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15.12.2015

Sigrid Erfurth: Regierungserklärung des Hessischen Ministerpräsidenten betreffend „Ländereinigung zur Neuregelung des Länderfinanzausgleichs – großer Erfolg für Hessen und für Deutschland“

Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren! Man könnte das zu Ende gehende Jahr 2015 als ein Jahr der Kompromisse bei den föderalen Finanzbeziehungen bezeichnen. Besonders in den letzten Monaten hatten wir mehrere Kompromisse, mit denen sich die föderalen Finanzbeziehungen verändern. Denken Sie an den Flüchtlingsgipfel im September 2015. Sie kennen das Ergebnis. Da haben sich Bund, Länder und Kommunen insgesamt in der Verantwortung befunden, um die Flüchtlingsfrage zu klären.
Er endete mit der Zusage des Bundes, ab 2016 eine Pauschale von 670 Euro pro Flüchtling und Monat an die Länder und außerdem 350 Million Euro für unbegleitete minderjährige Ausländer zu zahlen. Im sozialen Wohnungsbau beteiligt sich der Bund mit 500 Millionen Euro. Die vom Bund ursprünglich vorgesehenen Mittel für das Betreuungsgeld gehen ebenfalls an die Länder: 2016 sind das 310 Millionen Euro, 2017 und 2018 fast 1 Milliarde Euro. Bund und Länder haben sich schließlich darauf verständigt, die Regionalisierungsmittel für den ÖPNV im Jahr 2016 auf 8 Milliarden Euro aufzustocken und die Dynamisierung von bisher 1,5 Prozent auf 1,8 Prozent anzuheben.
Das ist eine Neuaufstellung der föderalen Finanzbeziehungen und jetzt – kurz vor Weihnachten oder kurz vor Jahresende – kommt noch etwas hinzu, womit wohl kaum jemand gerechnet hätte: Die Ministerpräsidentinnen und -präsidenten der Länder einigen sich auf ein Modell zur Neuordnung des Länderfinanzausgleichs ab dem Jahr 2020.
Herr Ministerpräsident, ich kann nur sagen: Das hat mit Recht die Bezeichnung „historisch“ verdient. Ich kann Ihnen nur zustimmen: Das war eine reife Leistung. Herr Bouffier, Sie haben unser Bundesland in diesem Konzert sehr gut vertreten.
(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der CDU)
Man könnte meinen, dass eine so große Herausforderung von außen wie die Flüchtlingskrise im Inneren nicht zu Streit und Missgunst geführt, sondern die Kompromissbereitschaft und die Bereitschaft zum Ausgleich und den Willen zur Verständigung erhöht hat.
Meine Damen und Herren, das Kernproblem des Länderfinanzausgleichs liegt aus Sicht der GRÜNEN nicht in der Idee, dass unterschiedliche Bundesländer auf eine vergleichbare finanzielle Basis gestellt werden müssen. Nein, wir haben uns immer zur solidarischen Verantwortung unter den Ländern bekannt. Das bisherige System – wir haben es oft genug in diesem Hause diskutiert – war intransparent und setzt Fehlanreize, die die eigenen Anstrengungen der Bundesländer schmälern, ihre Finanzkraft zu verbessern. Nach den geltenden Regeln – wir haben es hier oft diskutiert – gibt es zu geringe Anreize für steuerschwache Bundesländer, ihre Haushaltssituation aus eigener Kraft zu verbessern. Auf der anderen Seite ist auch kritisch anzumerken, dass den steuerstarken Bundesländern viel zu wenig von ihren zusätzlichen Steuereinnahmen verbleibt. Hinzu kommt: Der Länderfinanzausgleich ist derartig komplex und intransparent, dass er – wenn überhaupt – nur noch von ganz wenigen Experten durchschaut wird.
