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12.07.2016
Portraitfoto von Mathias Wagner vor grauem Hintergrund.

Mathias Wagner: Regierungserklärung des Hessischen Ministerpräsidenten betreffend „Europa nach dem Brexit-Referendum – Folgen und Chancen für Hessen“

Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sind bei unserer letzten Plenarsitzung am 23. Juni, also am Tag des Referendums, auseinandergegangen, und wir hatten wohl alle miteinander die Hoffnung, dass es schon irgendwie gut gehen wird. Wir alle konnten uns nicht wirklich vorstellen, dass Großbritannien in einer Volksabstimmung tatsächlich dafür stimmt, die Europäische Union zu verlassen. Als wir dann am nächsten Tag mit der Meldung wach wurden, mussten wir alle wohl ziemlich in uns gehen. Uns allen war bewusst: Es ist ein tiefer Einschnitt passiert.
Was war bis zu dieser Entscheidung der Auftrag, und was bleibt der Auftrag der Europäischen Union, so wie er im EU-Vertrag niedergelegt ist? Ich zitiere aus diesem EU-Vertrag: Die „Schaffung einer immer engeren Union der Völker Europas“.
Dieser Auftrag, der uns weiter einen sollte, hat einen Riss bekommen. Zum ersten Mal, seit ich politisch denken kann – so geht es sicher vielen Leuten meiner Generation –, ist Europa mit diesem Referendum nicht größer, sondern kleiner geworden. Das sollte für uns alle die Verpflichtung sein, die europäische Idee hochzuhalten, für die europäische Idee zu werben und dafür zu sorgen, dass die Vorteile der Europäischen Union allen Bewohnern auf diesem Kontinent klar werden, damit wir weiter an einer tieferen und engeren Europäische Union arbeiten können.
(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der CDU sowie bei Abgeordneten der SPD)
Selbstverständlich ist das Votum der Britinnen und Briten zu akzeptieren. Selbstverständlich kann es in den jetzt anstehenden Verhandlungen zwischen der Europäischen Union und dem Vereinigten Königreich nicht darum gehen, nachzutreten und besonders schlechte Bedingungen für die Kooperation zu vereinbaren. Aber es muss auch klar sein: Es macht einen Unterschied, ob man Mitglied der Europäischen Union ist oder nicht. Es darf auch nicht das Signal gesetzt werden: Man kann die Bedingungen aushandeln und die Vorteile von Europa in Anspruch nehmen, ohne die Pflichten zu akzeptieren.
(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der CDU)
Auch hier nehmen wir die Entscheidung des britischen Volkes sehr ernst.
Der Ausgang dieses Referendums – das will ich auch als Vertreter einer Partei sagen, die für direktdemokratische Elemente und mehr Volksabstimmungen ist – sagt auch nichts über den Sinn und Unsinn dieses Elementes aus. Denn es wäre eine Perversion von direktdemokratischen Elementen, wenn wir die Zustimmung oder die Ablehnung davon abhängig machten, wie die Menschen abstimmen. Nein, direktdemokratische Instrumente sind richtig oder falsch – das ist hier im Haus umstritten –, unabhängig davon, wie die Bürgerinnen und Bürger dann tatsächlich abstimmen.
(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Nancy Faeser und Thorsten Schäfer-Gümbel (SPD))
Dieses Referendum hat nach der Wahrnehmung meiner Fraktion eines sehr deutlich gezeigt, und das sollte nicht nur Großbritannien, sondern alle Staaten der Europäischen Union beschäftigen: Ein bisschen Populismus funktioniert nicht. Wenn man die Argumente der Populisten übernimmt, um sich einen Vorteil zu verschaffen und innerparteiliche Auseinandersetzungen für sich zu entscheiden – auch das hat bei den Tories in Großbritannien eine Rolle gespielt –, muss man sich nicht wundern, wenn die Bürger die Argumente der Populisten glauben, man den Prozess dann nicht mehr steuern kann und ein Ergebnis herauskommt, was wohl auch Herr Cameron nicht vermutet hätte. Meine Damen und Herren, ein bisschen Populismus geht eben nicht.
(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei Abgeordneten der CDU sowie der Abg. Nancy Faeser und Thorsten Schäfer-Gümbel (SPD))
Es gibt in Großbritannien eine lange, euroskeptische Tradition. Ich darf an Margaret Thatcher erinnern mit ihrem berühmten Ausspruch: „I want my money back“. Das war das Einzige, was ihr lange Zeit zur Europäischen Union eingefallen ist.
