Inhalt

28.02.2013
Portraitfoto von Marcus Bocklet vor grauem Hintergrund.

Marcus Bocklet: Kinderförderungsgesetz

Sehr geehrter Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kolle- gen von der CDU und der FDP, ich werde Ihnen nicht den Gefallen tun, darauf zu verzichten, Ihnen die großen Schwächen dieses Gesetzentwurfs vorzuhalten.

Wir können uns nachher gern noch über das Kleingedruckte unterhalten. Wir werden uns aber zu- nächst über die Frage zu unterhalten haben, warum und in welcher Zeit ein Kinderförderungsgesetz gemacht wird. Es wird in einer Zeit gemacht, in der uns in Hessen nach Ihren eigenen Angaben nach wie vor 8.000 Plätze fehlen, um den Rechtsanspruch auf Betreuung unter Dreijähriger zu erfüllen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Nach Ihrer eigenen Berechnung, sehr geehrter Herr Sozialminister, fehlen nach wie vor weit über 1.000 Fachkräfte, Erzieherinnen und Erzieher für die Kinderbetreuungseinrichtungen. – Habe ich eben das Wort „falsch“ gehört?

(Zuruf des Ministers Stefan Grüttner)

– Nein, genau das ist die Situation, und zwar nach Ihrer eigenen Rechnung, die Sie in Ihrer Studie von Dezember letzten Jahres angestellt haben. Herr Minister, ich merke, dass Sie nervös werden. Daher weiß ich, dass wir Sie am richtigen Punkt getroffen haben.

(Zuruf des Ministers Stefan Grüttner)

Ich weiß, wie man Sie weckt. Jetzt werden Sie richtig fuchsig. Das ist auch richtig so, weil Sie fünf Jahre lang um den Fachkräftebedarf wussten. Sie haben den Teufel getan, diesen Mangel zu beheben. Das ist der eigentliche Skandal.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN – Zurufe von der FDP)

Ich zitiere aus einem Protokoll vom Mai 2009. Der damalige Minister, Herrn Banzer – er sitzt ja noch hier –, hat uns damals vorgeworfen, das seien Katastrophenszenarios – –

(Lebhafte Zurufe des Abg. Manfred Pentz (CDU))

– Herr Kollege Abg. Banzer, Minister a. D. Ist die Etikette jetzt gewahrt?

Er hat damals gesagt, er halte nichts von Katastrophenszenarios und Alarmsignalen. Frau Wiesmann hat ergänzt, dass sei Alarmismus. Diese Diskussion fand im Jahre 2009 statt, vor vier Jahren. Damals hätte man noch etwas retten können, hätte man den Fachkräftemangel noch beheben können. Sie haben kläglich versagt. Das ist das Ergebnis, das man im Entwurf zum Hessischen Kinderförderungsge- setz wiederfindet.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)

Sie müssen nun beim Fachkräftebedarf panikartig eine Lösung finden, damit Kindereinrichtungen überhaupt noch in die Lage versetzt werden, Beschäftigte einzustellen.

Das ist der ausschließliche Grund, warum Sie „flexibilisieren“ bzw. – wie wir es sagen – Qualitätsstan- dards zur Disposition stellen. Die Verantwortung dafür tragen Sie, niemand anders.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Nach Auskunft der Hessischen Landesregierung machen – vom Land finanziert – nur 303 von rund 1.300 Grundschulen ganztägige Angebote. Dazu habe ich eine Kleine Anfrage gestellt. Ich finde, die Antworten sollte man sich noch einmal zu Gemüte führen.

Auf meine Frage, ob die Hessische Landesregierung wisse, wie viele Betreuungsplätze für Grundschulkinder es an den Grundschulen gebe, hat sie geantwortet, über die Anzahl der Betreuungsplätze lägen keine Informationen vor. Auf die nächste Frage, wie hoch der Bedarf an Betreuungsplätzen für Kinder von sechs bis zehn Jahren sei, hat die Hessische Landesregierung geantwortet, ihr lägen keine verlässlichen Daten über den Bedarf an Betreuungsplätzen für Kinder im Alter zwischen sechs und zehn Jahren vor.

Wissen Sie, was das bedeutet? Das bedeutet, dass die Hessische Landesregierung keine Ahnung da- von hat, wie hoch der Betreuungsbedarf bei Grundschulkindern im Alter zwischen sechs und zehn Jahren ist. Das ist eine Kapitulation vor der größten Aufgabe der Kinderbetreuung: Wir brauchen nämlich eine auskömmliche Betreuung der Grundschulkinder.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir müssen davon ausgehen, dass Zehntausende von Eltern vor der Frage stehen, wie sie ihre Grundschulkinder betreuen lassen können. Herr Minister, das ist im Jahr 2013 für viele Eltern ein brennendes Problem.

Wie wird das in dem Entwurf für dieses KiföG beantwortet? Frau Wiesmann sagt: Wir schützen den Bestand an alten Hortplätzen. – Das bestreitet auch niemand. Aber wo, bitte, gehen Sie diese Herausforderung mit einem Jota an? Nirgends. Deswegen haben Sie den Entwurf für dieses KiföG versägt und versenkt.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Willi van Ooyen (DIE LINKE))

Jetzt kommen wir zu der nächsten wichtigen Herausforderung. Das ist die Frage: Wie gehen wir in diesem Land mit Behinderten um? Wie gehen wir mit behinderten Kindern um? Hierbei geht es um die Inklusion. Der Kollege Mick sagt – das ist vielleicht nicht ganz fair –, das sei eine technische Frage.

