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28.03.2012
Portraitfoto von Mathias Wagner vor grauem Hintergrund.

Mathias Wagner: „Chaos“ im Kultusministerium – Henzler fährt inklusiven Unterricht von Kindern mit und ohne Behinderungen an die Wand

Frau Präsidentin, meine sehr geehrten Damen und Herren! Worüber sprechen wir heute hier im Hessischen Landtag, wenn wir über Inklusion reden? Wir sprechen über nicht mehr und nicht weniger als die Frage, in welcher Gesellschaft wir leben wollen. Wollen wir in einer Gesellschaft leben, in der von Anfang an alle dazugehören, in der von Anfang an alle gefördert werden?

(Zuruf des Abg. Horst Klee (CDU))

Oder wollen wir in einer Gesellschaft leben, wo man schon in der Schule behinderten Menschen gar nicht mehr zu Gesicht bekommt,

(Zuruf des Abg. Hans-Jürgen Irmer (CDU))

wo behinderte Menschen an getrennten Schulen unterrichtet werden? Oder wollen wir Schulen, wo alle gemeinsam zur Schule gehen und gemeinsam unterrichtet werden? Darüber reden wir heute Nachmittag.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Bevor es zu den üblichen bewussten Missverständnissen von CDU und FDP kommt, will ich ausdrücklich sagen: Die Förderschulen in unserem Land waren historisch ein Fortschritt für behinderte Schülerinnen und Schüler. Sie waren gegenüber der Nichtbeschulung von Schülerinnen und Schülern ein Fortschritt – das will ich ausdrücklich sagen. Und an den Förderschulen in unserem Land wird eine gute Arbeit gemacht. Die Förderschullehrerinnen und -lehrer arbeiten engagiert. Das will ich auch ausdrücklich sagen.

(Allgemeiner Beifall – Zuruf des Abg. Hans-Jürgen Irmer (CDU))

– Herr Kollege Irmer, aber wir sind pädagogisch längst die nächsten Schritte gegangen, weil die Förderschule pädagogisch eben nicht der Weisheit letzter Schluss ist.

(Zuruf des Abg. Hans-Jürgen Irmer (CDU))

Wir haben in den Achtziger- und Neunzigerjahren begonnen, mit dem gemeinsamen Unterricht für die Integration von Schülerinnen und Schülern mit Behinderung in der Regelschule zu sorgen – zarte Ansätze, noch nicht weit genug, aber seit den Achtziger- und Neunzigerjahren wurde zumindest das nicht infrage gestellt. Herr Kollege Irmer, jetzt geht es mit der UN-Behindertenrechtskonvention um den nächsten Schritt, von der Integration zur Inklusion zu kommen,

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf des Abg. Hans-Jürgen Irmer (CDU))

weil wer von Anfang an dazugehört, der muss nämlich später nicht aufwendig integriert werden, meine Damen und Herren.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf des Abg. Hans-Jürgen Irmer (CDU))

– Herr Irmer, Inklusion, wie es die UN-Behindertenrechtskonvention seit drei Jahren verbindlich für Deutschland und für Hessen vorlegt, muss man wollen. Diese Landesregierung will Inklusion nicht. Die Landesregierung ignoriert weiter die Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention.

(Zuruf des Abg. Armin Schwarz (CDU))

Sie ignoriert den Wunsch der Eltern von behinderten Schülerinnen und Schülern, dass diese Schülerinnen und Schüler endlich auch die Regelschule besuchen können.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Diese Landesregierung will Inklusion nicht. Und ich will Ihnen das an einigen Beispielen deutlich machen. Schon das Schulgesetz verstößt eindeutig gegen die Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention.