Jetzt hat Herr Cameron versucht, einige populistische Argumente zu übernehmen. Es braucht aber nicht die Übernahme der Argumente der Populisten, sondern unser Auftrag muss es sein, eine eigene, eine positive Erzählung von Europa zu liefern, ein klares Gegenbild eines vielfältigen, sozialen und ökologischen Europas zu zeichnen.
(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU und der SPD)
Dieses Referendum hat noch etwas gezeigt, ob uns das gefällt oder nicht: Politik ist niemals alternativlos. Die Britinnen und Briten haben sich für eine Alternative für ihr Land entschieden. Ich finde diese Alternative ausdrücklich falsch, aber es ist eine Handlungsoption gewesen.
Politik ist immer das Angebot verschiedener Handlungsoptionen, verschiedener Alternativen. Wir können die Zustimmung zu Europa, wir können die Europäische Union nicht allein damit begründen, dass sie alternativlos sei, sondern wir müssen dafür werben, dass sie die beste aller denkbaren Alternativen für unser Land und diesen Kontinent ist.
(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Meine Damen und Herren, das Referendum hat ein paradoxes Ergebnis. Ja, die Befürworter des Ausstiegs aus der Europäischen Union haben gewonnen. Aber die eigentlichen Verlierer sind die Populisten in Großbritannien. Denn was haben sie nicht alles vertreten? Was haben sie in dieser Kampagne nicht alles versprochen? „I want my country back“, hat Nigel Farage gesagt, er will sein Land zurück, ihm geht es angeblich um das große Ganze, ihm geht es um die Britinnen und Briten. – Und was sagt dieser gleiche Nigel Farage, dieser Populist, nach der Entscheidung? „I want my life back“. – Es ging ihm also immer um sich und sein Leben, niemals aber um die Interessen der Britinnen und Briten.
Diese Botschaft, dass das das Programm der Populisten ist, das wirkt über dieses Referendum hinaus, und das sollte allen Menschen in ganz Europa eine Lehre sein.
(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNDEN und der CDU sowie bei Abgeordneten der SPD)
„Take back control“, haben die Populisten gesagt: Wir wollen die Kontrolle zurück. – Was haben sie dann getan, als sie angeblich die Kontrolle zurückbekommen haben? Sie konnten mit dieser Kontrolle nichts, aber auch gar nichts anfangen. Die Populisten wissen, wogegen sie sind, aber sie haben keine, aber auch gar keine Idee, wofür sie sind.
(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der CDU sowie bei Abgeordneten der SPD)
Meine Damen und Herren, ich wünsche mir sehr, dass dieses Referendum, die Macht von Politik und die Macht der Entscheidung der Bevölkerung bei der Jugend Europas ankommen.
Warum spreche ich von der Jugend Europas? – In Großbritannien hatten wir in den Umfragen und in den Nachreferendumsbefragungen eine Mehrheit für den Verbleib in der Europäischen Union. Wir hatten diese Mehrheit vor allem bei der jungen Generation. Dieses Referendum wäre auch für den Verbleib in der Europäischen Union ausgegangen, wenn eben diese jungen Menschen, die am meisten von Europa profitieren, zur Wahl gegangen wären.
(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU und der SPD)
Deshalb lautet die Botschaft für alle jungen Menschen in Europa: Wählen macht eben doch einen Unterschied. Deine Stimme kann etwas entscheiden. Du hast deine Zukunft selbst in der Hand. Mach von diesen Möglichkeiten aber auch tatsächlich Gebrauch.
(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU und der SPD)
Meine Damen und Herren, dieser Brexit wird selbstverständlich Auswirkungen auf die wirtschaftliche Situation in Großbritannien, in Europa, in Deutschland und in Hessen haben. Dazu gibt es die unterschiedlichsten Untersuchungen – wer am Ende recht hat, weiß man heute nicht. Aber die Gefahr, dass dadurch Wohlstandsimpulse geringer werden, dass Arbeitsplätze verloren gehen, ist unheimlich hoch. Auch das sollten wir deutlich machen: dass mit der Europäischen Union eben auch Chancen auf Wachstum und Arbeitsplätze verbunden sind und dass diese Arbeitsplätze gefährdet sind, wenn wir von diesem europäischen Kurs abweichen.
