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14.12.2012
Portraitfoto von Marcus Bocklet vor grauem Hintergrund.

Marcus Bocklet: Hessisches Kinderförderungsgesetz

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir beraten das Kinderförderungsgesetz in erster Lesung. CDU und FDP haben das Ziel ausgegeben, Familienland Nummer 1 zu werden. Frau Wiesmann, wir haben Ihnen sehr genau zugehört: Sie haben die Eins weggelassen.
(Zuruf der Abg. Petra Fuhrmann (SPD))
Es ist ein erster Lerneffekt. Ich glaube, Sie werden es auch in dieser Legislaturperiode nicht mehr erreichen. Sie haben sich vorgenommen, im Koalitionsvertrag von CDU und FDP, die Kinderbetreuung zukunftsfähig zu regeln. Sie haben sich vorgenommen, und das ist ein hehres Ziel, Familienland Nummer 1 zu werden und die Kinderförderung und -betreuung zukunftsfähig zu regeln. Wenn man diesen Entwurf aber an Ihren Maßstäben misst, sind wir leider Lichtjahre davon entfernt, Ihren Ansprüchen zu genügen.
(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Ich möchte das gern ausführen. Jeder, der sich die Frage stellt, wie wir zukünftig mit Kinderbetreuung umgehen, muss sich zunächst einmal der Realität nähern und sich die Situation vergegenwärtigen, in der wir uns in Hessen im Moment befinden. Im Dezember 2012, also heute, fehlen über 9.000 Betreuungsplätze für Kinder unter drei Jahren. Wir haben als letzten Stand 49.000 Betreuungsplätze, das wurde am Montag vom Jugendhilfeausschuss bestätigt; wir brauchen aber 58.000, d. h., uns fehlen noch 9.000 Betreuungsplätze für Kinder unter drei Jahren.
Im Dezember 2012 fehlen für Grundschulkinder Tausende Betreuungsplätze an Grundschulen oder in Horten; und im Dezember 2012 fehlen über 3.000 Erzieherinnen und Erzieher im Bundesland Hessen. Dafür, das sollten wir bitte auch nie vergessen, trägt nur eine Stelle die volle Verantwortung in diesem Land: Das ist diese Landesregierung, und das werden wir Ihnen zu jeder Zeit noch einmal vorführen.
(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wer also mit diesem Kinderförderungsgesetz für die Kinderbetreuung und den Bildungs- und Erziehungsplan einen Rahmen setzen will – Frau Kollegin, es ist übrigens ein Bildungs- und Erziehungsplan, der von null bis zehn Jahren gilt, nicht von null bis sechs Jahren, deshalb beginne ich damit –, muss sich die Frage stellen, wie er Tausenden Eltern in Hessen die Frage beantwortet, und rechnerisch sind es, glaube ich, sogar zehntausende, wie wir diesen Eltern nach einer Betreuungskette von unter drei Jahren in der Krippe und im Kindergarten bis sechs Jahren eigentlich helfen werden, dass ihre Kinder um 12, 13 Uhr auskömmlich betreut werden.
Diese Frage wird in diesem Kinderförderungsgesetz mit keinem Wort beantwortet. Wie realitätsfern sind Sie eigentlich, meine sehr verehrten Damen und Herren?
(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Ein zweites Ergebnis dieses Kinderförderungsgesetzes ist, dass Ihnen – ich erwähnte es schon – über 3.000 Erzieherinnen und Erzieher fehlen. Ich bewundere die offene und ehrliche Art des Dr. Bartelt, der in seiner Presserklärung schreibt: „Aufgrund des mangelnden Fachkräftebestands werden wir ‚flexibilisieren‘ und 20 % fachfremdes Personal in die Kindergärten schicken.“
(Zuruf des Abg.René Rock (FDP))
– Was daran ist Blödsinn? Lesen Sie einmal Ihr eigenes Kinderförderungsgesetz, Herr Rock. – Was für eine Panikreaktion muss es sein, wenn man fünf Jahre lang die Situation verschlafen und zu wenige Ausbildungsplätze geschaffen hat. Was macht man jetzt? Jetzt wird fachfremdes Personal in Kindergärten geschickt. – Was für ein Desaster der frühkindlichen Bildung, meine sehr verehrten Damen und Herren.
(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)
Die fehlende Antwort auf die Grundschulkinderbetreuung sowie die Zulassung fachfremder Personen allein sind schon Anlass genug, dem Gesetz sehr kritisch gegenüberzustehen. Hinzu kommt aber, dass sich diese Woche mehrere Verbände und Organisationen der Kinderbetreuung zu der Frage der „Flexibilisierung“, wie Sie es nennen, geäußert haben. Diese besteht faktisch in der Zusammenlegung bzw. Kombination verschiedener Faktoren, weil viele Kommunen in ihrer Finanznot, in die Sie viele von ihnen gebracht haben – das muss ich nicht noch einmal extra wiederholen –, was faktisch eine Absenkung von Qualitätsstandards bedeutet. Was für ein Anachronismus, nachdem wir hier über fünf Jahre Qualitätsstandards diskutiert haben. Wenn das nicht zu einem selbstverständlichen Teil von Qualität in der frühkindlichen Bildung ist – wie anachronistisch und rückwärtsgewandt kann man ein solches Problem eigentlich angehen?
