein echter Rechtsanspruch auf Betreuung von Anfang an ist notwendig. Die Landesregierung steht angesichts ihrer miserablen Bilanz nun in der Pflicht, den Ausbau der Betreuungsinfrastruktur voranzubringen.
  • Die Notwendigkeit eines kartellrechtlichen Verbots von Dumpingpreisen im Lebensmittelbereich durch Discounter wird nun endlich auch von der Union anerkannt.

Bündnis 90/DIE GRÜNEN Hessen stehen für eine konstruktive Oppositionsarbeit. Am Koalitionsvertrag können wir auch positive Aspekte erkennen:

  • Die Öffnung der Hochschulen für Menschen mit abgeschlossener Berufsausbildung ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg in die Wissensgesellschaft.
  • Die Einführung eines Elterngeldes nach skandinavischem Vorbild in Höhe von 67% des letzten Einkommens begrüßen wir.
  • Die Wiedereinführung verbesserter Abschreibungsmöglichkeiten für Investitionen durch kleine und mittlere Unternehmen in Deutschland kann ein Beitrag zur Wiederbelebung der Binnenkonjunktur sein.
  • Das Festhalten an der Steuer- und Sozialabgabenfreiheit von Sonn-, Feiertags- und Nachtarbeitszuschlägen für die kleinen und mittleren Einkommen ist ein Gebot der Fairness.
  • Die schrittweise Anhebung des Rentenzugangsalters auf 67 Jahre bis zum Jahr 2032 trägt zu einer besseren Ausgewogenheit der Lastenverteilung von Jung und Alt bei.
  • Die Angleichung des ALG II in Ost und West ist richtig.
  • Die mit einer Obergrenze versehene steuerliche Absetzbarkeit von Handwerkerrechnungen für Privathaushalte kann zum Abbau von Schwarzarbeit und Kampf gegen Umsatzsteuerbetrug beitragen.

Das alles kann aber nicht die Kritikpunkte an der Vereinbarung verdecken. Bündnis 90/DIE GRÜNEN Hessen kritisieren insbesondere:

  • Der Mut zum Sparen hat gefehlt. Die große Koalition wird 2006 mit über 40 Milliarden Euro so viele Schulden aufnehmen, wie keine Regierung vor ihr. Dem angekündigten Verfassungsbruch ist entgegenzutreten. Solange Kohle- und Agrarsubventionen gezahlt werden, Arbeitsplatzabbau mit Steuervergünstigungen versüßt werden und der Abbau von Verteidigungsausgaben blockiert wird, ist Raum für weitere Einsparmaßnahmen vorhanden. Kaum ist Roland Koch Chefunterhändler für Finanzen, ist der Haushalt verfassungswidrig. Die SPD ist angesichts ihrer Klage gegen einen verfassungswidrigen Landeshaushalt in Hessen nun in großen Erklärungsnöten.
  • Die große Koalition steht für die größte Steuererhöhung aller Zeiten. Besonders die Erhöhung der Mehrwertsteuer auf 19% steht für den Wahlbetrug der Union hinsichtlich der Höhe und Verwendung und der SPD hinsichtlich der Ablehnung. Wir lehnen die Mehrwertsteuererhöhung ab, weil so in unsozialer Weise Kaufkraft entzogen und die Binnenkonjunktur abgewürgt wird.
  • Die Lohnnebenkosten werden nicht ausreichend gesenkt. Eine Senkung auf unter 40 Beitragspunkte zu versprechen, ohne eine Antwort auf die Gesundheitsreform und zur Zukunft der Pflegeversicherung zu geben, ist unredlich. Bisher ist nur klar, dass der Rentenbeitrag sogar steigen soll. Unabhängig davon ist es besser, die Senkung auf die kleineren Einkommen zu konzentrieren, weil im Bereich der gering Qualifizierten besonders notwendige Impulse zu mehr Beschäftigung fehlen.
  • Die Ausdehnung der Probezeit auf zwei Jahre wird die Unsicherheit vieler Beschäftigter erhöhen, die Mobilität verringern und trägt nicht zur Schaffung neuer Arbeitsplätze bei. Von dieser Maßnahme sind bis zu 14 Millionen Beschäftige betroffen. Sie ist zudem für junge Paare und hier insbesondere für junge Frauen ein großes Hindernis, sich für Kinder zu entscheiden: und ist damit familienfeindlich.
  • Die Frauenpolitik ist der letzte Unterpunkt des Kapitels ‚familienfreundliche Gesellschaft’. Dies zeichnet eindeutig ein Leitbild, bei dem Frauen Mütter oder Opfer sind.
  • Den geplanten Ausschluss der EU-AusländerInnen von den Maßnahmen des ALG II lehnen wir ab, weil so der Ausgrenzung dieser ZuwandererInnen Vorschub geleistet wird.
  • Mit der Einführung von Großkäfigen für Legehennen und der Absage an ein modernes Jagd-recht wird der Tierschutz in den Hintergrund gerückt.
  • Mit dem fehlendem Bekenntnis zum Schutz von Minderheiten durch ein Antidiskriminierungsgesetz über die zwingenden EU-Vorgaben hinaus werden die Chancen vieler Menschen eingeschränkt. So findet sich im Koalitionsvertrag kein Wort zur Lesben- und Schwulenpolitik. Es ist absehbar, dass hier der unzureichende Status quo festgeschrieben werden soll.
  • Der Abschaffung der Ich-AG stehen wir skeptisch gegenüber.
  • Statt auf die Wahlfreiheit der VerbraucherInnen und der LandwirtInnen setzt die große Koalition auf Bevormundung und Förderung der Großkonzerne, indem sie das Gentechnikrecht mit dem Ziel der Förderung von Genfood grundlegend überarbeiten will.
  • In der Diskussion um die EU-Chemikalienrichtlinie REACH stellen Union und SPD die Interessen der Chemieindustrie über die Belange der VerbraucherInnen, worunter besonders Kinder zu leiden haben.
  • Die Ankündigung, beim Ausbau des neuen Breitbandglasfasernetzes zugunsten der Telekom den Wettbewerb außer Kraft zu setzen lehnen wir ab, weil so alte Monopolisten gestärkt werden und die VerbraucherInnen dafür die Zeche zahlen müssen.
  • Der Kurswechsel beim Tabak-Werbeverbot ist ein Kniefall vor der Zigarettenindustrie.
  • Die geplante Abschaffung der Steuerbefreiung von Biokraftstoffen wird das Ziel, „Weg vom Öl“ zu kommen, in weite Ferne rücken.
  • Unter dem Deckmantel der „Sicherheitsforschung“ werden erhebliche Forschungsmittel für die Atomkraft gebunden, die besser bei den Erneuerbaren Energien angelegt wären. Hier soll der Atomenergie ein Hintertürchen offen gehalten werden.
  • In der Innen- und Rechtspolitik versteckt sich hinter nebulöser Formulierung eine Betonung von Sicherheit vor Freiheit. Bürgerrechte bei Planung und Datenschutz werden eingeschränkt. Die Großkoalitionäre setzen in der Zusammenführung von Bundes- und Landeskompetenzen unter dem Vorwand der Terrorismusbedrohung auf den allmächtigen Staat. Das verheißt – Stichwort Notstandsgesetze – angesichts der Agenda der ersten großen Koalition nichts Gutes. Die Notwendigkeit von Integration wird betont, ohne dass sich daraus auch nur die kleinste Maßnahme ergibt. In der großen Koalition verkommt ‚Integration’ zu einem wortlosen Lippenbekenntnis.
  • Mit der Föderalismusreform droht die überfällige Neuordnung der Beziehungen von Bund und Ländern ohne Berücksichtigung der Finanzbeziehungen zu kurz zu kommen. Ein Abweichungsrecht der Länder in der Umweltgesetzgebung wird zu einem Abbau von Umweltstandards führen und die Planungssicherheit beeinträchtigen. Ein Verzicht auf Bundeszuständigkeit bei der Bildung wird die Reaktion auf die Herausforderungen in Schule, Universität und Weiterbildung erschweren.
  • Der Abbau von Zuschüssen für den öffentlichen Nahverkehr bei gleichzeitigem Aufwuchs für den Straßenbau ist eine falsche verkehrspolitische Weichenstellung, die Arbeitsplätze gefährdet.
  • In der Klimaschutzpolitik droht angesichts des Verzichts auf das vorbildliche nationale Klimaschutzziel ein Rückschritt, zumindest aber der Verlust einer deutschen Vorreiterrolle.

