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08.07.2009
Portraitfoto von Tarek Al-Wazir vor grauem Hintergrund

Tarek Al-Wazir zum Thema: Ideologische Politik und Beratungsresistenz der Landesregierung

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Vor etwas über einem Jahr ist dieser neue Plenarsaal des Hessischen Landtags seiner Bestimmung übergeben worden. Es war viel vom neuen Landtag die Rede. Das hatte nicht nur etwas mit dem neuen Gebäude zu tun, sondern auch mit einem neuen Stil, den sich damals jedenfalls alle versprochen hatten. Wir wissen, dass das auch etwas damit zu tun hatte, dass in dieser Situation keine Koalition eine Mehrheit hatte. Aber ich will noch einmal sagen: Was war eigentlich der neue Landtag? – Vier Prinzipien:

Erstens. Der eine hört dem anderen zu.

(Zuruf des Abg. Axel Wintermeyer (CDU))

Zweitens. Herr Wintermeyer, es wird nicht mehr ständig dazwischengeplärrt.

(Zurufe der Abg Axel Wintermeyer (CDU) und Wolfgang Greilich (FDP))

Drittens. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das wurde damals noch von allen unglaublich gelobt: Über die eigene Positionierung sollte nicht mehr die Frage entscheiden, wer einen Antrag einbringt, sondern was drinsteht. Dazu gehört logischerweise auch, dass man Anträge und Gesetzentwürfe liest, bevor man ihnen zustimmt oder sie ablehnt.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Viertens. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn ich das einmal so sagen darf: Brutalstmögliches Aufeinander-Eindreschen sollte nicht mehr stattfinden. So war das vor etwas über einem Jahr im sogenannten neuen Landtag.

(Zuruf der Abg. Petra Fuhrmann (SPD))

Wir hatten am 18. Januar dieses Jahres eine Landtagswahl. Wir haben am 5. Februar den neu gewählten Landtag konstituiert und gleichzeitig eine alte Regierung im Amt bestätigt. Wir müssen feststellen: Das erste Halbjahr ist herum. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist wieder so wie vor 2008. Es ist so, als hätte es das, was wir uns im letzten Jahr vorgenommen haben, nie gegeben.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)

Es wird nicht mehr zugehört. Die Grundhaltung der Mehrheit ist: „Mehrheit ist Wahrheit.“

(Zuruf des Abg. Axel Wintermeyer (CDU))

Die Vorschläge der Opposition hält die Mehrheit aus Prinzip erst einmal für Quatsch, völlig egal, was darin steht. In den Ausschüssen wird fast immer die vorher festgelegte Linie durchgezogen, unabhängig von der Diskussion im Ausschuss und meistens auch völlig unabhängig davon, was Expertinnen und Experten von außen, also die Anzuhörenden, dazu zu sagen haben. Bei den Reden und den Presseerklärungen der Mehrheit hat man manchmal das Gefühl – ich sage Ihnen ganz ehrlich, unser letzter Anlass, dass wir diesen Antrag eingebracht und zum Setzpunkt gemacht haben, war die Rede des Kollegen Irmer in der letzten Plenarsitzung –,

(Zuruf der Abg. Janine Wissler (DIE LINKE))

dass sich die Mehrheit wieder so verhält, als würde sie sich fast den Kalten Krieg zurückwünschen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf des Abg. Axel Wintermeyer (CDU))

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich will Ihnen auch sagen, woran sich das festmacht. Sie sitzen wieder in Ihrem ideologischen Bunker. Ich will Ihnen an ein paar Beispielen die Frage stellen, wer oder was außer ideologischer Verbohrtheit Sie zu folgenden Entscheidungen gezwungen hat.

Ich frage Sie: Wer oder was hat Sie dazu gezwungen, die Neugründung von integrierten Gesamtschulen zu erschweren, obwohl alle – ich wiederhole: alle –, von den Kommunen bis zur Vereinigung der hessischen Unternehmerverbände, gesagt haben, wir haben eine gute Regelung?

Ich frage Sie: Wer oder was hat Sie dazu gezwungen, die Aussetzung der Verbesserung des Betreuungsschlüssels in Kindertagesstätten auf Seite 3 einer Presseerklärung zu verstecken, statt hier eine Debatte über diese Frage zu führen? Wir sind auch zu konstruktiven Diskussionen über Kommunen und deren Belastungen bereit, wir sind zu konstruktiven Diskussionen über den Erziehernotstand bereit. Wer oder was zwingt Sie, so etwas klammheimlich einzukassieren, ohne jede öffentliche Debatte?

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der Abg. Petra Fuhrmann (SPD))

Ich frage Sie, und ich frage auch die Vertreter des Wirtschaftsministeriums sehr ernsthaft: In Zeiten wie diesen, wie immer so schön gesagt wird, haben wir eine Rekordverschuldung. Wir haben im Laufe dieses ersten Halbjahres Geld ausgegeben wie noch nie in der Geschichte des Landes Hessen. Warum muss man in Zeiten wie diesen, wo jeder, der papp sagt, noch Geld bekommt und das Ganze keynesianisch begründet wird, aus ideologischen Gründen die Entwicklungszusammenarbeit des Landes Hessen um 50.000 € kürzen?