Deshalb haben wir uns als GRÜNE schon zu Oppositionszeiten sehr intensiv mit der Neuregelung des Länderfinanzausgleichs beschäftigt. Wir haben uns auch – anders als die Kollegen der SPD – für eine fachlich fundierte Klage gegen den Länderfinanzausgleich ausgesprochen. Eine Klage – ja, Norbert Schmitt, es war so –, deren Ziel ein Länderfinanzausgleich ist, der die grundgesetzlichen Vorgaben, die Finanzkraft unter den Ländern auszugleichen, erfüllt und gleichzeitig die vorhandenen Missstände beseitigt, die wir hier immer wieder gemeinsam beschrieben haben. Auch wir haben die Klage als letztes Mittel angesehen, wenn sich die Länder nicht einigen können. Es schien durchaus so, dass die Einigungsbereitschaft und der Einigungswille nicht besonders hoch ausgeprägt waren. Ich glaube, das gilt auch innerhalb der Parteien. Ich jedenfalls habe mit meinen grünen Parteifreundinnen und -freunden in anderen Bundesländern und auch auf Bundesebene trefflich darüber gestritten, wie der Länderfinanzausgleich künftig aussehen könnte.
Wir haben immer gesagt: Das Bundesverfassungsgericht wird der Politik die Arbeit nicht abnehmen. Auch das Bundesverfassungsgericht würde nur Leitplanken benennen, und hinterher müssten die Ministerpräsidenten und -präsidentinnen wieder zusammensitzen und entlang dieser Leitplanken verhandeln. Jetzt waren sie ein bisschen schneller – das ist auch gut und richtig so. Aber ich bin auch weiterhin der Auffassung, dass man die Klage jetzt nicht zurückzunehmen sollte. Man sollte zunächst abwarten, was später von all den gesetzlichen Regelungen, die der Ministerpräsident beschrieben hat, noch im Gesetz steht und wie die Verfassungsänderung gestaltet wird. Wenn wir all das hinter uns haben, können wir die Klage zurückziehen. Das hat eine gewisse Logik.
(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und Abgeordneten der CDU – Zuruf des Abg. Thorsten Schäfer-Gümbel (SPD))
Wir GRÜNEN hatten bereits 2011 einen Vorschlag ausgearbeitet und unterbreitet. Der Kern unseres Vorschlags war die Neuverteilung der Umsatzsteuer nach Bedarfskriterien. Auch wir wollten den bisherigen horizontalen Finanzausgleich abschaffen. Der Vorschlag der Ministerpräsidentinnen und -präsidenten folgt auf den ersten Blick einer ähnlichen Logik und Grundidee.
(Zuruf des Abg. Thorsten Schäfer-Gümbel (SPD))
Allerdings muss man wohl noch genauer hinschauen, wie sich die einzelnen Änderungen auswirken. Wir haben davon gesprochen, dass der Umsatzsteuervorwegausgleich wegfällt, weil es ein besonderes Bedürfnis eines Bundeslandes gab, diesen wegfallen zu lassen. Das Umsatzsteueraufkommen verteilt sich jetzt in der sogenannten ersten Stufe zugunsten der finanzschwachen Länder. Obwohl in dieser ersten Stufe sehr viel mehr Geld als in der zweiten Stufe bewegt wird und die erste Stufe aufgrund ihres Geldvolumens sehr viel bedeutender ist, hat fast niemand über sie gesprochen. Fast alle haben sich über die zweite Stufe, den sogenannten engeren Länderfinanzausgleich, unterhalten, weil in diesem Bereich die direkten Zahlungen von den Geberländern an die Nehmerländer in den einzelnen Länderhaushalten nachvollziehbar waren. Dieser Austausch und diese Struktur waren schon immer Gegentand politischer Debatten. Das haben wir auch hier im Landtag ausgefochten, und es war immer ein treffliches Feld besonderer Polemik im Hessischen Landtag.
