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06.10.2009

Mürvet Öztürk zur Einsetzung einer Enquete-Kommission "Migration und Integration in Hessen"

Meine sehr verehrten Damen und Herren, sehr verehrter Herr Präsident! Wenn Sie erlauben, will ich diesen Schluck trinken. Das ist kein Prost; denn heute reden wir gerade über die Einsetzung der Enquetekommission – daran möchte ich erinnern –, noch nicht über den Schluss der Enquetekommission, wo die Ergebnisse schon vorliegen und wo wir sagen können, die Arbeit ist getan. Im Gegenteil, sie liegt vor uns. Von daher wünsche ich dieser Kommission, die noch zusammentreten wird, erst einmal ein gutes Gelingen. Der erste Schritt scheint heute getan zu sein.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)

Meine Damen und Herren, ich möchte den heutigen Beschluss eher zum Anlass nehmen, grundsätzlich über die Integrationspolitik zu sprechen. Viele Daten sind schon genannt worden, viele Hinweise sind schon gegeben worden. Aber ich glaube, dass wir noch einmal zurückblicken sollten, warum das Thema Integration grundsätzlich wichtig ist.

Für uns GRÜNE ist es schon seit Jahren wichtig. Wir haben dieses Thema von vornherein mit Herzblut betrieben, mit starkem Engagement auch die Handlungsdefizite aufgezeigt und gesagt, wo wir ganz konkret Dinge verändern müssen. Integration ist für uns Teilhabe. Sie bedeutet die Teilhabe an dieser Gesellschaft und die Teilhabe an dieser Politik. Nicht mehr und nicht weniger möchte ich hier festhalten.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Willi van Ooyen (DIE LINKE))

Die Integration ist eine Querschnittsaufgabe; da sind wir uns immer mehr einig. Wenn wir heute ein Integrationsministerium haben, heißt das noch gar nichts. Ein Integrationsministerium allein wird die Leistung nicht bringen können, die wir bei diesem Thema seit Jahren versäumt haben. Erfolgreiche Integration kann nur erreicht werden, wenn sich alle Ressorts den Hut aufziehen und sagen: Wir werden das Ganze einmal – so, wie wir früher durchgegendert haben – durchdiversivizieren, und wir werden überall schauen, wo Vielfalt vorhanden ist und wo es anerkannt werden muss. Nur wenn alle Menschen in diesem Saal – heute fehlen viele – und alle einzelnen Personen im Land Hessen das Thema Integration als ihre eigene Verantwortung übernehmen und sagen: „Ja, ich will mich in diesem Bereich engagieren“, kann es erfolgreich umgesetzt werden.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es ist der Weg von einem Ihr zum Wir. Bisher diskutieren wir zu sehr über Unterschiede, über jene und uns. Es ist immer noch nicht so weit, dass wir sagen können, wir gehören alle zusammen, und wir müssen gemeinsam anpacken. Ich hoffe, dass in der Enquetekommission auch diese Thematik ein wenig erörtert werden wird. Darauf bin ich sehr gespannt.

Ich freue mich natürlich, dass wir einen interfraktionellen Antrag haben. Eine Fraktion fehlt, darüber haben wir heute schon geredet. Die Fraktion DIE LINKE hat von vornherein mitgewirkt und mit verhandelt. Von daher werden wir auch ihren Antrag unterstützen, denn er ist wortgleich 1 : 1 übernommen worden. Wir wollen jetzt das erste Mal bei diesem Thema konsensual weiterkommen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN)

Meine Damen und Herren, wie haben wir in dem Beschlusstext zur Enquetekommission Integration definiert? Wir haben gesagt:

Integration ist ein auf Wechselseitigkeit beruhender gesamtgesellschaftlicher Prozess und gleichzeitig eine kontinuierlich zu gestaltende politische Schlüsselaufgabe.

Das bedeutet umgekehrt, dass Integration, wenn sie erfolgreich umgesetzt werden soll, von uns allen als Verantwortungsbereich angenommen wird. Es bedeutet aber auch – darauf bestehe ich, Herr Merz; das haben Sie in Ihrem Vortrag selbst eingeräumt –, dass wir in den Bereichen, wo wir keine Erkenntnisdefizite haben, nicht weiter abwarten sollten, bis 2011 das Ergebnis vorliegt.

Nein, da wo gehandelt werden muss, müssen wir schon jetzt handeln, muss die Landesregierung schon jetzt handeln.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

Ein Aufschieben und ein „Nicht heute, sondern morgen“, können wir uns nicht leisten. Es ist schon erwähnt worden: Demografischer Wandel ist ein Thema. Fachkräftemangel ist ein Thema. Natürlich schaue ich mir mit Skepsis an, was mit den Ergebnissen der letzten Enquetekommission Demografie und Wandel passiert ist. Sie sind schön abgedruckt, liegen im Regal. Ich weiß nicht, ob sie umgesetzt sind.

(Zuruf der Abg. Kordula Schulz-Asche (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Ich würde mir wünschen, dass wir in der jetzigen Kommission – da war auch Konsens vorhanden; ich bedanke mich bei den anderen Fraktionen –, auf diesen Ergebnissen aufbauen und uns dann besondere Felder genauer anschauen werden, wo wir konkrete Analysen brauchen.

