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22.09.2015
Portraitfoto von Mathias Wagner vor grauem Hintergrund.

Mathias Wagner: Regierungserklärung

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Die Flüchtlingskrise ist eine Herausforderung für Deutschland, ist eine Herausforderung für Hessen. Aber sie ist vor allem – das sollten wir nicht aus dem Blick verlieren – eine Herausforderung für die Flüchtlinge, die ihre Länder verlassen müssen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der CDU)

Deshalb möchte ich zu Beginn meiner Rede die Frage stellen, wie die Situation in den Ländern ist, aus denen die Menschen fliehen. Wovor fliehen die Menschen?

Schauen wir nach Syrien. Was im Jahre 2011 hoffnungsvoll als arabischer Frühling begann, wurde brutal niedergeschlagen. Es gab in Syrien Massenexekutionen. Es wird davon ausgegangen, dass in Syrien Giftgas zum Einsatz kommt. Hier hält sich ein barbarisches Regime im Kampf gegen die eigene Bevölkerung an der Macht.

Das ist die Situation, vor der mittlerweile 11 Millionen Menschen – 11 Millionen Menschen –, die Hälfte der Bevölkerung Syriens, auf der Flucht sind. 7 Millionen davon sind es innerhalb ihres Landes. 4 Millionen haben das Land verlassen, weil sie vor diesen barbarischen Zuständen, vor dem Terror des IS und vor dem eigenen Regime fliehen. Wir sollten uns immer vergegenwärtigen, über welche Schicksale wir angesichts dieser Situation reden.

(Zustimmung bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der CDU)

Es kommen viele Menschen aus dem Irak zu uns. Das ist ein Land, das faktisch keine staatliche Ordnung mehr hat. Es ist ein Land, in dem Rebellen gegeneinander kämpfen. Das ist ein Land, in dem auch die Terrorgruppe IS aktiv ist. Es ist ein Land, in dem seit dem Ende des letzten Irak-Krieges Hunderttausende Zivilisten ermordet wurden. Auch hier gab es Massenexekutionen, Vergewaltigungen, ethnische Säuberungen und brutales Vorgehen gegen die Jesiden. 4 Millionen Menschen sind im Irak auf der Flucht vor diesen Zuständen.

Schauen wir nach Afghanistan. Auch Afghanistan ist alles andere als ein stabiler Staat. Da gibt es alles andere als eine Situation, in der die Dinge geregelt werden. Auch hier wird die staatliche Ordnung vielfach nicht akzeptiert und infrage gestellt. Es gibt gewaltsame Konflikte zwischen den Taliban, der Regierung und regierungsfeindlichen Gruppen. 3,7 Millionen Menschen sind vor diesen Zuständen auf der Flucht.

In Eritrea geht ein totalitäres Militärregime gegen die eigene Bevölkerung vor. Dort sind willkürliche Verhaftungen an der Tagesordnung. Jede Bürgerin und jeder Bürger kann dort völlig willkürlich von der Straße weg zu Arbeits- und Militärdiensten auf unbestimmte Zeit eingezogen werden. 400.000 Menschen sind dort auf der Flucht.

Wenn wir uns vergegenwärtigen, wie die Situation in diesen Ländern ist, dann verstehen wir, dass diese Menschen auf der Flucht sind. Daraus erwächst eine Verantwortung. Denn das Maß unserer Hilfsbereitschaft sollte das Leid und das Elend der Flüchtlinge sein.

(Zustimmung bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der CDU sowie des Abg. Gerhard Merz (SPD))

Ja, wir stehen vor großen Herausforderungen in Deutschland, in Europa und in Hessen. Ja, es wird uns sehr viel abverlangen, diesen Herausforderungen gerecht zu werden. Aber wir können das packen, wir wollen das packen, und wir müssen das packen. Denn die Anstrengungen, die wir als wohlhabendes Land auf uns nehmen, sind ungleich geringer als das Leid und das Elend, vor dem die Menschen flüchten.

(Zustimmung bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der CDU)

Wenn wir sehen, welche Hilfsbereitschaft es in unserem Land in diesen Tagen gibt, dann merken wir, dass viele Menschen genau diese Zusammenhänge kennen. Sie wissen um die Verantwortung. Sie engagieren sich in wirklich vorbildlicher Weise.

