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04.02.2015
Portraitfoto von Martina Feldmayer vor grauem Hintergrund.

Martina Feldmayer: 70 Jahre Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz am 27. Januar 1945 – Gedenken an die Opfer bleibt Auftrag für die Zukunft

Frau Präsidentin, liebe Kolleginnen und Kollegen! Was die Soldaten der Roten Armee in Auschwitz am 27. Januar 1945 vorfanden, war so grauenhaft, dass es mit Worten kaum zu beschreiben ist. Es ist für uns unvorstellbar, welche barbarischen Verbrechen dort verübt wurden und was die Menschen ertragen, man muss sagen: erlitten haben. Etwa 7.000 Menschen waren noch im Lager, als Auschwitz befreit wurde. 10.000 Menschen wurden noch kurz vorher von den Nazis umgebracht. Viele der verbliebenen Häftlinge waren so geschwächt, dass sie ihre Rettung kaum überlebt haben.

Für uns ist es unvorstellbar, was sich dort abgespielt hat.

Mit dem Wort „unvorstellbar“ beschreiben Schülerinnen und Schüler, die Auschwitz besuchen, immer wieder das, was dort passiert ist. Mit dem Wort „unvorstellbar“ ist man immer wieder konfrontiert, wenn es um Auschwitz geht.

Meine Damen und Herren, aber es ist passiert. Wenn wir uns bei der Vorstellung von Auschwitz an der Grenze dessen befinden, was wir ertragen können, müssen wir uns vergegenwärtigen, dass dieses für uns Unvorstellbare Menschen in den Konzentrationslagern am eigenen Leibe erfahren haben. Das Vernichtungslager Auschwitz steht symbolisch für die barbarischen Verbrechen und Morde der nationalsozialistischen Herrschaft. In den Konzentrationslagern, den Arbeitslagern, bei den Todesmärschen sind Millionen von Menschen ermordet worden. Juden, Sinti und Roma, Homosexuelle, Kranke, Behinderte, Andersdenkende, Widerstandskämpfer wurden ermordet – einfach nur, weil sie nicht in die Ideologie der Nazis passten.

Wir Deutsche tragen hier eine ganz besondere Verantwortung. Wir müssen dafür sorgen, dass niemals vergessen wird, wofür Auschwitz steht.

(Allgemeiner Beifall)

Wir müssen dafür sorgen, dass der Holocaust-Gedenktag nicht pflichtschuldig und ritualisiert begangen wird, sondern dass wir eine lebendige Erinnerung bewahren. Immer wieder müssen wir uns fragen: Haben wir genug getan, damit das Gedenken, das Erinnern an die Opfer der Verbrechen des Nationalsozialismus lebendig und vor allen Dingen auch Mahnung bleibt?

Meine Damen und Herren, das Vergangene legt uns Verantwortung für die Zukunft auf. Erinnern und Gedenken darf nicht zu einem Ritual erstarren – sonst schaffen wir es einfach nicht, das weiterzugeben, was wir jetzt wissen, was noch wir über die Zeit des Nationalsozialismus erfahren durften, beispielsweise auch von Gesprächen mit Zeitzeugen.

Noch haben wir Zeitzeugen, die erzählen können und die vor allen Dingen erzählen wollen, die den Kindern und Jugendlichen, aber auch uns berichten können, was sie als Kinder Schreckliches erlebt haben. Diese Erinnerungen sind ein wertvoller Schatz.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU, der SPD und der FDP)

Die Erfahrungen mit Schulklassen, die mit Zeitzeugen geredet haben, zeigen, dass die Kinder und Jugendlichen nach diesen Begegnungen sensibilisiert sind. Sie sind sensibilisiert dafür, was Recht und was Unrecht ist. Vor allen Dingen sind sie sensibilisiert für die Gefahren, die unserer Demokratie drohen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, vielleicht wäre es auch sinnvoll, an einem der nächsten wichtigen Gedenktage hier im Landtag lieber einen Zeitzeugen oder eine Zeitzeugin zu uns sprechen zu lassen, als über Formulierungen in Anträgen zu streiten. Ich finde, dieser Streit unter den Parteien sollte nicht stattfinden.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der CDU)