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)

Erklären Sie es einmal. Es ist die alte Haltung: Wer nicht zu unseren Unterstützerinnen und Unterstützern gehört, wer nicht automatisch als zugehörig empfunden wird, ist auf der anderen Seite, ist sozusagen der Feind, mit dem man nichts mehr zu tun haben will und den man im Zweifel auch rasieren kann.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich stelle Ihnen die Frage: Die Geschäftsordnungsdebatte, die wir gerade hatten, war sozusagen die Bestätigung dieses Tagesordnungspunktes. Wir haben im letzten Jahr interfraktionell eine Debatte über eine Internationale Bauausstellung angefangen, jenseits aller Parteigrenzen, auch jenseits der Zuständigkeiten. Wir haben die Kommunen eingebunden, wir haben eine Lenkungsgruppe eingerichtet, wir haben Ergebnisse vorgestellt. Was, um Gottes willen, zwingt Sie dazu, morgens in den Fraktionssitzungen der Koalitionsfraktionen das Ding zu killen – anders kann man es nicht ausdrücken –, das direkt in den Ausschuss zu geben und dann noch nicht einmal die Traute zu haben, tagsüber im Hessischen Landtag darüber zu diskutieren?

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD; Zuruf des Abg. Florian Rentsch (FDP))

Ich frage Sie: Wer oder was außer ideologischer Rechthaberei zwingt Sie dazu, eine gut funktionierende Härtefallkommission, in der die Zivilgesellschaft eingebunden ist und die sich in keinem Fall so verhalten hat, dass jetzt völlig absurde Sachen beschlossen würden, vor den Kopf zu stoßen und dieses Gesetz wieder zu ändern?

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)

Ich frage auch die Mehrheitsfraktionen – Stichwort: ideologische Prinzipienreiterei –, warum sie noch nicht einmal die Fähigkeit besitzen, einen gemeinsamen Antrag zur besseren Unterstützung für Opfer der SED-Diktatur gemeinsam mit uns zu beschließen, nur weil die Linkspartei aus Versehen irgendwie auch dieser Auffassung ist.

(Zuruf der Abg. Janine Wissler (DIE LINKE))

– Nicht aus Versehen, bitte sehr. – Es ist doch eine absurde Geschichte, dass wir es nicht mehr schaffen, in einem Punkt, wo sich alle einig sind, hier gemeinsame Anträge einzubringen. Das kann doch nicht wahr sein.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)

Immer mehr Menschen haben das satt.

(Zurufe der Abg. Florian Rentsch (FDP) und Axel Wintermeyer (CDU))

– Sagen Sie nicht „Na ja“, Herr Rentsch.

(Zurufe der Abg. Axel Wintermeyer (CDU) und Florian Rentsch (FDP))

Immer mehr Menschen haben das satt. Ich verstehe das auch nicht aus Eigeninteresse der CDU. Ich nenne Ihnen einmal die absoluten Stimmen. Landtagswahl 2003: CDU 1.333.000. Landtagswahl 2008: CDU 1.010.000. Landtagswahl 2009: CDU 964.000. Bei Wahlen geht es manchmal hoch und manchmal herunter. Aber eine solche Linie lügt nicht.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie müssten doch selbst merken, dass das nicht mehr ankommt. Aus eigenem Interesse müssten Sie das doch merken.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das Land hat nichts davon. Die politische Kultur dieses Landes hat nichts davon. Die Menschen dieses Landes haben nichts davon.

Ich sage Ihnen ausdrücklich: Wir haben Ihnen am Anfang der Wahlperiode gesagt, wir würden nicht mehr automatisch alles für schlecht halten, was von der Regierung kommt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das hat aber ein Gegenstück. Das Gegenstück umfasst, dass Sie sich auch einmal die Mühe machen müssen, sich zu überlegen, ob die Mitglieder der Opposition in bestimmten Punkten nicht Recht haben könnten. Das ist das Gegenstück dazu.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der Abg. Petra Fuhrmann (SPD))

Ich sage Ihnen ausdrücklich: Gerade angesichts der Entwicklung der Wahlbeteiligung, gerade angesichts der Fragen: „Wie steht das politische System insgesamt und wie stehen die Parlamente in den Augen der Bürgerinnen und Bürger da?“, angesichts der Notwendigkeit, sachliche Entscheidungen bei den Dingen, die wir vor uns haben, zu treffen – wir sehen das an unglaublich vielen Punkten –, bin ich felsenfest davon überzeugt, dass es den Wunsch den Bürgerinnen und Bürger gibt, dass das sachlich Notwendige vor die Ideologie gestellt wird. Dazu gehört dann eben auch, dass man das sachlich Notwendige vor die innerparteiliche Geschlossenheit um jeden Preis stellt. Deswegen will ich, dass diese Regierung und diese Mehrheit einmal die Kraft hat, sich mit den Ideologen in ihren eigenen Reihen um der Sache Willen anzulegen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der Abg. Petra Fuhrmann (SPD))

Wir haben in dem ersten halben Jahr in diesem Landtag hinsichtlich der politischen Kultur dieses Landes wirklich nicht das beste Bild abgegeben.

Ich will Ihnen noch etwas ausdrücklich sagen. Wir gehen jetzt in die Sommerpause. Sie sollten diese Sommerpause einmal – wir würden Sie das sagen? – zur Einkehr nutzen.

(Zuruf des Abg. Axel Wintermeyer (CDU))

Wir müssen uns überlegen, ob wir alle miteinander nach der Sommerpause nicht die Kraft finden, in diesem Landtag einen Neustart im Sinne der Menschen, im Sinne der politischen Kultur und im Sinne der Sache vorzunehmen. – Vielen herzlichen Dank.

(Lang anhaltender Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Beifall der Abg. Petra Fuhrmann (SPD) und Willi van Ooyen (DIE LINKE))

Vizepräsident Lothar Quanz:

Herr Al-Wazir, vielen Dank.

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