Die Aufgabe der Politik wird es sein, diese Hilfsbereitschaft dauerhaft zu erhalten. Auf diese Hilfsbereitschaft muss aufgebaut werden. Diese Hilfsbereitschaft muss ernst genommen werden. Die Politik muss alles tun, was wir tun können, um diese Hilfsbereitschaft zu unterstützen. Denn es wäre wirklich fatal, wenn wir eine hilfsbereite Bevölkerung hätten und die Antwort der Politik wäre der übliche Parteienstreit. Ich werde später darauf noch zurückkommen.

(Zustimmung bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der CDU)

Zur Wahrheit in dieser Debatte gehört auch, dass all die Probleme, wegen der die Menschen fliehen, nicht neu sind. Auch, dass Menschen fliehen, ist alles andere als neu. Wir wissen schon lange, dass im Libanon, in der Türkei, in Jordanien und im Irak viele Menschen auf der Flucht sind. Millionen Menschen haben Zuflucht gefunden. Es wird davon ausgegangen, dass es 1,3 Millionen Menschen im Libanon, 2 Millionen Menschen in der Türkei, eine halbe Million Menschen in Jordanien und 2 Millionen Menschen im Irak sind.

Auch an den europäischen Grenzen von Griechenland und Italien ist das Problem schon lange angekommen. Dort ist die Flüchtlingskrise schon lange ein Thema. Deshalb müssen wir uns auch sagen lassen, dass wir zu lange weggeschaut haben und dass die Probleme für uns zu lange zu weit weg waren. Jetzt sind sie im wahrsten Sinne des Wortes vor unserer Haustür angekommen. Auch daraus erwächst eine Verpflichtung.

(Zustimmung bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU und der SPD)

Es erwächst auch eine Verpflichtung für uns, weil die westliche Welt alles andere – wirklich alles andere – als unschuldig an den Zuständen in den Ländern ist, aus denen die Menschen fliehen.

(Zuruf des Abg. Thorsten Schäfer-Gümbel (SPD))

Das große Thema auf diesem Planeten ist die ungleiche Verteilung der Armut und des Reichtums.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD sowie der Abg. Michael Boddenberg und Holger Bellino (CDU))

Diese ungleiche Verteilung hat viel damit zu tun, dass wir in vielen Staaten keine stabile staatliche Ordnung haben. Das hat viel damit zu tun, dass die Menschen in ihrer Heimat keine Zukunft sehen. Das hat viel mit unserer Wirtschaftsweise und damit zu tun, dass einige Länder sehr reich und andere Länder bitter arm sind. Auch da gibt es einen Auftrag, der uns aus dieser Debatte heraus entsteht.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Schauen wir nach Eritrea oder insgesamt nach Afrika. Das ist ein geschundener Kontinent. Es ist ein Kontinent, der immer noch von den Nachwirkungen der Kolonialisierung geprägt ist und von der Ausbeutung, die einzelne Länder diesem Kontinent angetan haben. Auch das gehört zu dieser Debatte. Auch hier tragen wir mit Verantwortung

Wenn wir uns anschauen, wie die Staatengemeinschaft mit Konflikten auf dieser Welt umgeht, dann erkennen wir, dass doch allzu oft nach dem Prinzip gehandelt wurde: Der Feind meines Feindes ist mein Freund. – Alles, was danach kommt, interessiert mich nicht. Die werden unterstützt. Da werden Waffen geliefert.

Dann stellt man fest, dass man die Auswirkungen in diesen Ländern überhaupt nicht im Griff hat. Man destabilisiert diese Länder. Man destabilisiert ganze Regionen. Auch das gehört zu unserer Verantwortung hinsichtlich der Flüchtlingskrise, die wir gerade erleben.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Judith Lannert (CDU) und Janine Wissler (DIE LINKE))

Dazu gehört auch, dass wir über das Thema Waffenexporte reden. Denn noch immer machen viele Länder viel zu gute Geschäfte mit dem Elend und dem Krieg in anderen Ländern.

Wir haben zu spät hingesehen. Wir sind alles andere als unbeteiligt an den Zuständen, vor denen die Menschen fliehen. Deshalb gilt, dass aus dieser Mitverantwortung eine Verpflichtung entsteht, die Flüchtlinge in unserem Land bestmöglich willkommen zu heißen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der CDU sowie des Abg. Willi van Ooyen (DIE LINKE))

Diese Flüchtlingsbewegung ist Teil dessen, was wir Globalisierung nennen. Auch das gehört zur Globalisierung. Globalisierung ist nicht nur der weltweite Markt des Kapitals. Globalisierung ist nicht nur das schicke und bequeme Surfen im World Wide Web vom Wohnzimmer aus. Globalisierung hat vor allem etwas mit den Menschen zu tun. Das erleben wir in diesen Tagen sehr deutlich.

