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30.09.2010
Portraitfoto von Marcus Bocklet vor grauem Hintergrund.

Marcus Bocklet: Regelsatz angemessen gestalten

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist wirklich beachtlich, was sich in Berlin abspielt.

(Zuruf des Abg. Thorsten Schäfer-Gümbel (SPD))

Ich glaube, es ist ganz wichtig, in bestimmten Situationen einen kühlen Kopf zu bewahren. Herr Dr. Bartelt, das fällt sichtlich schwer – ich gebe das offen zu.

Ich möchte mit der Frage beginnen: Welchen Sozialstaat wollen wir? Welche Leitplanken hat uns das Bundesverfassungsgericht dafür gegeben?

(Zuruf des Abg. Helmut Peuser (CDU))

Für uns GRÜNE gilt das, was das Grundgesetz in Art. 20 sagt: Die Bundesrepublik ist ein demokratischer und sozialer Staat.

Wir haben ein Sozialgesetzbuch. Treffender kann es nicht formuliert werden als es dort in § 1 Abs. 1 steht:

Das Recht des Sozialgesetzbuchs soll zur Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit und sozialer Sicherheit Sozialleistungen einschließlich sozialer und erzieherischer Hilfen gestalten. Es soll dazu beitragen, ein menschenwürdiges Dasein zu sichern, gleiche Voraussetzungen für die freie Entfaltung der Persönlichkeit, insbesondere auch für junge Menschen, zu schaffen, die Familie zu schützen und zu fördern, den Erwerb des Lebensunterhalts durch eine frei gewählte Tätigkeit zu ermöglichen und besondere Belastungen des Lebens, auch durch Hilfe zur Selbsthilfe, abzuwenden oder auszugleichen.

Für uns GRÜNE sage ich: Wir stehen zu hundert Prozent hinter dieser Philosophie.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dagegen gibt es natürlich eine ideologische Debatte, die schon den Verdacht erhärtet – ich schaue hier besonders auf die Kollegen von der FDP –, dass Sie hinter diesen Grundsätzen des Sozialgesetzbuches nicht stehen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN)

Man muss die Diskussion nach der Veröffentlichung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts sehen, in der über spätrömische Dekadenz schwadroniert wurde, in der andererseits der Finanzminister schon von vornherein erklärt hat,

(Zuruf des Abg. Florian Rentsch (FDP))

dass es überhaupt keine Erhöhung der Regelsätze geben darf. Da erhält man nachhaltig den Eindruck, dass er in der folgenden Zeit nichts unternommen hat, um eine Neuberechnung der Grundsätze der Regelsätze zu vollziehen. Es ist ein rein politischer Gestaltungsspielraum, der hier die Schrift trägt.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Um es auf den Punkt zu bringen: Herr Westerwelle und Herr Schäuble haben dieses Gesetz geschrieben. Sie haben auf dem Rücken der Langzeitarbeitslosen ihre politischen Gestaltungsspielräume genutzt, und sie haben sie voll durchschlagen lassen.

Da ich schon ahne, dass solche Formulierungen aus dem Sozialgesetzbuch der FDP Schauer des Grauens über den Rücken jagen, will ich Sie an Ihren eigenen Maßstäben messen. Die Bundesregierung hat drei Argumente ins Feld geführt: Wir wollen erstens genau berechnen, wir wollen zweitens, dass es im finanzpolitisch Vertretbaren bleibt, und drittens wollen wir den Langzeitarbeitslosen schnell aus der Arbeitslosigkeit helfen. An diesen drei Maßstäben möchte ich Sie messen.

Erstens, die Berechnung. Sie nehmen die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe, und Sie nehmen statt 20 Prozent willkürlich 15 Prozent.

(Zuruf des Abg. René Rock (FDP))

– Ich habe hier den Referentenentwurf. Herr Kollege, Sie brauchen mit den Zwischenrufen gar nicht zu kommen. Wir haben uns ausführlich damit beschäftigt. Ich weiß nicht, ob Sie den Referentenentwurf vorliegen haben.

(Zuruf des Abg. René Rock (FDP))

Sie nehmen schon als Basisgrundlage weniger Geld für die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe.

