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03.03.2010
Portraitfoto von Marcus Bocklet vor grauem Hintergrund.

Marcus Bocklet zur Sozialstaatsdebatte ernsthaft führen - für existenzsichernde Regelsätze und Mindestlöhne

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir sind der SPD-Fraktion dafür dankbar, dass sie diesen Antrag eingebracht und ihn zum Setzpunkt gemacht hat. Auch wir haben dazu einen Antrag eingebracht, denn wir finden es richtig, dass es Zeiten geben muss, in denen man sich Gedanken über Grundsätzliches machen muss. Das gilt vor allem dann, wenn sich ein Mitglied der Bundesregierung aufgefordert fühlt, in dieser Weise zum Sozialstaat Stellung zu nehmen. Deswegen ist es gut und richtig, dass wir das heute auch hier im Lande diskutieren.

Die Ursache dieser Debatte liegt spätestens im Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Februar. Dieses Urteil war sehr bemerkenswert. Es ging darin um die Klarheit über die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums.

Das Gericht sagte dazu: Im direkten Zusammenhang damit steht Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes. Es geht also nicht mehr und nicht weniger als den Grundsatz:

Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.

Das Bundesverfassungsgericht stellte klar, dass das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums eine eigenständige Bedeutung hat und dem Grunde nach unverfügbar ist

Alle Personen, alle Menschen, alle Mitglieder der Regierung, wo auch immer, die sich an der Debatte über die Regelsätze zum Arbeitslosengeld II beteiligen, sollten diese Leitsätze des Bundesverfassungsgerichts zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen nehmen, wenn sie den Grundsatz der Menschenwürde nicht verächtlich machen und das Sozialstaatsprinzip nicht infrage stellen wollen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

Wer wie der FDP-Vizekanzler – und ich finde, einen Großteil meiner Rede muss ich tatsächlich auf den Kollegen im Bundestag verwenden – das menschenwürdige Existenzminimum als „leistungsloses Einkommen“ zu diskreditieren versucht, der zeigt, dass er das Bundesverfassungsgericht und sein Urteil weder ernst noch wirklich zur Kenntnis nimmt.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

Wer diejenigen, die sich seit Jahren sehr sorgfältig mit der Bestimmung der Regelsätze auseinandersetzen, der „Einladung zu spätrömischer Dekadenz“ bezichtigt, der verunglimpft nicht nur die Erwerbslosen, sondern offenbart auch ein gerüttelt Maß an sozialpolitischer Ignoranz.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, eine Regierung hat auch immer für den sozialen Frieden in einer Gesellschaft Verantwortung zu tragen. Sie hat auch dafür Verantwortung zu tragen, dass das soziale Klima in der Gesellschaft so ist, dass sich dort alle Menschen wiederfinden.

Ich glaube nicht, dass der Beitrag von Guido Westerwelle in dieser Debatte verantwortlich war – schon gar nicht in seiner Verantwortung als Mitglied der Bundesregierung.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

Unser Land baut auf sozialstaatlichen Prinzipien auf. Auf diesem Konsens basiert unser Staat. Wer dieses Prinzip durch billige Kampagnen leichtfertig aufgibt, zerstört das Fundament, auf dem dieses Land gründet.

Wir GRÜNE raten davon ab, das weiter voranzutreiben. Angesichts dieser Wirtschaftskrise mit dieser Fülle von Arbeitslosen raten wir dazu: Solidarität und nicht Spaltung hat in Zeiten wie diesen die absolute Priorität.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf des Abg. Florian Rentsch (FDP))

