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09.12.2009
Portraitfoto von Marcus Bocklet vor grauem Hintergrund.

Marcus Bocklet zur Erstausbildungsförderung für Altbewerberinnen und Altbewerber

Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Schork, ich finde es faszinierend: Wenn Sie den Antrag der LINKEN lesen – ich weiß, dazu hat man manchmal nicht so viel Lust, wenn man von der CDU kommt –, stellen Sie fest, dass dort letztlich zwei Punkte gefordert werden.

(Zuruf des Abg. Günter Schork (CDU))

Unter Punkt 1 heißt es: „Wir bitten, Landesmittel zur Förderung der Erstausbildung von Altbewerbern“ – Achtung – „bedarfsgerecht einzustellen“.

Zweitens fordert die LINKE, dass man die Ausbildungsplatzsuchenden und die Unternehmen offensiv darüber informiert, dass es eine solche Förderung gibt.

Ich muss wohl ein bisschen Regierungscoaching betreiben. Wenn Sie klug wären, würden Sie sagen, dass Sie das doch schon machen.

(Zuruf des Abg. Günter Schork (CDU))

Sie stellen doch vom Wirtschaftsministerium aus die Plätze für die Erstausbildung bedarfsgerecht zur Verfügung, und Sie informieren auch darüber. Also frage ich mich, warum es eigentlich diesen Reflex gibt, zu sagen, das sei der völlig falsche Weg.

Ich halte diesen Antrag für zustimmungsfähig. Ich finde ihn ein bisschen unkonkret. Aber es ist richtig – wir alle in diesem Haus müssen doch dieser Meinung sein –, dass man Ausbildungsplätze bedarfsgerecht zur Verfügung stellt und möglichst auch darüber informiert.

Das kann doch eigentlich nicht strittig sein.

Herr Schork, liebe Mitglieder der CDU und FDP, jetzt wird es spannend. Denn strittig wird es bei den Fragen und dem hoch komplexen Thema: Wie viel Altbewerber haben wir eigentlich? Haben wir ein wirtschaftspolitisches, ausbildungspolitisches und sozialpolitisches Problem? – Da haben wir hin im Saal einen großen Dissens.

Sie haben die Zahlen. Ich habe dieselbe Pressemitteilung der Regionaldirektion wie Sie mit denselben Zahlen. Das lässt sich verkürzen. Es gibt rund 35.000 Bewerber und rund 32.000 Ausbildungsplätze. Das steht in der Pressemitteilung der Regionaldirektion Hessen vom 13. Oktober 2009. Da klafft also aktuell eine Lücke von ca. 3.000 Ausbildungsplätzen.

Das sind die Zahlen der Regionaldirektion. Da muss man kein Kommunist sein. Man muss dafür nur einfach in der Lage sein, so einen Text zu Ende zu lesen. Dann kann feststellen: 35.000 minus 32.000 ist gleich 3.000, da gibt es also eine Lücke.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN)

Wir haben schon im Juli 2009 einmal darüber geredet. Im Juli 2009 haben wir schon einmal festgestellt, dass jeder seine statistischen Tricks vorführen kann.

Einig sind wir uns aber doch über den Berufsbildungsbericht der Hessischen Landesregierung aus dem Jahr 2009. Die Hessische Landesregierung kennen Sie vielleicht.

(Heiterkeit der Abg. Willi van Ooyen und Janine Wissler (DIE LINKE))

Hessen – daran führt kein Weg vorbei

Da schlagen wir jetzt Seite 80 auf. Ich weiß, das ist ziemlich weit hinten. Ich weiß auch, dass das ein ziemlich langweiliges Thema ist. Da sehen wir, wie viele jugendliche Menschen sich in den Übergangssystemen befinden. Übergangssystem bedeutet, dass es noch nicht die Unversorgten sind. Das hat Frau Wissler zu Recht angesprochen. Unversorgt sind die Jugendlichen, die in keinem Übergangssystem stecken, aALSO weder in der Schule noch in berufsausbildungsfördernden Maßnahmen oder in einer Erstausbildung. Das ist der Rest der absolut Vergessenen.

Nach Ihrem Bericht sind das 1.000 Jugendliche. Das sind 1.000 Jugendliche, die sozusagen völlig abgeknipst sind von jeglicher Perspektive. Auch das ist unstrittig.

Jetzt bewegen wir uns auf die Dunkelziffer bzw. die Zahl zu, über die wir streiten. Ich bitte Sie inständig, da die Zahl Ihres eigenen Berichts ernst zu nehmen. Auf der Seite 80 – vielleicht wollen Sie mitblättern – steht, dass das 11.664 Jugendliche sind. Die befinden sich im Berufsgrundbildungsjahr, im Programm zur Eingliederung in die Berufs- und Arbeitswelt, in dem Programm Fit für Ausbildung und Beruf, in der Berufsschule, ohne eine Berufstätigkeit zu haben, usw.