Diese isoliert geführte Debatte ist aber vordergründig, weil sie nicht das gesamte Problemfeld der Finanzverteilung in den Blick nimmt, sondern die föderalen Finanzbeziehungen insgesamt ausblendet. Durch die Reform, über die wir heute sprechen, werden beide Stufen, nämlich der Umsatzsteuervorwegausgleich und die direkten Zahlungen, zusammengeführt. Wir haben nur noch eine Stufe in der Umsatzsteuerverteilung und dadurch den Vorteil, dass ein intransparentes Element wegfällt und dass wir in der Umsatzsteuerverteilung über Zu- und Abschläge regeln, wie sich die Finanzkraft der einzelnen Länder einander angleicht. Damit haben wir weiterhin eine grundsätzliche Mechanik im solidarischen Ausgleich. In diesem Länderfinanzausgleich ist es wohl das wichtigste Element, dass die grundsätzliche Solidarität nicht in Frage gestellt wird.
(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und Abgeordneten der CDU)
Der Ministerpräsident hat es betont: Hessen steht zu seiner Verantwortung, sich gegenüber finanzschwachen Ländern solidarisch zu verhalten. Das ist eine gute Grundidee. Der Föderalismus in der Bundesrepublik Deutschland ist durch den solidarischen Ausgleich untereinander geprägt. Ohne einen solchen Ausgleich wären einzelne Länder nicht lebensfähig. Das gilt insbesondere für die Länder im Osten. Herr Ministerpräsident, Sie haben es dargestellt.
Wenn die Reform so verwirklicht wird, werden wir in Zukunft keine Ausgleichsbeträge mehr von Geberländern an Nehmerländer haben. Es wird in den Haushalten der Länder nicht mehr direkt ablesbar sein, was einzelne Bundesländer an andere zahlen.
Manche sagen jetzt: Damit kündigt Ihr die Solidarität auf. Ich sage: Nein, das tun wir nicht. Denn wir haben durch die Mechanismen im Umsatzsteuerausgleich eingebaute Stellschrauben, die dafür sorgen, dass die finanzschwachen Länder weiterhin gestützt werden und dass auf gar keinen Fall die Solidarität untergraben wird.
Ich komme zu dem Punkt linearer Ausgleichstarif versus Einbeziehung der kommunalen Finanzkraft. Das war ein Teil der Klage, die Schwarz-Gelb damals auf den Weg gebracht hat. Es war nicht unsere Klage. Wir haben uns auch die Frage gestellt, ob die Klage an diesem Punkt Erfolg haben wird. Das werden wir nicht zu bewerten haben. Das wird das Bundesverfassungsgericht zu bewerten haben.
Was wir aber sehen müssen, ist: Wo ist die Stellschraube, die es für Hessen ermöglicht, mehr von den Steuermehreinnahmen zu behalten, mehr von der Finanzkraft? Was macht es möglich, am langen Ende diesem Kompromiss zuzustimmen? Es ist das Wesen eines Kompromisses, dass sich alle bewegen.
Ich glaube, hier wurde die richtige Stellschraube gefunden. Das ist nämlich der Bereich, in dem die Zu- und Abschläge an einem Tarif von 63 Prozent gemessen werden. Das nützt uns als steuerstarkem Land, weil wir dann nicht mehr so viele Steuereinnahmen an andere Länder mit verteilen. Das ist der Punkt, an dem wir sagen, da werden Fehlanreize beseitigt, und dann nützt es allen Ländern, sich um Steuermehreinnahmen zu bemühen. Dagegen steht – und das hat Herr Schäfer-Gümbel zu Recht gesagt –, dass die kommunale Finanzkraft künftig stärker einbezogen wird. Ja, das ist so. Aber das ist auch nicht der Richterspruch über eine vorliegende Klage, sondern das ist das Ergebnis einer langen und aufwendigen Verhandlung, die mit dem Ziel – –
(Zuruf des Abg. Norbert Schmitt (SPD))
– Herr Schmitt, das sehe ich nicht als widersprüchlich an. Hier war der Ausgangspunkt ein ganz anderer. Da haben 16 Ministerpräsidentinnen und -präsidenten zusammengesessen, um zu überlegen: Wo können wir uns einigen? Es ist gerade das Wesen des Kompromisses, dass man sich nicht an einer Stelle festbeißt, sondern zu Punkten kommt, an denen man sich tatsächlich einigen kann.