Diese Entscheidung birgt viele Risiken für den europäischen Prozess, für die wirtschaftliche Entwicklung Europas. Wie immer bei Krisen hat sie aber auch Chancen.
Es ist ein Teil der Wahrheit dieser Entscheidung, dass diese Chancen auch in unserem Bundesland liegen könnten, was die weitere Entwicklung des Finanzplatzes Frankfurt angeht. Ich will aber ausdrücklich sagen: Mir wäre es sehr viel lieber gewesen, die Briten wären in der Europäischen Union geblieben, und wir hätten diese Chancen jetzt nicht. Das wäre für die Gesamtentwicklung des Kontinents sehr viel besser gewesen.
(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU)
Meine Damen und Herren, aber da wir nun diese Chancen haben, sollten wir sie jetzt auch beherzt nutzen. Denn auch die anderen Staaten werden versuchen, das, was es jetzt an wirtschaftlichen Umstrukturierungsprozessen in der Finanzwirtschaft gibt, für sich zu nutzen. Natürlich sollten wir als Finanzplatz dann auch darum werben, dass Banken – die ihre Standorte oder ihre Sitze jetzt nicht mehr in London haben können; denn wenn London nicht mehr Teil der Europäischen Union ist, kann es auch nicht mehr die Zulassung für europäische Bankengeschäfte vergeben – sich Frankfurt anschauen und sich vielleicht in Frankfurt ansiedeln. Natürlich sollten wir das nutzen. Denn mit diesem Referendum ist Frankfurt der größte und bedeutendste Finanzplatz der Europäischen Union – vielleicht noch nicht Europas, aber der Europäischen Union. Das ist jetzt ein Unterschied.
Deshalb ist es auch sinnvoll, dass wir uns darum bemühen, die europäische Bankenaufsicht nach Frankfurt zu holen und mit dem zusammenzuführen, was es schon an Regulierung im Finanzmarktbereich bei der EZB – die in Frankfurt ist – gibt. Es ist auch sinnvoll, sich darum zu bemühen, die Europäische Arzneimittelagentur nach Frankfurt zu holen.
Herr Schäfer-Gümbel, natürlich entstehen daraus dann viele Fragestellungen für die Infrastruktur in unserem Land. Diese Anforderungen sind auch allesamt nicht neu, an denen arbeiten wir schon jetzt. Wir arbeiten schon sehr gut daran: Denken wir an die Breitbandinitiative des Landes, an 1 Milliarde Euro für den Wohnungsbau, an all die Maßnahmen zur Stärkung des Finanzplatzes.
Herr Schäfer-Gümbel, die Forderung nach immer noch mehr Geld allein ist noch kein Konzept zur Stärkung des Finanzplatzes Frankfurt. Das muss ich Ihnen in aller Deutlichkeit sagen.
(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der CDU – Zuruf der Abg. Nancy Faeser und Thorsten Schäfer-Gümbel (SPD))
– Das waren die einzigen konkreten Vorschläge, die Sie in Ihrer Rede gemacht haben:
(Zuruf des Abg. Thorsten Schäfer-Gümbel (SPD))
dass alle Investitionen, die es bislang gibt, nicht ausreichend seien.
(Widerspruch des Abg. Thorsten Schäfer-Gümbel (SPD))
Herr Kollege Schäfer-Gümbel, ich will Ihnen einmal kurz die Dimensionen verdeutlichen – denn wir müssen uns natürlich immer fragen:
(Zuruf des Abg. Thorsten Schäfer-Gümbel (SPD))
Sind wir hier in Hessen gut, oder sind wir nicht so gut? – Diese Frage werfen Sie zu Recht auf. Das ist legitim und auch Ihre Aufgabe als Opposition.
(Zuruf des Abg. Gerhard Merz (SPD))
Stellen wir doch einmal die Dimensionen klar. Gerade hat die Bundesregierung beschlossen, dass sie den Ländern, allen 16 Bundesländern, in den nächsten zwei Jahren 1 Milliarde Euro für den Wohnungsbau zur Verfügung stellen wird – 1 Milliarde Euro für 16 Bundesländer. Meine Damen und Herren, dazu können wir hier in Hessen, die wir als ein Bundesland 1 Milliarde Euro für den Wohnungsbau zur Verfügung stellen, mit Fug und Recht sagen: Wir werden hier unserer Verantwortung gerecht.