Zweitens machen Sie von dieser errechneten Grundlage willkürlich Abschläge. Der Paritätische Wohlfahrtsverband hat zu Recht bemerkt, dass das ganz schwer verständlich ist. Dann zu sagen, es habe eine wissenschaftliche Objektivität, schlägt dem Fass den Boden aus. Schauen Sie sich an, Frau von der Leyen fordert die Opposition auf: Nennen Sie andere Berechnungsgrundlagen.

Wir sagen sie Ihnen. Erstens. Nehmen Sie die vollständige Basisgrundlage von 20 Prozent. Zweitens. Erklären Sie bitte die willkürlichen Abschläge.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf des Abg. Florian Rentsch (FDP))

Es gibt Abschläge. Bei Nahrungsmitteln und Getränken nehmen die Kollegen 96 Prozent statt 100 Prozent. Das heißt, der gemeine Hartz-IV-Empfänger kann die letzen vier Tage im Monat nichts essen und nichts trinken.

(Zurufe von der FDP: Oh!)

Das kann man so machen. Bei Bekleidung und Schuhen sind es plötzlich nur noch 88 %, bei der Freizeit nur noch 42 Prozent.

Der Paritätische Wohlfahrtsverband hat seit vier Jahren eine Expertise vorgelegt, ein Gutachten erstellt. Er hat die Berechnungsgrundlagen und die Abschläge plausibel dargelegt. Wir können Ihnen unsere Berechnungen transparent und sauber vorlegen, und wir kommen zu einem anderen Ergebnis als Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN – Zuruf des Abg. Florian Rentsch (FDP))

Was das Berechnen betrifft, darf ich noch etwas sagen. Sie weisen weit von sich, dass irgendeine politische Einflussnahme auf die Berechnung der Regelsätze stattgefunden habe.

(Zuruf des Abg. Florian Rentsch (FDP))

Eine heiße Spur führt zu einem Zahlendreher. Ich glaube, das stammt aus der „Berliner Zeitung“. Die Regierung wird dabei ertappt, wie sie vergessen hat, ihre Dateien korrekt zu löschen. In den ersten Entwürfen standen noch 39 € bei Unterhaltung und Kultur. Jetzt sind es 31 Euro. Bei Telefon waren es auch 39 Euro. Jetzt sind es 31 Euro.

Wir hatten das auch einmal hier. Wir haben auch einmal aus Versehen eine Computerdatei falsch ausgedruckt, weil uns ein Fehler unterlaufen ist. Ihnen ist ein Fehler unterlaufen, und Sie sind dabei erwischt worden, wie Sie es runtergerechnet haben, damit Sie keine ordentliche Erhöhung machen müssen. Das ist das Problem Ihrer Berechnung. Eigentlich müsste Ihnen die Schamesröte ins Gesicht steigen, da Sie dabei erwischt wurden, dass Sie die Politik als Maßstab nehmen und nicht eine ordentliche Berechnungsgrundlage.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Zweitens. Der Kollege Schäfer-Gümbel hat es angedeutet: Wir müssen uns die ganzen Transferleistungen anschauen. Wir verstehen als GRÜNE nicht, und wir haben es auch damals gesagt, wie Sie 30 Euro Kindergeld für alle in der Bundesrepublik ausschütten – das kostet über 3 Milliarden Euro –, wie Sie eine Herdprämie von 150 Euro für Mütter einführen wollen, die zu Hause ihre Kinder betreuen. Das sind 4 Milliarden Euro.

Ich weiß, Sie können es nicht mehr hören, aber wir werden es Ihnen bis zur nächsten Wahl immer wieder hinterhertragen: Die Erhöhung der Regelsätze bedeutet 290 Millionen Euro mehr. Sie haben aber den Hoteliers 1 Milliarde Euro hinterhergeworfen. Hören Sie auf, von finanzpolitischer Kompetenz zu schwadronieren.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der LINKEN)

Jetzt kommen wir zu einem anderen Punkt. Sie wollen helfen, dass Langzeitarbeitslose schnell aus Hartz IV herauskommen. Schauen wir uns die Realität an. Was hilft Menschen aus Hartz IV? Eingliederungsleistungen, Eingliederungsmittel, Fortbildung und Weiterqualifizierung. Was macht diese Bundesregierung? 25 Prozent dieser Mittel wurden gekürzt. Das heißt, dem Land Hessen werden 70 Millionen Euro Eingliederungsmittel fehlen. Das ist eine bodenlose Frechheit. Sie wollen den Menschen nicht helfen und sie wieder eingliedern. Sie wollen das Geld sparen auf Teufel komm raus.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der LINKEN – Clemens Reif (CDU): Abenteuerliche Unterstellung!)

