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08.10.2009
Portraitfoto von Marcus Bocklet vor grauem Hintergrund.

Marcus Bocklet zu Studie und Maßnahmen gegen Jugendgewalt in Hessen

Herr Präsident, danke schön! Herr Minister, haben Sie noch fünf Minuten Geduld.

(Heiterkeit bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

Herr Bellino, wir erinnern uns noch gut an die sehr sachlich und differenziert geführte Debatte von Roland Koch am 29. Dezember 2007 über die damaligen Vorgänge. Wir können uns alle sehr gut daran erinnern, wie fragil und vorsichtig Herr Roland Koch vorgegangen ist, um damals den Überfall in der Münchner U-Bahn aufzugreifen. Daran erinnern wir uns noch alle im Saale. So wünscht man sich differenzierte Debatten über Gewalt, genauso.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der LINKEN – Zurufe der Abg. Holger Bellino und Volker Hoff (CDU))

Ich möchte eigentlich den Versuch unternehmen, das Thema einen Tick differenzierter anzugehen, weil ich glaube, dass es den meisten Menschen in diesem Land mittlerweile richtig auf den Senkel geht, dass es bei jedem Vorfall, der in diesem Lande passiert, effektheischerische und populistische Forderungen gibt, die voreilig sind und in der Sache nicht weiterhelfen. Ich bin fest davon überzeugt, dass es den meisten Menschen auf den Nerv geht, wenn einen Tag nach einem Unfall, Überfall oder anderem sofort gesagt wird: „Jetzt weiß ich aber genau, wie es geht.“ Ich glaube, dass uns dies in den zukünftigen Diskussionen nicht weiterhilft.

Ich meine, eine Beschäftigung mit der Studie, die uns vom Kriminologischen Institut vorliegt, hätte uns tatsächlich weitergeholfen. Es sind 44.000 Jugendliche befragt worden. Ich finde, das ist ein sehr bemerkenswerter Perspektivwechsel – weg von vielen Institutionsbefragungen, hin zu den Jugendlichen selbst und dahin, wie sie eigentlich ihre Bedrohungssituation und Veränderung wahrnehmen.

Es wurden in der Bundesrepublik 61 Orte untersucht, davon vier in Hessen: Frankfurt, Gießen, in Hersfeld-Rotenburg und im Werra-Meißner-Kreis. Das waren ungefähr 2.500 Jugendliche aus Hessen. Ich finde es ganz beachtlich, welche Zahlen da zutage treten. Ich finde sie zum Teil aber auch widersprüchlich. Das zeigt, dass dieses Thema sehr komplex ist. Ich nenne nur ein Beispiel: 20 % der befragten Jugendlichen sprechen davon, dass sie in den letzten Monaten ein- oder mehrmals in der Schule mit Gewalt konfrontiert worden seien. Und 20 % der befragten Jugendlichen sagen, dass sie mit innerfamiliärer Gewalt in Kontakt gekommen, also in ihrer Familie geschlagen worden seien. Darüber hinaus wird aber gleichzeitig gesagt, der Anteil dieser Jugendlichen, die diese Gewalterfahrung gemacht hätten, sei im Vergleich zu den Zahlen der noch vor zehn Jahren durchgeführten Befragung, damals wurden sie also auch schon befragt, von 24 auf 18 % gesunken. Vor zehn Jahren waren es also noch mehr Jugendliche, die in einem vergleichbaren Zeitraum so eine Gewalterfahrung gemacht haben.

Auch die Versicherungen melden, dass die Jugendgewalt, die gemeldeten Fälle an den Grundschulen, die sogenannten Raufunfälle, um 31 % zurückgegangen sei. Das ist widersprüchlich, weil die Polizeianzeigen um 54 % gestiegen sind. Die Jugendlichen selbst melden im Vergleich zu den letzten zehn Jahren eigentlich eine sinkende Jugendgewalt. Die Polizeianzeigen steigen aber. Ich finde, das bedarf einer differenzierten Diskussion. Deswegen finde ich es auch unterstützenswert, dass die LINKE sagt, wir müssten diese Studie dafür nutzen, um das in Hessen an mehr als vier Standorten zu untersuchen. Ich finde auch den Ergänzungsantrag der SPD richtig, der besagt: Wir wollen nicht nur rechtsextreme Gewalt fokussieren; wir wollen es grundsätzlich diskutieren. Ich finde, es ist eigentlich längst überfällig, dass wir eine differenzierte Anhörung bzw. Studie vorgelegt bekommen, die sich genau dieses Themas profund annimmt.

Was wir aber in dieser Studie wieder bestätigt bekommen, ist, dass es eines ganzheitlichen Ansatzes zur Bekämpfung von Jugendgewalt bedarf. Wir wissen, dass diese Studie zum x-ten Mal belegt, dass wir eine konsequente Prävention, Bildung für sozial schwache, die zur Teilhabegerechtigkeit führt, eine Jugendrechtsprechung, die schnell reagiert, und einen Strafvollzug brauchen, der Priorität auf Wiedereingliederung der Jugendlichen, auf pädagogische Begleitung und Erziehungsziele legt. Das ist alles bekannt. Das ist nicht unbedingt neu. Nur lautet der Streit darüber immer wieder, ob es auch tatsächlich umgesetzt wird.

Ich glaube, es wird noch viele weitere Studien geben. Wenn wir aber in diesen Fällen keine konsequente Prävention angehen, werden wir noch so viele Verschärfungen von Jugendstrafen fordern können, es wird uns aber nicht zu dem Ziel führen, dass die Jugendgewalt weniger wird. Es nutzt also nichts, zu sagen: Wir erhöhen die Haftstrafen von 10 auf 15 Jahre, denn der Jugendliche, der diese Straftaten begeht, hat schon keine Angst vor 10 Jahren Haft, dieser wird auch vor 15 Jahren Haft keine haben. Deswegen geht es nur darum, das Bildungssystem so hinzukriegen, da wir diese vier Faktoren haben, dass es – –

Vizepräsident Lothar Quanz:

Herr Bocklet, bitte kommen Sie zum Schluss.

Marcus Bocklet (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Wir haben diese vier Faktoren. Wir wissen, worum es geht. Es geht um innerfamiliäre Gewalt und Ausgrenzung bei der Bildung. – Nancy Faeser, wir waren gerade gestern bei den Pfarrern. Ein Jugendpfarrer der Justizvollzugsanstalt Rockenberg hat uns berichtet, es gebe von 210 Insassen nur zwei mit gymnasialem Bildungsabschluss, das heißt: Es sind im Wesentlichen Hauptschüler oder welche ohne Abschluss, die in Rockenberg einsitzen. Wir wissen all dies; und im gleichen Atemzug wird die Prävention nicht verstärkt. Wir bräuchten bei dem Bildungs- und Erziehungsplan Mittel.

Vizepräsident Lothar Quanz:

Herr Bocklet.

Marcus Bocklet (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Ich komme zum Schluss. – Und die Schulsozialarbeit wird auch nicht gestärkt, daher handeln Sie. Handeln Sie in der Prävention, und wir werden weniger Jugendgewalt in diesem Lande haben. – Danke.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der LINKEN)

Vizepräsident Lothar Quanz:

Vielen Dank, Herr Bocklet.

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