(Widerspruch von der CDU und der FDP)

Die UN-Behindertenrechtskonvention sagt nicht, Deutschland solle ein inklusives Schulsystem unter Ressourcenvorbehalt aufbauen. Die UN-Konvention verpflichtet uns alle, ein inklusives Schulsystem ohne Wenn und Aber aufzubauen. In Ihrem Schulgesetz steht das Wenn und Aber sehr groß und das inklusive Schulsystem sehr klein. Deshalb ist dieses Schulgesetz mit der UN-Behindertenrechtskonvention nicht vereinbar.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, keiner sagt, dass wir ein inklusives Schulsystem von heute auf morgen schaffen können.

(Zuruf des Abg. Günter Schork (CDU))

Aber das klare Ziel ist wichtig, dass man ein inklusives Schulsystem schaffen will. Wichtig ist ein konkreter Zeitplan. Wichtig sind konkrete Schritte dorthin. All das enthält Ihr Schulgesetz nicht, und deshalb verstößt es gegen die UN-Behindertenrechtskonvention.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dass diese Landesregierung Inklusion nicht will, sieht man auch daran, dass zu diesem unzureichenden Schulgesetz bis heute keine Umsetzungsverordnung vorliegt. In allen anderen Bereichen, wo es Verordnungsänderungen bedarf, liegen diese Verordnungen merkwürdigerweise vor. Nur beim inklusiven Unterricht gibt es bis heute keine Verordnung – ein weiteres Beispiel dafür, dass diese Landesregierung Inklusion nicht will.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf des Abg. Mario Döweling (FDP))

Wenn wir uns den Entwurf dieser Verordnung anschauen, dann wird es wirklich ganz abenteuerlich. Seit drei Jahren sind wir alle verpflichtet, ein inklusives Schulsystem umzusetzen. Diese Landesregierung legt eine Verordnung vor, die weniger und nicht mehr Inklusion vorgibt. Das zeigt, Sie wollen es nicht, Sie wollen Inklusion zum Scheitern bringen, meine Damen und Herren.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Bislang, Herr Kollege Irmer, wurde die gute Praxis

(Zuruf des Abg. Hans-Jürgen Irmer (CDU))

– Ich spreche Sie an, weil ich Ihre frühere Kultusministerin loben will.

(Zuruf des Abg. Hans-Jürgen Irmer (CDU))

des gemeinsamen Unterrichts an unseren Schulen von niemandem infrage gestellt. Rot-Grün hat das Mitte der Achtziger- und dann in den Neunzigerjahren auf den Weg gebracht. Selbst Karin Wolff hat den gemeinsamen Unterricht und seine Standards nie angetastet. Sie hat ihn auch nicht ausgebaut – das gehört ebenfalls zur Wahrheit –, aber sie hat die Standards nie angetastet.

Die Standards waren: Wenn man in einer Klasse Kinder mit Behinderungen hat, dann ist diese Klasse natürlich kleiner als eine Klasse mit Schülerinnen und Schülern ohne Behinderung. Dann bekommt man in dieser Klasse die notwendige Lehrerzuweisung für eine Doppelbesetzung. Das wurde bislang nie infrage gestellt, auch unter einer CDU-Kultusministerin nicht. Jetzt erstmals – unter einer FDP-Kultusministerin – werden die bislang völlig anerkannten und in der Praxis bewährten Standards infrage gestellt und sollen mit dem Entwurf der Verordnung zurückgenommen werden. Das zeigt, die Landesregierung will Inklusion nicht, meine Damen und Herren.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Der Landeselternbeirat sieht das auch so. Es ist ein nicht alltäglicher Vorgang, wenn der Landeselternbeirat, also die Vertretung der Eltern in unserem Land, sagt: Die von der Landesregierung vorgelegte Verordnung geht so nicht, sie geht an den Interessen unserer Kinder vorbei.