Nein, das ist keine technische Frage. Bei der Frage geht es darum, ob die Landesregierung eine der wichtigsten sozialpolitischen Herausforderungen nicht nur mit dem lapidaren Satz „Im Übrigen gilt die UN-Behindertenrechtskonvention“ angeht, sondern ob sie den Mut hat, die Inklusion zu einem Bearbeitungsfeld in einem Landesgesetz zu machen. Diesen Mut hatten Sie nicht. Von der Inklusion steht nichts darin, und deswegen haben Sie den Zweck dieses Gesetzes verfehlt.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Willi van Ooyen (DIE LINKE))

Da Sie sagen, das alles sei doch nur hysterisches Geschrei, und alle anderen seien Handlanger der Opposition, darf ich aus der Stellungnahme der Beauftragten der Hessischen Landesregierung für Menschen mit Behinderungen zitieren. Ich glaube nicht, dass sie ein grünes Parteibuch hat. Aber es ist die Stellungnahme der Beauftragten der Hessischen Landesregierung für Menschen mit Behinderungen. Ich darf zitieren, was sie sagt:

Die in der Gesetzesbegründung angeführte Absicht zur Inklusion reicht dabei nicht aus, zumal sie keinen Niederschlag im Gesetz selbst findet.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Willi van Ooyen (DIE LINKE))

Ihre eigene Landesbeauftragte versenkt Ihnen in diesem Punkt den Gesetzentwurf. Blamabel, blamabel.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Willi van Ooyen (DIE LINKE))

Mit den Grundschulkindern haben Sie es nicht so, mit der Inklusion wollen Sie nicht wirklich etwas zu tun haben, und mit den Fachkräften haben Sie es versägt. Jetzt wollen Sie in letzter Minute noch et- was retten. Da bleibt Ihnen noch die Frage der Flexibilisierung der Mindeststandards.

Können wir uns jetzt auf irgendetwas einigen? Ich schlage vor, wir einigen uns auf Ihre These, die da lautet: Wir wollen flexibilisieren. – Wollen Sie flexibilisieren, ja oder nein? Sie wollen flexibilisieren.

(Zuruf des Ministers Stefan Grüttner)

– Das sagen der Kollege von der FDP und die Kollegin von der CDU. Die heilsbringende Botschaft dieses Gesetzentwurfs ist doch: Flexibilisierung für die Kommunen, Freiheit für die Träger. Was heißt „Flexibilisierung“? Wollen Sie es, oder wollen Sie es nicht? Wenn Sie es nicht wollen, ist es gut; dann hauen Sie diesen Gesetzentwurf in die Tonne. Wenn Sie bei den Fachkräften und bei der U-3-Betreu- ung keine Flexibilisierung wollen, müssen Sie den Entwurf für das KiföG verändern.

Wenn Sie sie allerdings wollen und gleichzeitig sagen: „Aber das ist doch nicht unser Bier; die Kinderbetreuung ist ein kommunaler Auftrag“, nehmen Sie das aus diesem Gesetzentwurf heraus. Warum schreiben Sie denn eine Flexibilisierung hinein, wenn Sie sie nicht wirklich wollen? Das ist doch schizophren.

Entweder man will eine Flexibilisierung, und sie führt zu Veränderungen bei den Qualitätsstandards, oder man will sie nicht. Wenn man sie nicht will – wie wir; wir haben nämlich eine Mindestverordnung –, darf man das nicht so in den Gesetzentwurf schreiben. Das ist der entscheidende Kritikpunkt. Sie haben den Gesetzentwurf falsch formuliert.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Willi van Ooyen (DIE LINKE))

Meine sehr verehrten Damen und Herren, es geht nicht nur darum, was man in ein solches Gesetz hineinschreibt, sondern sehr oft stellt sich auch die Frage, wie man mit den Akteuren der Kinderbetreuung umgeht. Ich weiß, das wird bei Ihnen auf taube Ohren stoßen. Wer fünf Jahre lang im Gutsherrnstil regiert hat, wird es vermutlich sechs Monate vor der Landtagswahl auch nicht mehr verstehen.

Wir sind der Überzeugung – Frau Wiesmann, das nennen Sie einen „running gag“ –, dass wir einen Betreuungsgipfel mit allen Akteuren der Kinderbetreuung brauchen. Das sind die Träger, die Eltern, die Kommunen und auch die Landesregierung. Wir brauchen in diesem Land einen Konsens darüber, was wir finanzieren müssen und was wir an Qualität und Quantität benötigen. Deswegen ist ein Betreuungsgipfel wichtig. Wir sind nämlich der Meinung, wir müssen miteinander reden und nicht übereinander. Schon gar nicht sollten die Gegner dieses Gesetzentwurfs beschimpft werden. Das ist der eigentliche Skandal.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Miteinander zu reden, statt die anderen zu beschimpfen, über die Betreuung der Grundschulkinder nachzudenken, die Inklusion tatsächlich auszubauen, den Fachkräftebedarf nicht derart zu flexibilisie- ren, wie Sie es vorhaben – schon sind wir auf einem deutlich besseren Weg.

In der nächsten Woche haben wir eine Anhörung; da werden Ihnen noch einmal die Löcher aus dem Käse fliegen. Es ist nicht so, dass nur ferngesteuerte GRÜNE oder ferngesteuerte Sozialdemokraten dorthin kommen. Es kommen auch viele Parteifreunde von Ihnen, inklusive derjenigen aus dem Main-Taunus-Kreis. Die Liste ist lang.

Aber das will ich Ihnen sagen: Wenn die Anhörung in der nächsten Woche läuft, werden Sie, so Sie das ernst meinen, aufgefordert sein, Korrekturen zuzulassen. Wenn Sie die Kernsäulen dieses Gesetzentwurfs nicht verändern wollen, bitten wir Sie eindringlich: Ziehen Sie ihn lieber zurück. – Vielen Dank.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Heinrich Heidel:

Schönen Dank, Herr Kollege Bocklet.

Kontakt