(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Lassen Sie mich deshalb noch einmal vier Punkte explizit ansprechen.
(Anhaltende Unruhe – Glockenzeichen des Präsidenten)
Mit der Pauschalierung, die Sie dort hineinschreiben – Sie haben es mit 22 Stunden angesprochen, Herr Kollege Merz, ich sage es nochmal –, werden die Öffnungszeiten auf 42,5 Stunden pauschaliert. Das bedeutet faktisch, dass viele Kitas, die den vollen Betrag ausschöpfen können, um 16 Uhr schließen werden. Wie rückwärtsgewandt ist das, wenn wir alles versuchen, um längere Öffnungszeiten in Kinderbetreuungseinrichtungen zu erreichen? Wir brauchen Öffnungszeiten bis 17 Uhr, damit die Vereinbarkeit von Familie und Beruf tatsächlich realisiert wird.
Zweitens. Hinsichtlich der Gruppengrößen – der Kollege Merz hat es schon angesprochen und der Kollege Rock hat versucht, es nicht wahrzunehmen – werden Sie in den Anhörungen belegt bekommen – mittlerweile läuft sogar eine Formel durch Hessen, mit der Sie es ganz einfach berechnen können –: Wenn man den vollen Förderzuschuss abschöpfen will, sind die Kommunen bzw. die Träger bei Kindern unter 3 Jahren, also den Krabbelkindern – bei Hortkindern lassen wir gern mit uns diskutieren –, gezwungen, die Gruppengröße von 10 auf 15, 16 anzuheben. Da muss man wirklich feststellen – gerade in Ihre Richtung, Frau Wiesmann, die ich immer wieder in der Frage der Bindungsforschung sehr überzeugend finde –, dass kleine Kinder eine feste Bindung und einen festen Bezugspunkt brauchen. Die Krippengruppen in unverantwortlicher Weise auf 16 aufzublasen, ist nicht daher tragbar.
(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der LINKEN)
Ein anderer Punkt ist die Umstellung der Finanzierung von Gruppen zu real betreuten Plätzen mittels Pauschalen. Dazu möchte ich etwas sagen, was vielleicht etwas überraschend wirkt: Das gibt es in vielen Städten schon. In Frankfurt z. B. gibt es die sogenannte betreute Platzpauschale. Die Frage ist immer, wie man diese Pauschale ausgestaltet. Es ist keine Grundsatzfrage, sondern eine Frage der Ausgestaltung dieser Pauschalen. Frankfurt hat es vor über 20 Jahren gemacht und vor allem eines getan, nämlich sich mit den Trägern und Verbänden zusammengesetzt und eine gemeinsame Einigung erzielt. Klar ist damit aber auch: Wenn Sie denselben Kuchen so verteilen, wie Sie es dann mit den betreuten Plätzen tun werden, wird es eine Veränderung von Finanzströmen hin zu großen Städten und Ballungsräumen geben, weil dort mehr Kinder betreut werden. Im ländlichen Raum schaffen Sie damit ein Problem, weil Kindergärten, die die Gruppen nicht bis oben voll haben, ein Problem mit ihrer Refinanzierung bekommen werden.
Ich glaube, das ist sicherlich eine Frage von Gerechtigkeit für die großen Kommunen, auch das Geld zu bekommen, was ihnen zusteht. Aber unser öffentliches Interesse kann es doch nicht sein, im ländlichen Raum soziale Infrastruktur zu zerstören. Deswegen brauchen wir auch dann eine Antwort, wie wir die Daseinsvorsorge auch für Kinder im ländlichen Raum aufrechterhalten – die Antwort, die Sie geben, ist es nicht, meine sehr verehrten Damen und Herren.
(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Ein letzter Punkt.
Vizepräsident Frank Lortz:
Den letzten Punkt aber bitte sehr gerafft, Herr Kollege Bocklet.
Marcus Bocklet:
Wir finden, Sie haben das Thema Inklusion sträflich vernachlässigt. Sie alle wollten, dass es gerade bei der Förderung von Behinderten- und Integrationsplätzen einen viel besseren Qualitätsstandard gibt. Wir haben eine große Zukunftsaufgabe bei der Inklusion.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wer glaubt, dass CDU und FDP eine gute Kinderbetreuungspolitik machen, der glaubt auch, dass der Wetterdienst das Wetter in Offenbach macht: Beides ist nicht der Fall. – Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN – Zuruf von der CDU)
Vizepräsident Frank Lortz:
Vielen Dank, Herr Kollege Bocklet.

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