Wir brauchen sie nicht überall. Wir müssen das Rad nicht neu erfinden. Wenn wir beispielsweise darüber reden, dass Hessen ein Integrationsland erster Klasse ist, dann möchte ich darauf hinweisen, dass dieser Erfolg teilweise auch darauf zurückgeht, dass es im Rhein-Main-Gebiet, in der Stadt Frankfurt seit 20 Jahren ein Amt für multikulturelle Angelegenheiten gibt, wo vor 20 Jahren Daniel Cohn-Bendit gesessen hat.

(Zuruf des Abg. Axel Wintermeyer (CDU))

Was will ich damit sagen? – Wir haben auf kommunaler Ebene schon viele Erkenntnisse gewonnen. Wir wissen, dass, wenn wir Menschen mit oder ohne Migrationshintergrund in dieser Gesellschaft fit machen wollen, damit sie ihre Bildungsabschlüsse, ihre Ausbildung schaffen, damit sie auf Augenhöhe teilhaben können, wir in den Kommunen an- und umsetzen müssen. Ich glaube, dabei wird die Landesregierung nicht allein aktiv sein können. Wir als Opposition werden in der Enquetekommission bestimmt noch Handlungsanweisungen formulieren und Ihnen mit auf den Weg geben.

Nächster Punkt. Wir haben in dem Antragstext definiert, dass die Integration auf der Grundlage der Werte des Grundgesetzes ermöglicht werden soll. Ich möchte hinzufügen: auch unter Wahrung unserer Demokratie, im Geiste der Akzeptanz und der kulturellen Vielfalt. – Wenn wir von Wahrung der Demokratie sprechen, ist das auch die politische Teilhabe, das Wahlrecht. Herr Mick hat das kurz angesprochen. Ich glaube, wenn wir uns dem Thema nicht in der Enquetekommission widmen, wo dann? Da ist Mut angesagt. Er ist auch angebracht. Wenn wir da ein, zwei Schritte weiterkommen, wäre ich Ihnen sehr dankbar.

Wir leben in einer Gesellschaft, in der wir Extremismus nicht haben wollen, egal welcher Art. Es ist uns wichtig, dass wir gegen Fremdenfeindlichkeit arbeiten, gegen Antisemitismus, aber auch gegen Homophobie. Wenn wir über Integration sprechen, kann man zu dem Thema viele Punkte einsortieren. Wichtig ist aber, dass wir einen gemeinsamen Konsens haben, dass wir eine Willkommenskultur brauchen. Wir müssen aber auch die Ängste, die in den Köpfen der Leute vorhanden sind, abbauen. Denn Integration muss auch in den Köpfen und in den Herzen der Menschen stattfinden. Dafür wird es einen langen Prozess brauchen. Es braucht aber auch ein entschlossenes gemeinsames Wirken.

Nächster Punkt ist die Sprachvermittlung. Darüber haben wir kurz gesprochen. Es gibt zahlreiche Bereiche, wie die Sprachvermittlung, die Aus- und Weiterbildung, zu denen es schon Projekte gibt, wozu es auch viele Ansätze gibt. Es wird aber auch Zeit, dass wir uns hinsetzen und überlegen: Warum kommen diese Projekte nicht an? Sind sie zielgruppenorientiert, ja oder nein? Wie kann es passieren, dass in Hessen beispielsweise Menschen mit akademischen Abschlüssen Taxifahrer sind? Wie kann es sein, dass in Hessen z. B. Menschen, die eine Ausbildung haben, die sich bei der Bundesagentur für Arbeit bewerben, als Regaleinräumer weitervermittelt werden? Die Strukturen in den öffentlichen Einrichtungen müssen nachgebessert werden. Ich glaube, da brauchen wir mutige Ziele.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich würde mir mutige Ziele wünschen, indem wir uns gemeinsam in der Enquetekommission z. B. darauf einigen und sagen: Im Jahre 2020 möchten wir die Anzahl der Personen, die aus sogenannten bildungsfernen Familien sind, aber akademische Abschlüsse haben, um mindestens die Hälfte erhöhen. – Ich würde mir wünschen, dass wir sagen: Menschen in der dritten, vierten Migrationsgeneration sollen ihre Bildungsabschlüsse erhöhen und verbessern können.

Wenn wir im Jahre 2020 noch einmal einen Strich unter die Erkenntnisse ziehen und sagen würden, wie vieles wir davon umgesetzt haben, dann wäre das eine konkrete Politik, in der wir uns an unseren Handlungen messen. Ich habe die Sorge, dass wir sonst bis zum Jahre 2011 vor uns her debattieren und analysieren, aber nicht umsetzen werden. Das soll nicht so sein.

Es ist wichtig, dass die Landesregierung parallel dazu in den Bereichen, wo es z. B. um die Durchlässigkeit in der Bildung geht, wo es beispielsweise um interkulturelle Kompetenzen in den Ministerien, um die Förderung der Mehrsprachigkeit, um Religionsunterricht geht, dass in den Bereichen, wo quasi die Handlungsfelder klar sind, die Regierung handelt und nicht auf die Ergebnisse der Enquetekommission wartet.

Ich freue mich auf die erste Sitzung. Ich glaube, dass wir schon zwischendrin Ergebnisse liefern müssen. Es ist eine Herausforderung für uns alle.

Meine Damen und Herren, wie gesagt, mein Plädoyer ist: Nur wenn die Integration in den Köpfen und in den Herzen stattfindet und Sie, jede einzelne Person in diesem Raum, sich dafür einsetzen, nur dann kann es gelingen. Sonst haben wir wieder einen Analysetext und eine Bewertung, aber leider keine Ergebnisse. Das soll nicht sein. – Herzlichen Dank.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der LINKEN)