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24.06.2015
Portraitfoto von Marcus Bocklet vor grauem Hintergrund.

Marcus Bocklet: Sanktionen im Leistungsbezug SGB II

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Die LINKE hat mit dem Gerichtsurteil aus Gotha einen Punkt aufgegriffen, der spannender und interessanter werden kann, als es die Debatte und der Diskussionsverlauf zunächst erahnen lassen. Wenn sich das Gerichtsurteil von Gotha über das Bundesverfassungsgericht bestätigt, dann wird die Grundsatzfrage neu zu diskutieren sein, inwieweit Sanktionen im Sozialhilfebezug zulässig sind. Das ist der sachliche Hintergrund dieser Diskussion. All diejenigen, die im Jahr 2004 auf der Grundlage von Fördern und Fordern Hartz IV mit beschlossen haben, werden sich die Frage stellen, inwieweit Fordern im Sinne von Sanktionen noch zulässig ist. Um diese Grundsatzfrage geht es.

Das Sozialgesetzbuch und auch das BSHG haben bisher immer vorgesehen, dass es eine Mitwirkungspflicht gibt. Frau Kollegin Schott, jeder, der öffentliche Leistungen bezieht, hat eine Mitwirkungspflicht. Sie müssen sich die Frage stellen, ob Sie hinter dieser Antwort stehen. Sind auch Sie der Meinung, dass Empfänger von Sozialhilfeleistungen eine Mitwirkungspflicht haben, beispielsweise bei der Dokumentation dessen, dass sie sich in einer Notlage befinden.

Wir GRÜNE haben das schon immer befürwortet und immer gesagt: Es muss auch weiterhin eine Mitwirkungspflicht geben. Sonst kann man auch davon ausgehen, dass unter Umständen keine Notlage vorliegt. Dafür bedarf es einer Mitwirkungspflicht. Systemimmanent und logisch ist: Wenn es einer Mitwirkungspflicht bedarf, dann muss es zu Sanktionen kommen, wenn dieser Mitwirkungspflicht nicht nachgekommen wird.

Damit keine Missverständnisse entstehen, sage ich es noch einmal: Die Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums ist ein Grundrecht und hat in der Bundesrepublik einen extrem hohen Stellenwert. Das finden wir richtig. Das Sozialstaatsprinzip muss gelten. Die Sicherung der physischen Existenz und das Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben stehen nicht zur Disposition. Wenn wir aber in diesem Haus einen Konsens darüber haben, dass Empfänger von Leistungen Mitwirkungspflichten haben, dann wird es darum gehen, ob durch die Verhängung von Sanktionen die Rechte und Pflichten des Leistungsberechtigten auf der einen Seite und die Rechte und Pflichten des Staates auf der anderen Seite in einer fairen Balance zueinanderstehen. Das ist in der Tat eines großen Nachdenkens wert.

Frau Schott, ich hätte wirklich gerne eine ernsthafte inhaltliche Antwort von Ihnen, ob Sie diese Frage mit Ja beantworten. Wenn es so ist, dass wir eine Mitwirkungspflicht erwarten, dann müssen wir uns mit der Frage beschäftigen, ob Sanktionen zulässig sind und wenn ja welche. Meine Bundestagsfraktion – ich hatte auch die Gelegenheit, daran mitzuarbeiten – ist der Ansicht, dass es auch weiterhin möglich sein muss, zu sanktionieren. Die Frage ist nur, wie.

Jetzt schauen wir uns einmal die konkreten Zahlen an. Wir haben eine Million ausgesprochene Sanktionen. Davon sind 730.000, also 73 Prozent, ausgesprochen worden, weil die Betroffenen überhaupt nicht zum Gespräch erschienen sind. Sie sind der ersten, der zweiten und sogar der dritten Einladung zum Gespräch nicht gefolgt.

Frau Schott, da geht es also nicht darum, was Sie in Ihrer Rede gesagt haben. Ich bitte Sie ernsthaft, auch noch einmal in sich zu gehen. Die Betroffenen werden nicht drangsaliert, schikaniert oder sonst irgendwas. Sie sind einem Gesprächsangebot nicht gefolgt und haben mehrere Aufforderungen erhalten, dem Gespräch nachzukommen. Dann wurden ihnen Sanktionen angedroht. Das muss auch so sein. Diese Sanktionen werden in den Schritten minus 10 Prozent, minus 20 Prozent und minus 30 Prozent angedroht. Frau Schott, ich frage Sie: Wie kann man eine Notlage nachweisen, wenn der Gesprächspartner nicht kommt?

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der CDU)

Ich bin 2005 in den Hessischen Landtag eingezogen und halte seitdem immer wieder die gleiche Rede, dass nämlich die Eingliederungsleistungen der Bundesagentur für Arbeit, damals 350 Millionen Euro, heute 280 Millionen Euro jährlich, gerade in Hessen für die Förderung der Langzeitarbeitslosen nicht ausgeschöpft werden. Sie werden in uns GRÜNEN immer einen Anwalt dafür finden, dass die Langzeitarbeitslosigkeit gut und qualitativ hochwertig gefördert wird. Sie muss eingegliedert, integriert und möglichst nachhaltig mit Fortbildungen oder Ausbildungen begleitet werden. Umgekehrt dürfen Sie sich aber nicht vor der Frage drücken, wie wir mit den Menschen umgehen, die gar nicht erst erscheinen, um sich helfen zu lassen. Diese Frage bleibt offen.

