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30.04.2015
Portraitfoto von Martina Feldmayer vor grauem Hintergrund.

Martina Feldmayer: Jahrestag des Kriegsendes am 8. Mai mahnt zu dauerhafter Verantwortung für Freiheit, Demokratie und Menschenrechte in einem friedlich geeinten Europa

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Der 8. Mai ist für uns heute unzweifelhaft der Tag der Befreiung, so wie es Richard von Weizsäcker in seiner eindrucksvollen Rede, aus der hier schon vielfach zitiert wurde, dargestellt hat. Die Debatte in der Nachkriegszeit darüber, ob der 8. Mai 1945, das Kriegsende, der Tag der Niederlage oder der Befreiung war, zeugt davon, dass viele, die das Nazisystem und den Krieg gestützt haben, eben nicht blind in die Naziherrschaft oder den Zweiten Weltkrieg hineingestolpert sind. Das zeugt davon, dass sich Hitler mit seinen radikalen Vorstellungen durchsetzen konnte. Ihm folgten viele mit Überzeugung in den Krieg und seiner Doktrin.

Es war nicht nur die SS. Es waren Wehrmachtsangehörige, einfache Arbeiter, Vereinsmitglieder und ganze Berufsstände, die hier mit Überzeugung agierten, die den Krieg wollten und den Ausschluss der Juden aus der Gesellschaft befürworteten, begünstigten, davon profitierten und engagiert betrieben. Das muss man an dieser Stelle einmal ganz deutlich hervorheben.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der CDU)

Die Judenverfolgung war bei einem Großteil der nicht jüdischen Deutschen Normalität, wie auch Herr Rentsch sagte. Das war spätestens nach dem 9. November 1938 klar, als 276 Synagogen niedergebrannt, 7.500 jüdische Geschäfte zerstört und mindesten 91 Juden ermordet wurden. Es war zur Normalität geworden, dass Juden verfolgt und diskriminiert wurden. Es gab zwar auch kritische Stimmen, aber es gab insgesamt zu wenig Widerstand in der Gesellschaft. Da muss man es umso mehr honorieren und herausstellen, dass diejenigen, die sich Hitler in den Weg gestellt haben – der Widerstand –, ganz wichtig waren. Das ist sehr mutig gewesen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU, der SPD, der LINKEN und der FDP)
Wenn wir uns heute, 70 Jahre nach Kriegsende, erinnern, ist klar, dass der 8. Mai 1945 für uns der Tag der Befreiung ist. Davor wurden 6 Millionen Juden ermordet. Sinti und Roma wurden verfolgt und ermordet. Homosexuelle und Menschen mit Behinderung wurden gequält und ermordet. Das betraf politisch Andersdenkende und alle, die irgendwie nicht ins System gepasst haben. Für diese Menschen gab es keine Befreiung.

Wir fragen uns immer wieder: Warum und wie konnte das geschehen? – Es gibt dazu unzählig viele wissenschaftliche Arbeiten. Es gibt die Zeitzeugen, denen wir unendlich dankbar sein müssen. Wir reden heute so selbstverständlich von den Zeitzeugen. Dazu muss man auch noch einmal herausstellen, dass es in den letzten Jahrzehnten nicht selbstverständlich war, dass diese Zeitzeugen in die Schulen gehen konnten. Teilweise wurden die Zeitzeugen angefeindet. Es ist auch erst seit einigen Jahren üblich, dass Sinti und Roma als Zeitzeugen in die Schulen gehen. Dagegen gab es einen großen Widerstand in der Gesellschaft.

Deswegen müssen wir noch einmal herausstellen, dass der Mut und der Wille der Zeitzeugen, aufzuklären, sehr wertvoll sind. Denn wir brauchen die Zeitzeugen und die Zeitzeugengespräche. Wir brauchen die Aufarbeitung, damit so etwas nie wieder geschehen kann.

(Allgemeiner Beifall)

Ich finde es schon erstaunlich, dass erst jetzt, 70 Jahre nach Kriegsende, an der Goethe-Universität eine ordentliche Professur für Holocaustforschung eingerichtet werden soll. Das ist natürlich gut und richtig. Ich bin Wissenschaftsminister Boris Rhein dafür dankbar, dass er sofort die Finanzierung zugesagt hat, als das im Gespräch war.

Trotzdem war ich erstaunt, dass es so etwas in Hessen bisher nicht gab.

