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24.08.2011

Kordula Schulz-Asche: Gedenken an den 50. Jahrestag des Mauerbaus

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Der Hessische Landtag gedenkt heute des 50. Jahrestags des Mauerbaus. Wir gedenken bei dieser Gelegenheit der vielen Opfer, und zwar denjenigen, die an der Mauer gestorben sind, aber auch den Opfern, die hinter der Mauer verfolgt, inhaftiert und ermordet wurden. Viele junge Menschen kennen die Teilung der Welt in zwei große Blöcke, die Teilung Deutschlands und die Mauer nur noch aus Schulbüchern und Erzählungen. Hier sind viele von uns aber noch Zeitzeugen des Mauerbaus – ich war damals als kleine Westberlinerin rund fünf Jahre alt – und ihrer achtundzwanzigjährigen Existenz.

Wenn wir mit jungen Menschen darüber reden, dann sollten wir dies nicht historisierend tun, sondern so, dass man tatsächlich aus der Geschichte lernen kann. In Zeiten, in denen immer mehr Menschen an der Sinnhaftigkeit eines vereinigten Europas zweifeln, haben gerade wir Deutsche die Pflicht, für dieses Europa des Friedens zu werben.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der CDU, der SPD und der FDP)

Das Gedenken an den Mauerbau, an die Opfer ist unerlässlich. Aber der Mauerbau war auch in mehrfacher Hinsicht eine Zäsur, mit der wir uns befassen müssen. Zum einen war es eine weltpolitische Zäsur, denn der Umgang der Siegermächte des Zweiten Weltkrieges untereinander hat durch den Mauerbau eine neue Qualität erreicht. Durch die Aufteilung Deutschlands unter den vier Siegermächten verlief die Grenze mitten durch Westberlin und fast durch die Mitte Deutschlands. Es standen sich global zwei Blöcke gegenüber, die sich in ihren Systemen und Weltvorstellungen deutlich unterschieden: parlamentarische Demokratien mit ihrem kapitalistischen Wirtschaftsystem auf der einen, auf der anderen Seite eine Art Staatssozialismus ─ mit allen Einschränkungen, die der Kollege Merz gerade richtigerweise zum Begriff angemerkt hat ─ in Abhängigkeit von der Sowjetunion. Beide Blöcke versuchten mit Aufrüstung, Gewaltandrohung und Gewaltanwendung ihre Einflussgebiete weltweit zu vergrößern.

Mehrfach, aber eben gerade nach dem Mauerbau Ende 1961, stand die Gefahr eines dritten Weltkriegs im Raum. Das ist der erste Punkt, der mich an der aktuellen Diskussion in der Linkspartei und von selbsternannten Pazifisten irritiert: Der Mauerbau war eine gewollte kriegerische Eskalationsstufe, und wer ihren Bau in diesem Zusammenhang als Frieden sichernd bezeichnet, ist ein Zyniker.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der CDU, der SPD und der FDP)

Egon Bahr war einer der wichtigen politischen Akteure der damaligen Zeit an der Seite des Bürgermeisters Willy Brandt. Er schrieb am 13. August 2011 in der FAZ in diesem Zusammenhang über die Stimmung, auch in der politischen Führung in Westberlin:

Wenn die Grenze in Berlin die Grenze zwischen Krieg und Frieden war, würden wir auf unabsehbare Zeit mit der Teilung leben müssen.

Aufgrund des Besatzungsstatuts konnten gesamtdeutsche Interessen im Prinzip nur unterhalb der Rechte der Siegermächte wahrgenommen werden, und aus dieser Lage heraus entstand die Ost- und Entspannungspolitik. Und es war diese Politik, meine Damen und Herren, die die Grundlagen für das Viermächte-Abkommen über Berlin von 1971, die KSZE-Schlussakte von Helsinki von 1975 und letztendlich den Friedensvertrag von 1991, der Deutschland formal seine staatsrechtliche Souveränität zurückgab, vorbereitet hat.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der FDP)

Meine Damen und Herren, ich halte eine Aufarbeitung – und das möchte ich nach der Rede von Herrn Bellino ausdrücklich sagen – der damals sehr massiven Kritik aus CDU-Kreisen für angemessen und richtig. Ich rede ausdrücklich von der „Ära vor Helmut Kohl“; diese Zeit müsste auch in der CDU noch einmal selbstkritisch für die Zukunft reflektiert werden.