Darunter machen wir einen dicken Strich. Das hat Ihre Landesregierung getan. Dann stellen wir fest, dass das über 11.000 Jugendliche sind.

Da gibt es noch ein paar andere Zahlen. Es gibt ein paar Schätzungen des DGB. Ich will mich also gar nicht darauf festlegen, hier die richtige Zahl genannt zu haben. Aber unstrittig ist, dass wir über mehrere Tausend Jugendliche reden, die keine Erstausbildung haben. Können wir darüber Einigkeit in diesem Haus erzielen?

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der LINKEN)

Wenn dem so ist, dann hat man als Handlungsperspektive zwei Möglichkeiten.

(Zuruf)

– Ich habe Ihren Zwischenruf nicht verstanden. Ich würde gerne darauf eingehen, aber das habe ich nicht verstanden.

Wir haben zwei Möglichkeiten. Die eine ist, Ausbildungsplätze auf dem ersten Ausbildungsmarkt zu suchen. Da habe ich schon im Juli 2009 den Herrn Arbeitsminister und den Herrn Wirtschaftsminister gefragt: Wie ist das eigentlich mit den Unternehmen in der sozialen Marktwirtschaft? Wie verhält sich das eigentlich mit den Unternehmen, die beim DAX gelistet sind, also mit der Lufthansa, der Deutschen Post und der Münchener Rück? Sie alle haben auch Filialen und Sitze in Frankfurt, Wiesbaden und Kassel. Sie haben eine Ausbildungsquote von 1 % bis 2 %. Der Durchschnitt liegt bei 7 %. Das ist, politisch gesehen, ein Skandal. Ich frage mich: Wird das zur Chefsache gemacht? Wird dazu Wirtschaftspolitik gemacht? – Nichts davon.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN)

Das ist das Handlungsfeld auf dem ersten Ausbildungsmarkt. Wenn wir dann feststellen, dass die nicht in die Puschen kommen, dann müssen wir alle gemeinsam der Meinung sein, dass das Land in der öffentlich geförderten Erstausbildung mehr tun muss.

Beim Wirtschaftsminister gibt es dafür einen Etat. Ich glaube, es ist das Förderprodukt Nr. 49. Ich müsste das nachschauen. Da sind für dieses Jahr 22 Millionen Euro vorgesehen. Für das Jahr 2010 sind rund 17 Millionen Euro vorgesehen. Frau Wissler hat es schon angedeutet: Sie kürzen diesen Ansatz um rund 4,5 Millionen Euro. Die Anzahl der Plätze wird von 3.600 auf 2.900 sinken. Es geht da um die Plätze für die Jugendlichen. Sie tun dies mit der Begründung, aus Berlin und von der Europäischen Union kämen Gelder.

Das ist ein völlig falsches Signal. Wir haben viele Altbewerber. Wir haben einen Berg Jugendlicher, die einen Erstausbildungsabschluss brauchen. Wir hätten in Hessen die Möglichkeit, diese Mittel für die Jugendlichen zu nutzen.

Was macht das Ministerium? Es kürzt die Mittel um 4,5 Millionen Euro. Da wird der völlig falsche Weg beschritten. Das ist, sozialpolitisch gesehen, falsch. Das ist, bildungspolitisch gesehen, falsch. Das führt in die falsche Richtung. Wir als GRÜNE verurteilen das Beschreiten dieses Weges.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN)

Deswegen sage ich das noch einmal. Das ist auch unstrittig. Wenn Sie sagen, Sie hätten mit dem Ausbildungspakt viel gemacht, haben Sie uns auf Ihrer Seite. Da ist viel geschehen.

Wenn Sie sagen, die Situation für die Schüler, die gerade von der Schule abgehen, sei nicht sehr kritisch, dann würde ich da auch noch mitgehen. Aber die Jugendlichen, die einen schlechten Abschluss aus dem Jahr 2009 haben, und die über 11.000 Jugendlichen, die ihren Abschluss aus dem Jahr 2008 haben und aus dem Programm zur Eingliederung in die Berufs- und Arbeitswelt, aus dem Programm Fit für Ausbildung und Beruf oder aus anderen Maßnahmen wieder herausfallen, die haben auf dem ersten Ausbildungsmarkt keine Chance.