Globalisierung bedeutet, dass die Probleme der Menschen überall auf dieser Welt auch unsere Probleme sind. Globalisierung macht die Welt zum Dorf. Sie holt die Probleme der Welt in jedes Dorf. Das ist es, was geschieht, wenn wir heute Flüchtlinge in unseren Dörfern, Gemeinden, Städten und Landkreisen willkommen heißen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der CDU)

„Global denken, lokal handeln“, dieses Prinzip gewinnt in dieser Krise eine neue Aktualität. Wir müssen zum einen lokal handeln und den Flüchtlingen helfen. Wir müssen aber auch global denken und die Fluchtursachen bekämpfen.

Ich habe einiges schon angefügt. Aber wenn wir global denken, dann gehört in diesen Zusammenhang auch, dass nach wie vor die Art, wie wir wirtschaften, zulasten eines ganzen Teils unseres Planeten geht. Unsere Form zu wirtschaften ist nicht globalisierbar, und zwar weder im ökonomischen noch im ökologischen Sinne.

Dazu gehört, dass die Klimakrise gelöst werden muss. Denn es werden vor allem die Menschen in den armen Ländern sein, die von den Auswirkungen des Klimawandels betroffen sein werden. Sie werden sich dann auch auf die Flucht machen. Auch deshalb müssen wir dieses Thema bearbeiten.

Wir müssen auch darüber nachdenken, wie wir Lebensmittel produzieren und in welchen Ländern das zulasten der Menschen geht. Es geht um unseren Wohlstand und unsere Bequemlichkeit. Auch das werden die Debatten sein, die elementar mit dem Thema zu tun haben, weshalb so viele Menschen zurzeit auf dieser Welt fliehen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Flüchtlingskrise hätte die Stunde der Vereinten Nationen sein müssen – sie war es bislang leider nicht. Herr Schäfer-Gümbel hat es schon angesprochen: Dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen, UNHCR, fehlen die Mittel, die im Libanon und den angrenzenden Krisenstaaten dringend für Flüchtlinge gebraucht werden. Die Mittel pro Flüchtling im Libanon beispielsweise sind sogar zurückgegangen. Die Staatengemeinschaft kann sich bis heute nicht darauf einigen: Wie geht sie mit den Zuständen in Syrien um, was kann eine internationale Strategie in der Syrienfrage sein?

Meine Damen und Herren, jetzt seien wir doch einmal ehrlich. Was für ein gigantischer Unterschied: Wie schnell konnte sich die Staatengemeinschaft darauf einigen, Banken zu retten, und wie schwer tut sie sich damit, Flüchtlinge zu retten?

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Deshalb sollte von diesem Hessischen Landtag auch eine ganz klare Botschaft ausgehen: Menschen sind vor allem anderen systemrelevant, und Menschen muss geholfen werden. So, wie es gelungen ist, ein Rettungspaket für Banken zu schnüren, muss es uns auf der internationalen Ebene gelingen, ein Rettungspaket für Menschen, ein Rettungspaket für Flüchtlinge zu schnüren.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der CDU)

Die Flüchtlingskrise hätte auch die Stunde Europas sein können – auch das war sie bislang leider nicht. Statt mit einem gemeinsamen Vorgehen der Europäischen Union wurde mit einzelstaatlichen Maßnahmen reagiert. Wir sind in diesem Jahr im 25. Jahr der deutschen Einheit – welch ein Glück für unser Land. Wir sind im 26. Jahr, in dem der Eiserne Vorhang, in dem Grenzbarrieren gefallen sind. Was ist das für eine Antwort von Europa, wenn 25 Jahre nach der deutschen Einheit nicht mit Solidarität, nicht mit den Werten von Europa auf die Flüchtlingskrise reagiert wird, sondern mit Stacheldraht und neuen Grenzen?