Meine Damen und Herren, lebendiges Erinnern bedeutet auch, dass wir die authentischen Orte erhalten müssen, denn auch sie sind Zeugen der Zeit. Viele authentische Orte sind vom Verfall bedroht. In Auschwitz-Birkenau, der Mordfabrik der Nazis, sind nur wenige der Baracken für Besucher zugänglich. In allen anderen droht Einsturzgefahr. Die Nationalsozialisten haben vor ihrer Flucht die Krematorien und Gaskammern gesprengt, weil sie sich ihrer Taten bewusst waren und nicht für sie einstehen wollten. Diese Ruinen sind komplett vom Verfall bedroht. Es ist schlimm, dass für den Erhalt der Gedenkstätten die finanzielle Unterstützung lange fehlte. Die „Stiftung Auschwitz-Birkenau“, die 2009 gegründet wurde, ist immer noch nicht mit den erforderlichen Mitteln ausgestattet, um den Erhalt dieses Ortes dauerhaft zu sichern. Auschwitz verfällt jedes Jahr, jeden Tag ein bisschen mehr. Das ist eine Schande. Hier braucht es größerer Anstrengungen, meine Damen und Herren.

(Allgemeiner Beifall)

Wenn die Erinnerung lebendig bleiben soll, wenn wir die Erinnerung weitergeben wollen, müssen alle gesellschaftlichen Kräfte an diesem Ziel mitarbeiten. Ich fand es gut, dass anlässlich des 70. Jahrestags der Befreiung von Auschwitz im Fernsehen der beeindruckende Dokumentarfilm „Night will fall“ mit dem Untertitel „Hitchcocks Lehrfilm für die Deutschen“ in der ARD gezeigt wurde. Allerdings könnten die Medien ihren Programmauftrag zu einem so wichtigen Anlass noch besser wahrnehmen, wenn solche Filme nicht um 23:30 Uhr, sondern zu einer Sendezeit gezeigt würden, zu der sie viel mehr Menschen erreichen.

(Allgemeiner Beifall)

Sehr verehrte Damen und Herren, es darf nie wieder passieren, dass Menschen anderen Menschen das antun, was in den Verbrechen von Auschwitz gipfelte. In Auschwitz wurden alle menschlichen Werte zerstört. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben die demokratischen Kräfte daran gearbeitet, die menschlichen Werte wiederaufzubauen. Vieles hat aber sehr lange, zu lange gedauert, bis es wiedergutgemacht wurde. Manches wurde nie wiedergutgemacht, manches kann überhaupt nicht wiedergutgemacht werden. Norbert Wollheim hat für eine Wiedergutmachung für die Zwangsarbeiter der IG Farben des KZ Buna/Monowitz gekämpft. Heute – endlich – findet die Einweihung des Norbert-Wollheim-Platzes in Frankfurt statt. Der Grüneburgplatz wird endlich in Norbert-Wollheim-Platz umbenannt worden. Das geschieht spät – aber es gut, dass es passiert.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU, der SPD und der FDP)

Meine Damen und Herren, wir dürfen es uns auch nicht so einfach machen, an Gedenktagen unsere gute Gesinnung zu zeigen. Wir dürfen es uns nicht bequem machen mit einer guten und richtigen Gesinnung. Wir müssen dafür sorgen, dass der Zivilisationsbruch von Auschwitz nie wieder geschehen kann. Das liegt in unserer Verantwortung als Politiker, aber es liegt auch an jedem Einzelnen, für Demokratie und eine offene Gesellschaft ohne Ausgrenzung einzutreten, damit so etwas wirklich nie wieder geschehen kann.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU, der SPD und der FDP)

Die Verantwortung zur Menschlichkeit ist in unserem Grundgesetz in Art. 1 als Konsequenz aus den nationalsozialistischen Verbrechen formuliert: Die Würde des Menschen ist unantastbar.

Vizepräsidentin Ursula Hammann:

Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen.

Martina Feldmayer:

Ich komme zum Ende. – Es gibt keinen Schlussstrich in der Geschichte – oder, wie Anja Reschke in ihrem Kommentar in der ARD sagte: „Dieser Teil unserer Geschichte ist in seiner Abartigkeit so einzigartig, dass er gar nicht vergessen werden kann.“ Dem ist nichts hinzuzufügen.

(Allgemeiner Beifall)

Vizepräsidentin Ursula Hammann:

Vielen Dank, Frau Kollegin Feldmayer.

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