Wenn das Land da seiner Verantwortung nicht gerecht wird und die Mittel nicht wieder von 17,5 Millionen Euro auf 22 Millionen Euro aufstockt – diese Möglichkeit hätten wir, ohne ein großes Defizit zu erzeugen, es geht einfach nur darum, die Mittel in Ihrem Umfang beizubehalten –, dann werden viele Jugendliche nicht die Möglichkeit haben, zu einem Abschluss zu kommen. Damit haben sie keine Möglichkeit der Teilhabe am ersten Arbeitsmarkt und damit auf eine Perspektive in unserer Gesellschaft. Wir GRÜNEN wollen aber, dass sie das haben.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN)

Herr Schork, ein bisschen kommt es mir so vor, als ob wir aneinander vorbeireden würden. Sie reden über die Altbewerber. Sie reden über die aktuelle Situation auf dem ersten Ausbildungsmarkt. Auf dem ersten Ausbildungsmarkt gibt es für aktuelle Bewerber unter Umständen die Möglichkeit, einen Ausbildungsplatz zu finden.

Wir haben aber eine große Anzahl alter Bewerber, die keine Plätze finden. Da Sie so heftig nicken, müssten Sie eigentlich dem Antrag der LINKEN zustimmen. Sie müssten dann der Forderung zustimmen, die da lautet, mehr Ausbildungsplätze auf dem ersten Arbeitsmarkt durch mehr Druck auf die Unternehmen zu schaffen. Das betrifft vor allem die großen Unternehmen.

Zweitens brauchen wir ein Schulsystem, das die Jugendlichen deutlich besser zur Ausbildungsreife verhilft. Auch das ist ein Teil des Problems. Frau Wiesmann, wir haben uns darüber oft unterhalten. Wir wissen, dass, wenn Jugendliche mit einem schlechten Abschluss von der Schule kommen, viele Unternehmen sagen: Da stimmt das Matching nicht, wir würden gerne helfen, aber sie sind zu schlecht. – Da muss das Schulsystem besser werden. Schließlich muss bei den öffentlich geförderten und begleiteten Ausbildungsplätzen in Hessen deutlich verstärkt werden.

Ich sage es noch einmal: Es liegt in unser aller Interesse, es geht da um Jugendliche, die mit 16 oder 17 Jahren keinen Ausbildungsplatz finden. Wir schicken sie in Warteschleifen. Danach ermöglichen wir ihnen keine Ausbildung mit einem Abschluss. Wir schießen uns da selbst ins Knie. Ich darf das als Betroffener einmal so sagen.

(Heiterkeit bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der CDU und der LINKEN)

Sie würden sagen: Wir schießen uns da in die Hüfte. – Ich möchte jetzt ein anderes Bild nehmen: Wir schaden uns selbst, wenn wir diesen Tausenden Jugendlichen nicht die Möglichkeit geben, anerkannte Abschlüsse zu erzielen, die sie befähigen, in den ersten Arbeitsmarkt zu kommen. Warum ist das so? – Das ist so, weil sie sonst Arbeitslosengeld II beziehen. Dort kosten sie uns das Doppelte.

Deswegen ist das nicht nur sozialpolitisch vernünftig. Es ist eine wirtschaftspolitische und vor allem auch finanzpolitische Notwendigkeit, diesen Jugendlichen vermehrt zu Abschlüssen zu verhelfen.

Sie haben das Problem heruntergeredet. Sie haben die Pressemitteilung nur zur Hälfte vorgelesen und dann gesagt: Da gibt es eigentlich kein Problem, da wird nur Wind gemacht. – Das ist der falsche Ansatz. Sie müssen das Problem ernst nehmen. Wir streiten nicht über die Zahlen oder über die Statistik. Wir reden über die Zukunft Tausender Jugendlicher und deren Perspektive. Wir reden nicht darüber, ob ein Zebrastreifen früher oder später gebaut wird. Wir reden über die Zukunft und das Einkommen dieser Jugendlichen.

Ich wiederhole mich da. Das ist eine dramatische Situation. Ich finde, die Öffentlichkeit nimmt noch viel zu wenig wahrnehmen, wie es denen eigentlich geht. Es steht nicht jeden Tag in den Zeitungen, dass es Tausende Jugendliche gibt, die keine Chance auf dem Arbeitsmarkt haben.

Deswegen appellieren wir noch einmal an Sie, diesen Dreiklang zu nutzen, nämlich Druck auf die Unternehmen zu machen, in der Schule besser zu fördern und dann letzten Endes auch öffentlich geförderte Erstausbildungsplätze, damit die Jugendlichen auch einen Platz in unserer Gesellschaft finden können.

Negieren Sie das Problem nicht. Spielen Sie es nicht herunter. Sie sind als Landesregierung in der Verantwortung und in der Pflicht. Ich appelliere an Sie noch einmal im Namen meiner Fraktion: Schaffen Sie für die Jugendlichen mehr Ausbildungsplätze. – Danke schön.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Vizepräsident Heinrich Heidel:

Schönen Dank, Herr Kollege Bocklet.

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