Wir stellen heute fest, wir wissen noch immer zu wenig – zu wenig darüber, warum ganze Gruppen, Vereine, Berufsstände die Nazidoktrin willig aufnahmen. Wir wissen zwar viel über die Opfer, aber wir wissen noch immer zu wenig über die Täter und deren Motive. Aber wir müssen erfahren, welche Motivation dahintergesteckt hat, damit unsere Demokratie wehrhaft ist und bleibt.

(Allgemeiner Beifall)

Vieles kommt erst jetzt ans Licht. Als verantwortliche Politikerinnen und Politiker haben wir hier in Hessen die Pflicht, die Aufklärung weiter voranzutreiben und einzufordern. Erst im vorigen Jahr wurden die Ergebnisse der Historikerkommission des Hessischen Landtags veröffentlicht, und erst vor einer Woche wurden die Zwischenergebnisse einer Studie von Forschern um Benno Hafeneger zur Rolle der hessischen Ärzteschaft im Nationalsozialismus veröffentlicht. Es ist gut, dass auch das geschehen ist – nicht, dass Sie mich falsch verstehen: Es ist gut. Aber es ist doch erstaunlich, dass dies erst jetzt geschieht.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der CDU)

Das kann aber eine Anregung für andere sein. Andere Verbände sollten sich den hessischen Ärzten anschließen und Aufklärung betreiben, um die Systematik zu verstehen, und vor allem, um vorzubeugen, damit Rassismus und Unmenschlichkeit in dieser Gesellschaft keine Chance mehr haben.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der CDU)

Diese Arbeit hört nie auf. Es gibt keinen Schlussstrich. Allen Rufen nach einem Schlussstrich müssen wir gemeinsam entgegentreten.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der CDU und der LINKEN)

Sei es in wissenschaftlichen Debatten, sei es am Stammtisch: Jeder muss den Mund aufmachen, wenn solche Forderungen laut werden. Denn sonst setzen wir das Unrecht, diese Unmenschlichkeit fort.

70 Jahre nach Kriegsende gedenken wir aller Menschen, die in diesem barbarischen Krieg, der von Deutschland ausging, getötet wurden. In den Jahren 1939 bis 1945 wurden 65 Millionen Menschen getötet, unzählige wurden verstümmelt oder heimatlos. Gerade auch deswegen, weil es bei den Deutschen so viele Flüchtlingsbiografien gibt, müssen wir den Menschen, die heute auf der Flucht sind, hier in Deutschland, hier in Hessen helfen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU, der SPD und der LINKEN und des Abg. René Rock (FDP))

Wie Richard von Weizsäcker sagte, können wir den 8. Mai 1945, das Kriegsende, nicht denken, ohne an den 30. Januar 1933, als Hitler an die Macht kam: Ursache und Wirkung. Wenn die Bilder der schrecklichen Bombennächte in Dresden oder Frankfurt von rechts instrumentalisiert werden, dann müssen wir uns dem entgegenstellen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU und der SPD)

Wir Deutsche, wir Hessen sind dankbar, dass uns die Nationen, an denen von Deutschen schlimmste Kriegsverbrechen verübt wurden, wieder die Hand zur Versöhnung gereicht haben. In unserer Partnerregion Emilia-Romagna wurden nach Quellenangaben über 1.000 Menschen von SS- und Wehrmachtsangehörigen ermordet – und trotzdem ist das unsere Partnerregion, in der wir ausgesprochen herzlich und willkommen aufgenommen werden. Das muss man an dieser Stelle nochmals dankbar zur Kenntnis nehmen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der CDU sowie der Abg. Lisa Gnadl (SPD))
Bei den Vorbereitungen dieser Rede hat mich die Frage beschäftigt – wie auch Herrn Rentsch –: Wie schaffen wir es alle zusammen, hier im Landtag bei solchen historisch wichtigen Gedenktagen ein würdiges Gedenken, einen würdigen Rahmen zu schaffen? Denn Debatten über Anträge bergen immer die Gefahr, sich in politischen Streitereien zu verheddern und zu verzetteln. Ich könnte mir vorstellen und würde das für unsere Fraktion auch sehr begrüßen, wenn wir hierzu im Konsens einen Rahmen finden würden. Möglicherweise schaffen wir es ja, uns an diesen Tagen externe Rednerinnen und Redner einzuladen. Nicht, dass Sie denken, wir möchten dazu keine Anträge formulieren und darüber abstimmen – aber vielleicht hilft uns das etwas besser, diese wichtigen Gedenktage hier gemeinsam zu begehen, ohne uns dabei im Parteienstreit zu verzetteln.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU und der FDP)

Meine Damen und Herren, vielen Dank.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU, der SPD, der LINKEN und der FDP)

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