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der CDU)

Deshalb ist es gut, dass die Innenminister der europäischen Staaten heute verhandeln, heute versuchen, Lösungen zu finden. Denn diese Situation, die Flüchtlingskrise, schreit geradezu nach einer europäischen Lösung, schreit nach einer gemeinsamen Anstrengung der 28 Staaten, und sie schreit auch danach, dass wir das Dublin-Abkommen endlich überwinden;

(Zuruf der Abg. Janine Wissler (DIE LINKE))

denn das Dublin-Abkommen kann in zwei Richtungen nicht funktionieren. Es kann nicht funktionieren, dass wir die Hauptlast für die Flüchtlingskrise in Griechenland, in Spanien, in Malta und in Italien haben und andere Länder daran überhaupt nicht beteiligt sind. Umgekehrt wird es nicht funktionieren, dass allein Deutschland die Probleme der Flüchtlingskrise löst. Deshalb müssen wir das als Chance für eine neue europäische Lösung, für einen neuen europäischen Verteilmechanismus begreifen. Dann könnte aus der Krise auch eine Chance entstehen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der CDU – Zuruf der Abg. Janine Wissler (DIE LINKE))

Wir können partei- und fraktionsübergreifend auch mit etwas Stolz sagen: Im Vergleich zu den Vereinten Nationen, im Vergleich zur Europäischen Union haben wir es in der aktuellen Flüchtlingssituation in Deutschland und in Hessen schon ganz gut gemacht. Deutschland hat sich weit über das hinaus, was Deutschland hätte machen müssen, humanitär gezeigt, hat Flüchtlinge aufgenommen. Hessen nimmt weit mehr Flüchtlinge auf, als wir nach dem Königsteiner Schlüssel aufnehmen müssten. Meine Damen und Herren, wir haben das schon ganz gut gemacht in dieser Flüchtlingskrise.

Hessen handelt. Der Ministerpräsident hat darauf hingewiesen: Wir haben den Landeshaushalt aufgestockt und werden ihn auch weiter aufstocken, um dieser Herausforderung gerecht zu werden. Von 40 Millionen Euro im Jahr 2012 werden wir im nächsten Jahr – im Haushaltsplan stehen schon 680 Millionen Euro – wahrscheinlich bei 1 Milliarde Euro sein. Wir handeln, wir tun etwas, wir wollen dieser Herausforderung gerecht werden. Ja, wir werden in den Haushaltsberatungen, in der zweiten und in der dritten Lesung, auch darüber reden müssen, was das in Euro und in Cent und auch in zusätzlichen Stellen bedeutet. Das ist kein Streit zwischen den Fraktionen im Hessischen Landtag.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der CDU)

Hessen hat gehandelt. Wir haben neue Standorte für Erstaufnahmeeinrichtungen errichtet, 24 Außenstellen, und wir haben jetzt fünf Notunterkünfte. Es ist uns gelungen, dass jeder Mensch, der bei uns Schutz gesucht hat, ein Dach über dem Kopf bekommen hat, dass er etwas zu essen bekommen hat, dass er das Nötigste bekommen hat. Das war ein riesiger Kraftakt. Allen, wirklich allen, Hauptamtlichen wie Ehrenamtlichen, die diesen riesigen Kraftakt geschultert haben, ein ganz herzlicher Dank, ich glaube, im Namen des gesamten Hauses.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der CDU sowie bei Abgeordneten der FDP)

In dieser Situation ist Flexibilität notwendig und nicht der Dienstweg. Denn es ist relativ einfach: Die Flüchtlinge kennen nicht den geordneten deutschen Verwaltungsweg, sondern sie kommen einfach. Wir müssen dieser Herausforderung gerecht werden. Ja, dabei werden auch Fehler passieren. Wer behaupten will, er hätte den Masterplan gehabt, wie man 58.000 Menschen unterbringen kann, die wir in diesem Jahr allein in Hessen erwarten, den möchte ich einmal sehen. Es gab keinen Masterplan, und es konnte auch gar keinen Masterplan für diese Herausforderung geben, 58.000 Menschen unterzubringen, sondern es haben alle mit angepackt. Wir versuchen jeden Tag, ein bisschen besser zu werden. Wo Fehler passieren, da arbeiten wir daran, diese Fehler zu korrigieren. Es fehlt nicht an dem politischen Willen, sondern wir packen alle an, um dieses Ziel zu erreichen. Ja, das klare Ziel muss sein, dass wir im Winter keine Unterbringung mehr in Zelten haben. Auch das ist kein Streit in diesem Haus.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der CDU)

Wir haben das Wohnungsbauprogramm noch einmal erweitert, um 230 Millionen Euro, zu den Anstrengungen, die das Land im Wohnungsbau ohnehin unternimmt: 230 Millionen Euro für die Kommunen, damit sie genau diese Unterkünfte für Flüchtlinge bauen können, wenn sie den Kommunen zugewiesen sind, damit wir aus der Unterbringung in Zelten herauskommen können.