Mir ist es wichtig, mir noch einmal diese Zeit zu nehmen, um über diese Grundsätze zu reden. Denn ich glaube, Tonlage und Wortwahl der Rede über die Grundlagen unseres Gemeinwesens sind wichtig. Wer sich so äußert, wie es der Vizekanzler getan hat, der offenbart – nachfolgend viele andere FDP-Mitglieder, die sich so geäußert haben, z. B. Herr Lindner – ein grundlegend gestörtes Verhältnis zu den Grundlagen unseres Gemeinwesens und des Grundgesetzes. Um nicht mehr und nicht weniger geht es hier, wenn das Bundesverfassungsgericht feststellt, dass es ein Anrecht auf ein soziokulturelles Existenzminimum gibt.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, deswegen muss ich es wiederholen: Eigentlich ist es unklar, was die FDP bei den Hartz-IV-Reformen eigentlich will. Dazu möchte ich mich noch dezidiert eines Zitats bedienen. Ein Kollege der CDU äußert:

Das soziale Klima in Deutschland hat sich durch Agitation des FDP-Vorsitzenden Guido Westerwelle und Teilen der Springer-Presse verschlechtert. Wir in der CDU haben schon immer beispielsweise über die Höhe des Lohnabstands gestritten zwischen denjenigen, die einen Job haben, und denjenigen, die von Sozialhilfe leben. Aber wir sind nie auf den Leuten herumgetrampelt, die keine Arbeit hatten.

Westerwelle erweckt den Eindruck, dass die Arbeitslosen Schmarotzer sind. Aber sie sind nicht arbeitslos, weil sie es sein wollen, sondern weil es keine Jobs für sie gibt.

Heiner Geißler hat völlig recht.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir haben verstanden, dass Sie mit den Leistungen im Hartz-IV-Gesetz nicht einverstanden sind, was wir aber nicht verstanden haben, ist – –

(Zuruf des Abg. Florian Rentsch (FDP))

– Das kann ja sein. Herr Rentsch, Ihre Vorschläge zur Hartz-IV-Gesetzgebung würden mich einmal interessieren. Wir haben von Ihnen – Herr Präsident, ich habe das Bundestagsprotokoll nachgelesen – nicht gehört, dass Sie die Regelsätze absenken wollen. Das wollen Sie nicht. Sie wollen auch keine weiteren Verschärfungen der Sanktionen. Sie sagen, die Sanktionen sollen angewendet werden. Das ist die Gesetzeslage. Sollten Sie Verschärfungen wollen, möchten wir Sie heute zum wiederholten Male fragen: Welche Sanktionen eigentlich, und in welcher Form wollen Sie diese verschärft haben?

Sie haben, was den Komplex Hartz-IV betrifft, keine Vorschläge gemacht. Ich finde, da kann man die Backen dick aufblasen, aber hören tut man nichts, wenn Sie dazu etwas sagen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wer gestern zu Hause die Zeit hatte, hat festgestellt, dass es zur Frage, wie es mit dem Sozialstaat weitergeht, zwei parallel laufende Sendungen gab, Maischberger und Markus Lanz. In beiden wurde die Frage diskutiert, warum die FDP das eigentlich gemacht hat. Es ist ganz offensichtlich – Herr Lindner hat es sogar zugegeben –: Der FDP stinkt es, dass ihre Steuerreform, die sie gern durchführen will, offensichtlich vor dem Scheitern steht. Und es fällt ihr nichts Billigeres ein, als auf Arbeitslose einzudreschen und den Druck zu erhöhen, sich in diesem Punkt doch noch gegenüber der CDU durchzusetzen. Das ist billiger Populismus.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Wer über Menschen, die unverschuldet in Arbeitslosigkeit geraten, über „anstrengungslosen Wohlstand“ fabuliert, weil er diesen Menschen Missbrauch unterstellt und damit eine Moralvorstellung einfordert, muss sich auch grundsätzlich die Frage gefallen lassen, wie er mit anderen Menschen umgeht, die dieses Gemeinwesen offensichtlich missbrauchen.