(Beifall bei der CDU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Frau Schott, bei dem Vorwurf, wir bekämpften die Armen, bitte ich Sie um eine etwas differenziertere Darstellung der Realitäten. Wir haben 4,4 Millionen erwerbsfähige Sozialhilfeempfänger. Davon sind 4 Prozent von Sanktionen betroffen. Nur 0,1 Prozent ist von Totalsanktionen betroffen. Das heißt, die Zuschüsse wurden komplett gestrichen.

Das sind die Zahlen einer Antwort auf eine Anfrage der GRÜNEN im Bundestag. Diese Zahlen sind ziemlich neu. Man darf also nicht das Bild skizzieren, wir würden die Armen verfolgen und bekämpfen. Es geht um die Philosophie, die der Sozialstaat für sich definiert: Wir helfen jedem Menschen, der in eine Notlage kommt. Wir wollen, dass er gefördert wird und selbstbestimmt aus dieser Notlage wieder herauskommt. Wir erwarten aber auch, und das schon seit Jahrzehnten, dass er daran mitwirkt. – Das ist doch das Minimum.

(Beifall bei der CDU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es handelt sich also um 4 Prozent der Sozialhilfeempfänger, die von Sanktionen betroffen sind. Von diesen 4 Prozent sind 73 Prozent nicht zu den Gesprächen gekommen. Reden wir über das letzte Viertel. In der Tat, daran übe ich große Kritik, meine Bundestagsfraktion sieht das ähnlich: Wir dürfen keine Sanktionen über Menschen verhängen, die sich weigern, bestimmte Eingliederungspläne zu unterschreiben, weil sie damit nicht einverstanden sind. Meine Bundestagsfraktion hat zu Recht gesagt, für diese 25 Prozent brauchen wir ein Sanktionsmoratorium. In vielen Jobcentern ist die Balance zwischen Fördern und Fordern noch nicht so, wie wir sie uns wünschen, dass man nämlich auf die Ausbildungen und Fortbildungen der Menschen eingeht. Wenn jemand sagt, das sei nicht das Passende, dann darf man ihn dafür nicht sanktionieren und bestrafen.

In diesem Punkt fordern wir ein Sanktionsmoratorium. Aber insgesamt zu sagen: „Das ist alles ungerecht, unsozial, skandalös, ihr verfolgt die Armen“, das ist völlig am Ziel vorbeigeschossen, meine sehr verehrten Damen und Herren.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der CDU)

Die Zahlen sind vorhanden. Wir wollen uns gerne dieser Diskussion kritisch stellen, wir wollen sie aber auch konstruktiv führen und wollen auch von Ihnen Antworten hören. Wenn das Bundesverfassungsgericht tatsächlich sagt, Sanktionen dürfen nicht sein, weil es ein Existenzminimum gibt: Ein Existenzminimum bedeutet, darunter ist die Existenz gefährdet.

(Zuruf der Abg. Janine Wissler (DIE LINKE))

Das ist ja logisch. Wenn ich von diesem absolut unteren Boden etwas wegnehme, dann gefährde ich die Existenz des Menschen. Das ist eine Logik. Und wenn das Bundesverfassungsgericht sagt, wir dürfen nicht darunter gehen, dann sind wir hier alle aufgefordert, darüber nachzudenken, welche Konsequenzen wir daraus ziehen. Das haben wir als CDU GRÜNE in diesen Antrag, den wir hier vorgelegt haben, auch hineingeschrieben. Wir warten das Urteil ab; das ist völlig richtig. Zweitens. Wenn es so sein sollte, dass Gotha bestätigt wird, dann müssen wir ernsthaft darüber nachdenken, wie wir in diesem System „Fördern und fordern“ diese Sanktionen neu diskutieren und neu ausrichten.

(Zuruf der Abg. Janine Wissler (DIE LINKE))

Genau darum geht es. Ich folge dem Herrn Decker nicht, in diesem Punkt Schnellschüsse zu machen. Erstens ist es vom Bundesverfassungsgericht noch nicht bestätigt,

(Zuruf der Abg. Janine Wissler (DIE LINKE))

und zweitens bin ich trotzdem der Meinung, dass es bei der Mitwirkungspflicht bleiben muss und dass wir dann mit Augenmaß darüber reden müssen, wie wir dem Ziel dienen, dass der Mensch wieder in Arbeit kommt und wir das angemessen fördern. Darüber können wir auch gerne eine extra Aktuelle Stunde machen.

(Zuruf der Abg. Janine Wissler (DIE LINKE))

Ich glaube, dass wir weit davon entfernt sind, dass die Jobcenter so aufgestellt sind, dass dort paradiesische Verhältnisse sind: extrem hohe Mitarbeiterfluktuation, die Eingliederungstitel werden nicht ausgeschöpft, die Maßnahmen sind oft nur kurzfristig, und das sogenannte Creaming, einfach nur schnell vermittelt, und dann kommen sie wieder mit dem Drehtüreffekt. Beim Fördern gibt es viele große Defizite. Da müssen wir weiter aktiv darauf drängen.

Aber ich entlasse DIE LINKE nicht aus dieser Frage: Wenn Sie Mitwirkungspflichten wollen, wenn jemand einen Leistungsbezug bekommt, dann muss es logischerweise auch ein Sanktionsmittel geben. Sollte das Bundesverfassungsgericht zu dem Urteil kommen, dass unser System, so wie es jetzt ist, rechtswidrig ist, dann sind wir alle aufgefordert, darüber neu nachzudenken. Und das ist in diesem Moment dann auch richtig. – Ich danke Ihnen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der CDU)

Vizepräsident Frank Lortz:

Vielen Dank, Herr Kollege Bocklet.

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