Meine Damen und Herren, wenn wir über Bauen reden, muss man sich noch einmal die Anstrengung verdeutlichen: 58.000 Menschen brauchen ein dauerhaftes Dach über dem Kopf. Das ist die Größe einer Stadt wie Rüsselsheim. Viele von uns sind kommunalpolitisch aktiv und wissen, wie lang es dauert, ein kleines Baugebiet mit vielleicht 300 Wohnungen auszuweisen. Damit sind eine normale Verwaltung und der politische Prozess gut und gern zwei Jahre beschäftigt. Jetzt stehen wir vor der Herausforderung, möglichst bis zum Winter 58.000 Plätze zu schaffen, damit wir stationäre Unterkünfte haben. Das zeigt, wie groß die Herausforderung ist. Es zeigt aber auch, was in diesem Bereich schon geleistet wird.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der CDU)

Wir haben die Leistungen für die Kommunen erhöht; das ist schon erwähnt worden. Wir kümmern uns um den besonderen Schutz für Frauen und Mädchen durch gesonderte Unterbringungen. Hier müssen wir noch besser werden, das wissen wir; aber ein Anfang ist gemacht. Wir kümmern uns mit einer Beteiligung an dem Sonderkontingent des Landes Baden-Württemberg darum, dass Flüchtlinge aus Syrien und dem Nordirak, die Opfer von geschlechtsspezifischer oder sexueller Gewalt geworden sind, ein eigenen Status bekommen, eigene Möglichkeiten haben, dass wir ihnen helfen. Auch hier engagieren wir uns weiter über das hinaus, was andere Bundesländer tun.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der CDU)

Meine Damen und Herren, wir kümmern uns um die vielen Kinder, die in unser Land kommen, teilweise unbegleitet, ohne ihre Eltern, in den Clearingstellen in Frankfurt und in Gießen. Wir kümmern uns selbstverständlich auch um die Sprachförderung für diese Kinder. Wir haben die Intensivklassen ausgeweitet. Mit dem InteA-Programm haben wir zum ersten Mal eine systematische Sprachförderung für diese Kinder auch in den beruflichen Schulen. Ja, wir wissen, das wird eine Daueraufgabe sein. Ja, wir wissen, wir müssen diese Programme noch ausweiten; denn es kommen mehr Menschen, und wenn mehr Menschen kommen, braucht es auch eine Anpassung dieser Programme.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der CDU)

Wir sind uns bewusst: Wir haben in unserem Land einiges geschafft. Aber wir haben auch noch viel zu tun, um die Flüchtlinge bestmöglich willkommen zu heißen. Ich habe schon über die festen Unterkünfte anstelle von Zelten, die Ausweitung der Sprachförderung, die Unterbringungssituation von Frauen, aber auch die noch bessere Vernetzung und Unterstützung der ehrenamtlichen Helfer gesprochen. Auch darum wird es gehen: Wenn wir das Engagement der vielen Menschen, die sich jetzt engagieren, erhalten wollen, müssen wir ihnen eine professionelle Struktur an die Seite stellen. Denn auch in dieser Frage gilt: Das Ehrenamt braucht das Hauptamt. Das Ehrenamt ist nicht der Notfallbürge des Hauptamtes. Aber um das Ehrenamt zu koordinieren und um das Engagement der Menschen bestmöglich zum Einsatz zu bringen, brauchen wir auch hier noch bessere Strukturen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der CDU – Vizepräsident Wolfgang Greilich übernimmt den Vorsitz.)