(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der CDU –Zurufe der Abg. Manfred Pentz (CDU) und Thorsten Schäfer-Gümbel (SPD))
– Das kann man relativ schnell sagen. Von den 500 Millionen Euro kommen 35 MillionenEuro nach Hessen, der Rest sind Landesgelder, die wir dort investieren.
(Zuruf des Abg. Thorsten Schäfer-Gümbel (SPD))
1 Milliarde Euro bundesweit im Vergleich zu 1 Milliarde Euro hier in Hessen – Herr Kollege Schäfer-Gümbel, diese Dimensionen kann man doch einmal benennen.
(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU – Zuruf des Abg. Michael Boddenberg (CDU))
Ich will noch etwas zur geplanten Fusion der London Stock Exchange und der Deutschen Börse sagen.
Schon vor dem Referendum fand ich es sehr mutig, dass man im Bewusstsein des Referendums vorschlägt, der Sitz der fusionierten Börse solle in London sein. Das fand ich mutig – bei allen Vorteilen, die das vielleicht für das Unternehmen haben mag, aber diese Entscheidung fand ich mutig.
Nach dem Referendum kann ich persönlich es mir nicht vorstellen, dass der Sitz der größten Börse Europas seinen Hauptsitz außerhalb der Europäischen Union hat. Meine Damen und Herren, auch das will ich sehr deutlich sagen.
(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der CDU)
Das ändert nichts an den rechtlichen Prüfungen und den Entscheidungen der Landesregierung, aber es übersteigt meine Vorstellungskraft, dass das sinnvoll sein könnte.
Meine Damen und Herren, das Referendum zeigt uns: Die Menschen sind verunsichert, nicht nur in Großbritannien. Viele Veränderungen gehen vielen Menschen zu schnell. Viele Menschen fragen sich: Wo bleibe ich angesichts der Globalisierung? Sie fragen sich: Welche Antworten kann die Politik auf die Herausforderungen unserer Zeit geben, sei es beim Klimawandel, sei es bei der nach wie vor brutal ungleichen Verteilung von Armut und Reichtum, sei es bei anderen Fragen, die die Menschen beschäftigten?
Viele Menschen haben die Sehnsucht, es möge doch wieder einfacher sein. Sie erinnern sich an eine Zeit, in der es – nach ihrer Wahrnehmung – einfacher war, und sie verbinden damit die Zeit des Bestehens der Nationalstaaten. Deshalb stellen sie die einfache Überlegung an: Wenn wir zum Nationalstaat zurückkehren, dann werden auch die anderen Fragen wieder einfacher.
Es ist unsere Aufgabe, zu erklären: Nein, die anderen Fragen werden niemals mehr einfacher werden. Die Globalisierung findet statt. Wir müssen uns der Bekämpfung des Klimawandels stellen. Wir müssen endlich etwas gegen die ungleiche Verteilung von Armut und Reichtum tun. Wir werden die Flüchtlingskrise nur international und gemeinsam lösen können. Die Antworten auf alle diese Fragen liegt eben in einem Mehr an Europa, nicht in einem Zurück zum Nationalstaat. Dafür müssen wir immer wieder werben, liebe Kolleginnen und Kollegen.
(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der CDU)
Lassen Sie uns gemeinsam die Vorteile der Europäischen Union verdeutlichen. Bei allem, was wir in Europa zu kritisieren haben, bei allem, was es an Problemen in Europa gibt, ist die Europäische Union das entscheidende Friedensprojekt auf diesem Kontinent. Der Herr Ministerpräsident hat es schon gesagt: Noch nie haben wir in Europa in einer so langen Periode des Friedens gelebt. – Erinnern wir uns doch einmal daran, wie es vor 25 Jahren war, als der Eiserne Vorhang fiel, mit welcher Sehnsucht die osteuropäischen Länder nach Europa geschaut haben und wie eilig sie es hatten, in die Europäische Union aufgenommen zu werden, weil diese für sie ein Garant gegen Diktatur, gegen Unfreiheit und für den Schutz der individuellen Menschenrechte war. Auch wenn es uns selbstverständlich erscheint, müssen wir die Menschen immer wieder daran erinnern: Die Europäische Union garantiert unsere Freiheit und unser friedliches Zusammenleben.