Frau von der Leyen hat zu Recht gesagt, es gebe Missbrauch bei ALG-II-Empfängern; es gebe aber auch Missbrauch bei Steuerhinterziehern. Ich wünsche mir von der FDP-Fraktion dasselbe Weft für Steuerhinterzieher, wie sie das bei ALG-II-Empfängern machen. Das würde ich mir von der FDP einmal wünschen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Aber kommen wir zu den wenigen Dingen, die die FDP dann doch inhaltlich eingebracht hat, die zwar nichts mit den Hartz-IV-Gesetzen zu tun haben, aber mit Wirtschaftspolitik, nämlich das Lohnabstandsgebot. Wenn das Bundesverfassungsgericht definiert, es gebe ein Existenzminimum, das absoluten Vorrang habe, dann kann das nur bedeuten: Wenn Sie ein Lohnabstandsgebot wollen, brauchen wir in der Bundesrepublik einen Mindestlohn. Wir GRÜNE haben dazu regional- und branchenspezifische Konzepte. Wir brauchen Mindestlöhne, denn nur so kriegen wir zu den ALG-II-Regelsätzen einen Lohnabstand hin. Das wollen wir.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wer arbeiten will, soll mehr haben als derjenige, der nicht arbeitet – was für eine Banalität. Ich glaube, es gibt in diesem Hause niemanden, der das nicht genauso empfindet. Aber bleiben Sie doch bitte bei der Wahrheit. Wenn Sie öffentlich Lohnabstandsrechnungen anstellen – meistens auch noch über die Bildzeitung kommuniziert –, dann unterschlagen Sie doch regelmäßig die vorgelagerten Sozialleistungen. Sie unterschlagen das Kindergeld, das Wohngeld und den Kinderzuschlag und kommen so zu niedrigeren Rechnungen und hetzen Niedrigverdiener gegen die Bezieher von Arbeitslosengeld II auf, die nichts lieber hätten als einen Job. Hören Sie doch endlich damit auf, liebe Kollegen von der FDP.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Neben dem Mindestlohn gibt es natürlich auch einen weiteren Aspekt; Sie reden dann von Steuersenkungen. Sie wissen genau, dass die niedrigen Einkommen von Ihren Steuersenkungen wenig bis nichts haben. Das haben Ihnen doch alle Wissenschaftler und Experten längst gesagt. Die Leute, die 4,50 Euro die Stunde haben, werden von Ihren Steuersenkungen nicht profitieren. Was wir also brauchen, ist ein späteres Ansetzen von Lohnnebenkosten. Auch da haben wir GRÜNE ein sogenanntes Progressivmodell, welches diejenigen mit geringem Einkommen erst viel später Sozialabgaben zahlen lässt. Das sind Forderungen, die nicht zu Hartz IV, sondern zur Wirtschaftspolitik gehören: Mindestlohn und die Senkung der Lohnnebenkosten. Das können wir gern in Ruhe diskutieren.

Vizepräsident Heinrich Heidel:

Herr Kollege, Sie müssten zum Ende kommen.

Marcus Bocklet:

Ich komme zum Ende. – Liebe Kollegen von der FDP, skandalös ist allerdings, wenn man in diesem Land opulente Transferleistungen kritisiert, dass man dann aber niedrige Löhne auszahlen lässt. Das finden wir nach wie vor skandalös. Ich möchte der FDP zum Abschluss noch einmal raten – „spätrömische Dekadenz“ ist ja ein großes Thema, liebe Kollegen von der FDP, da ist Ihnen tatsächlich ein Clou gelungen –: Ich glaube, das Römische Reich ging an vielen Ursachen zugrunde, aber ganz sicherlich nicht aufgrund der Armen, die in diesem Reich waren. Wir empfehlen Ihnen – deswegen haben wir zum Römischen Reich eine kleine Lektüre mitgebracht –, das können Sie gern – –

Vizepräsident Heinrich Heidel:

Sie müssen zum Ende kommen.

Marcus Bocklet:

Ich komme zum Schluss. – Ich überreiche Ihnen das noch einmal als kleine Nachhilfe für die Kollegen von der FDP, damit Sie auch wissen, worüber Sie eigentlich reden. – Danke schön.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Vizepräsident Heinrich Heidel:

Schönen Dank, Herr Bocklet.

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