(Zuruf des Abg. Norbert Schmitt (SPD))
Das ist hier erfolgt. Insgesamt können wir einen Strich darunter ziehen und sagen: Das Ausgleichssystem bleibt solidarisch, und gleichzeitig werden Anreize für verantwortungsvolles und eigenverantwortliches Handeln in den Ländern gestärkt.
(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der CDU)
Es gibt weiterhin zahlreiche Sonderregelungen, zusätzlich zum Umsatzsteuerausgleich. Sie haben es in dem Papier gelesen. Künftig wird es allgemeine Bundesergänzungszuweisungen zugunsten der Ostländer, aber auch zugunsten finanzschwächerer westdeutscher Länder geben. Es wird Sonderbedarfsergänzungszuweisungen für teilungsbedingte Sonderlasten geben, und es wird neue Bundesergänzungszuweisungen geben, die dem Einigungswillen und gewissermaßen dem Einigungszwang geschuldet waren, wie z. B. die Bundeszuweisung für Forschungsförderung.
Ja, insgesamt kann man sagen, man könnte vielleicht noch ein wissenschaftlicheres, gerechteres, fundierteres System haben wollen. Auch wir sind einmal damit gestartet. Wir haben uns sehr intensiv mit dem Länderfinanzausgleich beschäftigt und gefragt: Was sind objektive Kriterien, anhand deren man den Länderfinanzausgleich möglichst gerecht und nachvollziehbar gestalten kann? Wie schafft man das?
Ich kann Ihnen heute sagen: Auch der schönste und abstrakteste Vorschlag, der gerecht und der in der abstrakten Betrachtung gut und richtig erscheint, scheitert dann, wenn andere nicht mitmachen – weil sie subjektiv das Gefühl haben, es werden Gewinner oder Verlierer produziert, und sie fühlen sich ungerecht behandelt. Deshalb muss man auf die Ebene kommen, auf der man untereinander verhandelt und sagt, ja, so kann es funktionieren. Dann muss man eben einige Zu- und Abschläge machen und schauen, damit man gefühlte und berechtigte Sonderinteressen berücksichtigt und dann Sonderregelungen in solche Vereinbarungen aufnimmt.
Das gilt natürlich insbesondere dann, wenn es um Geld geht, wenn 16 Interessen von 16 verschiedenen Ländern aufeinandertreffen, die austariert werden müssen. Das ist ohne Frage ein sehr anstrengendes Geschäft. Ich glaube, es ist hier gut gelungen, sich zu einigen.
(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der CDU)
Meine Damen und Herren, es haben sich 16 Länder geeinigt. Jetzt ist der Bund am Zug.
(Zuruf des Abg. Thorsten Schäfer-Gümbel (SPD))
So kann man es auf einen Nenner bringen. Herr Schäfer-Gümbel, Sie haben es gesagt: Schäuble hatte einmal 8,5 Milliarden Euro angeboten. Wir rechnen das jetzt auf das Jahr 2020 hoch, und dann sind wir mit 9,6 Milliarden Euro gar nicht so weit davon entfernt.
Wir tun gut daran, das Zeitfenster, das jetzt zwischen den Wahlen liegt, die wir alle im Kopf haben, zu nutzen, um mit dieser Vereinbarung, die von allen Landesregierungen getragen wird, auch den Bund zu überzeugen, dabei mitzumachen. Da kann ich nur an alle Fraktionen appellieren, die Einfluss in Berlin haben: Arbeiten Sie mit daran, dass wir Schäuble überzeugen. Dem Ministerpräsidenten kann ich nur viel Erfolg für die Fortsetzung der Gespräche wünschen, die Sie wohl gestern schon begonnen haben, damit wir uns hier wiedersehen und sagen können: Jawohl, der Bund hat jetzt eingewilligt. – Ich bin gespannt darauf, und ich freue mich auf diesen Tag.
(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der CDU sowie des Abg. Thorsten Schäfer-Gümbel (SPD))

Vizepräsident Wolfgang Greilich:

Vielen Dank, Frau Kollegin Erfurth.