Und dann, wenn wir es geschafft haben, den Menschen ein festes Dach über dem Kopf zu geben, kommt die eigentliche, die jahrelange Herausforderung. Denn dann muss der Willkommenskultur die Integrationskultur folgen. Wir sollten auf keinen Fall den Fehler machen, der in der Bundesrepublik Deutschland in den Fünfziger- und Sechzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts gemacht wurde. Unter der Überschrift „Gastarbeiter“ – wenn auch aus ganz anderen Gründen als heute – sind viele Menschen in unser Land gekommen, und wir haben uns eben nicht darum gekümmert, dass diese Menschen sich auch integrieren können. Wir haben uns nicht hinreichend um die Sprachkenntnisse dieser Menschen gekümmert. Meine Damen und Herren, diesen Fehler sollten wir bei den Flüchtlingen nicht wiederholen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der CDU)

Deshalb geht es um den Zugang zu Sprache, zu den Institutionen unseres Landes und zu Integration und zum Arbeitsmarkt.

Für all diese Herausforderungen werden wir auch die Unterstützung des Bundes brauchen. Genau darüber wird in diesen Tagen verhandelt, und hoffentlich kommen wir am Donnerstagabend zu einem guten Ergebnis; denn wir brauchen die Unterstützung des Bundes. Wir können als Land nicht alles allein schultern. Wir brauchen eine bessere Ausstattung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, damit schnell entschieden wird und wir schnell Klarheit haben.

Meine Damen und Herren, dabei geht es nicht um eine Unterscheidung in gute und schlechte Flüchtlinge, sondern es geht darum, festzustellen, welche Menschen an Leib und Leben bedroht sind und unsere Hilfe brauchen, und welche Menschen aus anderen, wenn auch sehr verständlichen Gründen, in unser Land kommen. Darum geht es, wenn wir über eine bessere Ausstattung und schnellere Entscheidungsverfahren des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge reden.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der CDU)

Wir brauchen eine strukturelle und dauerhafte Beteiligung des Bundes an den Kosten der Flüchtlingsunterbringung. Es ist eigentlich so einfach: Die Antwort des Bundes auf steigende Flüchtlingszahlen können doch nicht allein festgelegte Beträge sein. Das kann nicht funktionieren, und deshalb brauchen wir eine dynamische Anpassung der Leistungen des Bundes an die tatsächlichen Flüchtlingszahlen. Wir werden den Bund bei den Sprach- und Integrationsprogrammen brauchen, die es jetzt schon von Bundesseite gibt, aber eben nicht für Flüchtlinge. Hier werden wir die Öffnung und Unterstützung des Bundes brauchen; auch für einen erleichterten Zugang zum Arbeitsmarkt.

Ein Einwanderungsgesetz wäre die sauberste Lösung. Das fordern wir GRÜNE schon seit Langem. Es wird in dieser Verhandlungsrunde wahrscheinlich nicht gelingen. Aber wir müssen zumindest für die Flüchtlinge einen erleichterten Arbeitsmarktzugang haben. Es ist doch widersinnig, dass wir in vielen Bereichen der Wirtschaft über Fachkräftemangel klagen und das Fachkräftepotenzial der Flüchtlinge nicht nutzen, weil wir bürokratische Hürden haben. Das müssen wir ändern, meine Damen und Herren.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der CDU)

Ich sage auch: In der Bundesdebatte helfen ideologische Debatten und Scheinlösungen wirklich niemandem. Deshalb sind wir sehr froh, dass der erste Referentenentwurf aus dem Bundesinnenministerium zur Verschärfung des Asylrechts mittlerweile schon wieder vom Tisch ist. Aber auch der jetzige Entwurf atmet aus grüner Sicht noch zu sehr den Geist von Sanktion und Repression und zu wenig den Geist davon, wie wir die Länder und Kommunen bestmöglich unterstützen können, um die Herausforderungen zu bewältigen.

Ja, es wird in den Verhandlungen auf Bundesebene auch um die sicheren Herkunftsstaaten gehen. Ja, dazu gibt es unterschiedliche Auffassungen; das ist völlig klar. Aber wenn es um die Sache geht, sollten wir uns auch eines bewusst machen: Die sicheren Herkunftsstaaten lösen kein einziges der realen Probleme, vor denen wir in der aktuellen Situation stehen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU und der LINKEN)

Die sicheren Herkunftsstaaten geben weder eine Antwort auf die Perspektivlosigkeit vieler Menschen auf dem Balkan, noch haben sie bislang den Erweis erbracht, dass sie einen Beitrag dazu geleistet haben, dass tatsächlich weniger Menschen aus dem Balkan zu uns gekommen sind. Deshalb lassen Sie die ideologischen Debatten sein und uns das Verhandlungsergebnis am Donnerstag daran messen, ob es tatsächlich Flüchtlingen hilft.