(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der CDU)
Die Europäische Union ist ein Wohlstandsprojekt. Die Geschichte der Europäischen Union hat bislang gezeigt, dass es vielen Ländern und vielen Menschen in diesen Ländern durch den Beitritt zur Europäischen Union besser ging. Denken wir beispielsweise an die Entwicklung der südeuropäischen Länder.
Aber genau an diesem Punkt, bei dem Versprechen, dass es den Menschen durch die Europäischen Union besser geht, steht wir jetzt an einem Scheideweg, denn die Europäischen Union kann dieses Wohlstandsversprechen nicht mehr garantieren. Wir in Deutschland profitieren nach wie vor von der Europäischen Union, aber gegenüber vielen südeuropäischen Ländern ist das Wohlstandsversprechen gebrochen worden. Dort herrscht z. B. eine hohe Jugendarbeitslosigkeit. Ich mag mir gar nicht ausmalen, was es bedeuten würde, wenn wir hier in Deutschland Zustände wie in Griechenland hätten. Deshalb habe ich allergrößten Respekt davor, wie die Griechinnen und Griechen mit ihrer Situation umgehen.
Weil das Wohlstandsversprechen der Europäischen Union gebrochen worden ist, müssen wir uns um eine Vertiefung und Neuausrichtung der Europäischen Union kümmern. Die klare Aussage der Politik muss sein: Die Europäische Union ist weit mehr als ein gemeinsamer Markt. Es geht auch um soziale und um ökonomische Aspekte. Aufgrund unserer Tradition wissen wir in der Bundesrepublik um diese Zusammenhänge. Die Marktwirtschaft in Deutschland wurde wirkungsmächtig, als wir gesagt haben: Es muss eine soziale Marktwirtschaft sein. – Genau darum geht es jetzt auch in Europa. Wir müssen die europäische Einigung vertiefen. Wir müssen die Zusammenarbeit verstärken, damit die Menschen empfinden: Die Europäische Union garantiert uns eine soziale Marktwirtschaft, eine Marktwirtschaft, an der tatsächlich alle teilhaben können.
(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der CDU)
Dazu gehört auch, dass wir beim Begriff Solidarität in einem etwas größeren Zusammenhang denken. Das ist ja keine neue Entwicklung. Wir lösen heutzutage im Verhältnis zwischen der bundesstaatlicher Ebene und den Bundesländern sehr viele Fragen sehr solidarisch. Wir kämen nicht auf die Idee, unterschiedliche Lebensstandards in einzelnen Bundesländern zu akzeptieren, sondern der Verfassungsauftrag für die Bundesrepublik Deutschland lautet, gleiche Lebensverhältnisse in allen Bundesländern zu schaffen. Den Gedanken der Solidarität auf die europäische Ebene zu übertragen und in allen Ländern der EU vergleichbare Lebensverhältnisse zu schaffen, wird nicht auf Anhieb gelingen. Aber wir müssen in der Europäischen Union sicherstellen, dass es ein Mindestmaß an sozialer Sicherheit gibt, dass die Jugend Perspektiven hat, dass man bestimmte Prozesse in den Mitgliedstaaten begleitet. Das wäre eine Vision von Europa als einer Schutzmacht gegen die Globalisierung. Das wäre eine Antwort Europas auf Entwicklungen in der internationale Wirtschaft, eine Antwort, die lautet: Wir versuchen, soziale Standards auf europäischer Ebene zu haben – trotz der Globalisierung. Das kann nur die Europäische Union leisten, das kann kein Nationalstaat mehr alleine leisten.
(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der CDU)

Vizepräsident Wolfgang Greilich:

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
 
Mathias Wagner:
In dem Zusammenhang wird oft die Frage gestellt: Was kostet das alles? – Als Antwort der Hinweis: Niemand hat mehr von der Europäischen Union profitiert als Deutschland. Wir wurden nach dem Krieg durch die Europäische Union wieder in die Gemeinschaft der zivilisierten Völker aufgenommen. Ohne die Europäische Union wäre die deutsche Einheit niemals möglich gewesen. Uns allen würde es nicht so gut gehen, wie es uns derzeit geht – zumindest mehrheitlich, bei allen sozialen Problemen, die auch wir haben –, wenn es die Europäische Union nicht gäbe. Deshalb lohnt es sich, für die Europäische Union zu streiten, für ein ökologisches und soziales Europa.
(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der CDU)

Vizepräsident Wolfgang Greilich:

Vielen Dank, Herr Kollege Wagner.

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