Diese Gelder wären richtig angelegt, weil wir wissen, dass Langzeitarbeitslose ein Problem in der Bildung, in der Qualifikation haben. Wir müssen ihnen helfen, dort herauszukommen. Können Sie uns erklären, wenn Sie den Jobcentern 70 Millionen Euro wegnehmen, wie sie überhaupt noch sinnvoll diese Eingliederungsmaßnahmen machen sollen? Wie sollen sie sinnvoll fortbilden und weiterbilden? Können Sie das erklären? Es ist Ihnen schlicht wurscht. Sie machen diesen Etat zu einer Sparbüchse Ihrer Politik. Ihnen geht es in Wirklichkeit nicht darum, Hartz-IV-Empfängern zu helfen. Das ist reines politisches Weltbild, das Sie hier durchsetzen und keine wahre Arbeitsmarktpolitik.

(Lachen bei der FDP – Clemens Reif (CDU))

Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir haben auch eigene Vorschläge: Wir wollen eine saubere Berechnungsgrundlage. Wir haben uns gestützt auf den Paritätischen Wohlfahrtsverband. Er hat die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe vorgelegt. Er hat dazu auch klargelegt, welche Abschläge vorzunehmen oder zu unterlassen sind, welche Inhalte hereinzunehmen sind. Auf dieser Grundlage sind wir für Erwachsene bei 415 Euro gelandet.

Es ist bekannt – das ist unstreitig zwischen fortschrittlichen Leuten, die sich mit der Realität auseinandersetzten –, dass wir auch bei Kindern gefordert haben, dass es eine eigene Berechnungsgrundlage gibt. Wieder gibt es keine eigene Berechnungsgrundlage. Schauen Sie sich den Referentenentwurf an. Wieder wurden nur Abschläge von Erwachsenen genommen und kein eigenständiger Regelsatz. Das ist ein Widerspruch zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das ist ein ganz billiger Widerspruch. Sie kommen dem nicht nach.

Wenn wir feststellen, Sie berechnen nicht richtig, Sie fördern nicht richtig, und in der Finanzierung wollen Sie zwar, aber können nicht, dann ist das, was in Berlin stattfindet, an Ihren eigenen Maßstäben gemessen ein unwürdiges Schauspiel. Am Ende kommen 16 Cent für betroffene Hartz-IV-Empfänger raus. 5 €, das ist eine Provokation. Man muss es so sagen. Das entspricht nicht der Lebenserfahrung. Das hilft auch nicht den Kindern.

Wenn ich das Stichwort noch sagen darf: Sie wollen 120 € pro Kind und Jahr, also 10 € im Monat, geben. Das wollen Sie über die Jobcenter geben. Sie müssen aber noch hineinrechnen, dass diese Jobcenter ihre Verwaltungskosten haben. Dann werden am Ende 6 oder 7 € bei den Kindern landen. Dazu kommt noch, dass wir nicht glauben, dass das Jobcenter das richtige Verteilzentrum für diese Leistung ist. Warum nicht die Jugendämter? Die Jobcenter sind heute schon damit überfordert, wirklich fundiert und klug zu beraten und einzugliedern. Denen geben Sie jetzt noch die Aufgabe, für Bildung zuständig zu werden. Wir bezweifeln den Sinn dieses Verfahrens nachhaltig. Wir finden es richtig, dass ein Bildungspaket angestrebt wird. Es ist aber zu wenig, das ist auch klar. Wir haben gesagt, in diesem Dreiklang von Berechnen, Finanzpolitik und Helfen der Hartz-IV-Empfänger versagt die Bundesregierung.

Vizepräsident Lothar Quanz:

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.

Marcus Bocklet:

Ich komme zum Schluss. – Meine sehr verehrten Damen und Herren, der soziale Friede war unter Helmut Kohl und Norbert Blüm noch ein Wert. Ich bezweifele, dass wir so den sozialen Frieden nachhaltig gewährleisten können. Sie leisten den Sozialhilfeempfängern einen Bärendienst. – Ich danke Ihnen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Lothar Quanz:

Danke schön, Herr Bocklet.

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