Meine Damen und Herren von CDU und FDP, Sie sollten die Kritik ernst nehmen. Sie sollten die Verordnung überarbeiten und die Eltern nicht einfach überstimmen. Denn die UN-Behindertenrechtskonvention sagt: Die Eltern haben ein Recht darauf, dass ihre Kinder an diese Schule gehen. – Verwechseln Sie an dem entscheidenden Punkt bitte nicht Mehrheit mit Wahrheit, sondern nehmen das ernst, was Ihnen die hessischen Eltern sagen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Ministerin sagt immer, sie habe den Schulen Ruhe und Verlässlichkeit versprochen. In diesen Tagen gehen Tausende Menschen auf die Straße und demonstrieren gegen die Umsetzung der Inklusion. In diesen Tagen sitzen verzweifelte Schulleiterinnen und Schulleiter, verzweifelte Lehrerinnen und Lehrer in den Schulen und sagen: Wie sollen wir die Inklusion eigentlich umsetzen, wenn es nach wie vor keine Umsetzungsverordnung gibt, wenn es nach wie vor keine Rechtsklarheit gibt, wie man das machen soll? – Sie haben den Schulen Ruhe und Verlässlichkeit versprochen, Frau Ministerin. Chaos und Unsicherheit beim Thema „Inklusion“ sind die Realität an unseren Schulen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Landesregierung will Inklusion nicht, und sie hat Inklusion auch nicht verstanden. Die Kultusministerin rühmt sich dieser Tage in einer Pressemitteilung, sie wolle den Anteil der Kinder an Förderschulen langfristig von 4,4 auf 4,0 Prozent senken. – Frau Ministerin, das steht nicht in der UN-Behindertenrechtskonvention. Darin steht: Alle Schülerinnen und Schüler sollen die Regelschule besuchen können.

(Zuruf des Abg. Hans-Jürgen Irmer (CDU))

Es ist nicht die Rede von 4,4 auf 4,0 Prozent. Das war der Stand vor der Behindertenrechtskonvention. Sie verstoßen gegen das, wozu sich das Land Hessen selbst verpflichtet hat, meine Damen und Herren.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der LINKEN – Hans-Jürgen Irmer (CDU): Das stimmt nicht! Das Wohl des Kindes ist entscheidend! – Zuruf des Abg. Judith Lannert (CDU))

– Herr Irmer, zu Ihnen komme ich jetzt. Worum es eigentlich geht, Her Kollege Irmer, haben Sie in Ihrer Pressemitteilung dieser Tage in erfrischender Offenheit gesagt. Ich zitiere: „Eine allumfassende und überstürzt umgesetzte Inklusion, wie von der Opposition gefordert, ist nicht nur pädagogisch abträglich,

(Zuruf des Abg. Hans-Jürgen Irmer (CDU))

sondern auch nicht annähernd finanzierbar.“ Da haben Sie die Katze aus dem Sack gelassen, Herr Kollege Irmer. Sie teilen pädagogisch nicht, was in der UN-Behindertenrechtskonvention steht,

(Zuruf des Abg. Hans-Jürgen Irmer (CDU))

und Sie lehnen es ab, weil Sie es für nicht finanzierbar halten.

(Zuruf des Abg. Hans-Jürgen Irmer (CDU))

Vizepräsidentin Ursula Hammann:

Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.

Mathias Wagner:

Herr Kollege Irmer, würden Sie auch Schülerinnen und Schülern ohne Behinderung beispielsweise den Mathematikunterricht vorenthalten, weil Sie ihn für nicht finanzierbar halten?

(Zuruf des Abg. Hans-Jürgen Irmer (CDU))

Das zeigt doch: Sie wollen Inklusion nicht. Herr Kollege Irmer, Sie wollen die Inklusion durch eine unmögliche und chaotische Umsetzung an den Schulen zum Scheitern bringen.

(Zuruf der Abg. Judith Lannert (CDU))

Diese Politik ist schäbig, ideologisch und wird auf dem Rücken der Schwächsten ausgetragen, der Schülerinnen und Schüler. – Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.

Vizepräsidentin Ursula Hammann:

Vielen Dank, Herr Kollege Wagner.

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