Lassen Sie uns die Verhandlungen am Donnerstag und das Verhandlungsergebnis auch noch an etwas anderem messen. Das kann man nicht hoch genug schätzen, nämlich ob es gelingt, dass die demokratischen Parteien in diesem wichtigen Thema beieinander bleiben, ob es ihnen gelingt, trotz unterschiedlicher Auffassungen ein gemeinsames Paket zu schnüren. Es wird niemand von dem anderen verlangen, seine Grundüberzeugung aufzugeben – und wir GRÜNE werden unsere Grundüberzeugung auch nicht aufgeben –, aber ein Paket, eine Allparteieneinigung bei dem Thema, wird allen etwas abverlangen. Und dieses Abverlangen ist auch ein Wert.

Meine Damen und Herren, was wäre denn die Alternative? Wenn am Donnerstagabend spät in der „Tagesschau“, im „Nachtmagazin“ oder in welchem Nachrichtenmagazin auch immer, die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes sehen, dass es das Einzige ist, was diesen Politikern angesichts der Herausforderungen einfällt, in den üblichen einfältigen Parteienstreit zurückzufallen: Soll das die Antwort der politischen Klasse auf die Hilfsbereitschaft der Bevölkerung sein, dass wir uns wieder streiten wie die Kesselflicker? Das kann und darf nicht das Ergebnis vom Donnerstagabend sein.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der CDU)

Meine Damen und Herren, ich habe gesagt, wir sollten die Hilfsbereitschaft der Menschen nicht überfordern. Wir sollten ihre Sorgen und Ängste ernst nehmen. Wir sollten sie aber auch nicht unterfordern. Die Menschen wissen, vor welcher Herausforderung wir stehen. Wir sollten ihnen auch ehrlich sagen: Das ist keine Veranstaltung von Wochen oder Monaten, das ist eine Veranstaltung von Jahren. Wir sollten ihnen offen sagen, dass es uns auch etwas abverlangen wird und mit Einschränkungen verbunden sein kann, wenn wir Flüchtlingen helfen wollen – und das wollen wir.

Wir sollten den Menschen auch ganz offen sagen, dass das nicht aus der Portokasse geht. Das wird Auswirkungen auf die öffentlichen Haushalte haben. Wir sollten jetzt sehr ehrlich darüber reden, dass wir – wie immer, wenn es um Geld geht – nur drei Möglichkeiten haben. Das eine sind Umverteilungen im Haushalt, das andere ist eine bessere Einnahmebasis für die öffentlichen Haushalte – Kundige wissen, was das bedeutet; aber das gehört zur Ehrlichkeit auch dazu –, oder wir sagen, wir können die Ziele der Schuldenbremse nicht einhalten. Das gehört auch in diese Debatte. Die Menschen warten darauf, dass ihre Hilfsbereitschaft auch mit dieser Ehrlichkeit der Politik beantwortet wird, dass wir diese größeren Zusammenhänge darstellen und auch Antworten darauf geben, meine Damen und Herren.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und Abgeordneten der CDU)

Deshalb lassen Sie uns der Versuchung widerstehen, auch dieses große Thema zum Gegenstand von kleiner parteipolitischer Münze zu machen. Das war bislang in der Debatte auch nicht der Fall. Dafür bin ich ausdrücklich dankbar. Ich bin auch sehr dankbar für die konstruktiven Gespräche, die in der letzten Woche auf Einladung des Ministerpräsidenten mit allen Fraktionsvorsitzenden im Landtag geführt wurden. Wir haben als Politik eine Verantwortung für dieses Thema. Zu dieser Verantwortung gehört auch eine klare Absage an diejenigen, die glauben, mit diesem Thema Stimmung machen zu müssen. Sorgen, Fragen und Ängste von Bürgerinnen und Bürgern sind berechtigt. Darauf müssen wir als Politiker auch Antworten geben. Aber es gibt eine klare Trennlinie: Meine Damen und Herren, Rassismus ist keine Sorge. Fremdenfeindlichkeit ist keine Meinung. Fremdenfeindlichkeit ist Menschenfeindlichkeit, und für Menschenfeindlichkeit gibt es in diesem Land keinen Raum. – Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.

(Anhaltender Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Beifall bei Abgeordneten der CDU)

Vizepräsident Wolfgang Greilich:

Vielen Dank, Herr Kollege Wagner.

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