Bündnis 90/DIE GRÜNEN Hessen begrüßen aber, dass viele Erfolge unserer Regierungsarbeit wegen des großen Rückhalts in der Bevölkerung nicht wieder rückgängig gemacht werden konnten:

  • Das Festhalten an den Grundzügen der Außen- und Sicherheitspolitik und das Bekenntnis zu unserer Verantwortung zu globaler Gerechtigkeit zeigt, wie erfolgreich und nachhaltig die Politik Joschka Fischers war. Insbesondere mit Blick auf die Menschenrechtspolitik und den Nahen Osten wollen wir die Arbeit Joschka Fischers fortgeführt sehen.
  • Mit dem Festhalten am Atomausstieg kann Biblis A noch in 2008 und Biblis B noch in diesem Jahrzehnt vom Netz gehen und durch Arbeit schaffende erneuerbare Energieträger ersetzt werden.
  • Mit dem Erneuerbare-Energien-Gesetz bleibt das Förderinstrument für echten Klimaschutz und eine Energieproduktion in den Händen der BürgerInnen erhalten.
  • Mit dem aufgestockten CO2-Gebäudesanierungsprogramm können viele Aufträge für das Handwerk und eine wirksame Energieeinsparung gesichert werden. Der CDU in Hessen wird es künftig nicht mehr möglich sein, eigene Versäumnisse hinter dem Vorwurf, Berlin sei schuld, zu verstecken. Angesichts des Abstiegs Hessens im Vergleich zu anderen Bundesländern war das in der Vergangenheit schon schwer, wird nun aber nicht mehr funktionieren. Der SPD in Hessen werden wir es in Zukunft angesichts der starken Vertretung im Bundeskabinett mit Blick auf Berlin nicht mehr durchgehen lassen, zugleich Opposition und Regierung zu sein.

 

Die Entscheidung der Bundestagsfraktion, den Vorsitz im Verbraucherausschuss und im Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit für sich zu reklamieren, begrüßen wir sehr. Damit werden wir an der Erschließung des Politikfeldes der Verbraucherpolitik festhalten und in der Entwicklungspolitik neue Akzente setzen. Die Ankündigung des offenen Verfassungsbruchs bei der Aufstellung des Bundeshaushalts 2006 ist ein Vorgeschmack auf die Arroganz der Macht einer erdrückenden Mehrheit. Union und SPD haben nach 39 Jahren wieder ein Bündnis geschlossen. Damit ist die politische Landschaft grundlegend verändert. Die alten Lagergrenzen zwischen schwarz-gelb und rot-grün, die seit der Gründung der GRÜNEN Bestand haben, werden in den Hintergrund treten. Wir GRÜNE wollen die Elefanten nach ihrer Hochzeit in Bewegung halten. Deshalb werden wir die Hundert-Tage-Bilanz zu einem Schwerpunkt des Kommunalwahlkampfs machen. Dabei geht es uns darum, das Land voranzubringen und so schnell wie möglich wieder eine grüne Regierungsbeteiligung in Bund und Land zu erreichen. Dabei gehen immer Inhalte vor Macht. Wir werden unseren potenziellen Koalitionspartnern auf die Finger schauen und wenn nötig Dampf machen. Nur so verschaffen wir uns Respekt für GRÜNE Inhalte und neue Ideen.

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