Der Bau der Mauer am 13. August 1961 war aber auch in einer weiteren Hinsicht eine schwerwiegende Zäsur. Die Mauer war das Eingeständnis, dass die Ideologen des Ostblocks selbst den Glauben daran verloren hatten, ihr System könnte durch Überzeugung Anhänger gewinnen. John F. Kennedy schrieb an Willy Brandt 1961 in Bezug auf die Mauer, dass das Einmauern der eigenen Bevölkerung sich als Niederlage der weltweit angelegten Ideologie herausstellen wird. Genauso ist es dann auch eingetreten.

Tatsächlich hatte es in der Geschichte der DDR mehrfach Möglichkeiten gegeben, sich als Regime und die Mauer zu öffnen, Reformen einzuleiten und Freiheitsrechte zuzulassen. Alle diese Chancen wurden gewollt nicht genutzt, weil das Vertrauen in die Menschen nicht vorhanden war, weil man sich bewusst war, dass nur durch Repressionen an der Macht festgehalten werden konnte.

Ich möchte dazu ein Beispiel nennen, weil mich das in gewisser Weise auch persönlich betroffen hatte: die 10. Weltfestspiele der Jugend und Studenten 1973 in Ostberlin. Anfang der Siebzigerjahre gab es den Grundlagenvertrag mit der DDR. Die wirtschaftliche Lage der DDR war relativ stabil, und Erich Honecker war gerade an die Spitze der SED-Führung gekommen, und man erhoffte sich, dass es sich hier um einen Mann der Reformen handeln könnte. Später stellte sich heraus, dass die Mauer zwar für Besucher der Weltfestspiele aus dem Ausland geöffnet wurde, Erich Honecker aber im gleichen Zuge den Schießbefehl an der Mauer bestätigt hatte. Ich glaube, das ist ein Zeichen dafür, dass selbst solche Chancen, wo man sagen könnte, dass die politische Lage viel mehr zugelassen hätte, eben bewusst nicht genutzt wurde.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der FDP)

Es war auch derselbe Erich Honecker, der am 19. Januar 1989 über die Mauer sagte:

Sie wird in 50 und auch in 100 Jahren noch bestehen bleiben, wenn die dazu vorhandenen Gründe noch nicht beseitigt sind.

Und der Grund dafür war 1961 der pure Machterhalt, genauso wie 1989, und deshalb stürzten Regime und Mauer gemeinsam.

Meine Damen und Herren, wir haben hier einen Antrag der Fraktion DIE LINKE, und wir werden diesem als GRÜNE aus zwei Gründen zustimmen: Zum einen enthält dieser Antrag inhaltlich nichts Falsches, und wir teilen diese Position gerade in Bezug auf Menschenrechte.

Zum zweiten verstehen wir diesen Antrag als eine deutliche Abgrenzung zur Diskussion, die derzeit in der restlichen Linkspartei geführt wird. Ich bin mir nicht sicher, ob dieser Antrag auch außerhalb der Linksfraktion in Hessen so gesehen wird. Das können wir nicht beurteilen, weil Sie diese Diskussion nicht öffentlich geführt haben. Wir GRÜNE sehen diesen Antrag als deutliche Kritik an der Führung der Linkspartei bundesweit und an dem Herumgeeiere der Bundesvorsitzenden in der Frage des Mauerbaus. Wir können diesen Antrag unterstützen, weil er inhaltlich richtig ist.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Erlauben Sie mir gerade nach der Rede, die Herr Dr. Wilken vorhin gehalten hat, etwas ausführlicher darauf einzugehen, was ich für notwendig halte, damit Ihnen das, was in diesem Antrag auf dem Papier steht, auch geglaubt werden könnte. Die geschmacklose Titelseite der Jungen Welt in Bezug auf die Mauer betrachtet, die ewig Gestrigen in Mecklenburg-Vorpommern und ihre Bundesvorsitzenden – wenn man es genau nimmt, braucht man manchmal keine Mauer zu bauen, manchmal reicht auch eine Insel, ich rede von Kuba –, möchte ich Folgendes sagen: Ich glaube, dass Ihre Glaubwürdigkeit und Ihr Vertrauen aufgrund der Geschichte solange nicht hergestellt sind, solange Sie in Ihrer Partei nicht eine zentrale Grundfrage in Bezug auf die DDR beantwortet haben. Diese lautet: Setzt man dann, wenn diese Form des Staatssozialismus, wie ich das jetzt einmal nenne, ein Übergangsstadium zum Kommunismus sein sollte, auf Überzeugung und demokratische Debatte oder auf Gewalt, Mauer und Staatssicherheit? Offensichtlich gibt es in der Linkspartei zu viele, die diesen zweiten Weg nicht ausschließen, und es gibt zu viele, die diesen Leuten aus welchen Gründen auch immer nach dem Munde reden. Deswegen glaube ich, dass Sie ganz dringend eine deutliche Abgrenzung und eine ganz deutliche Aussage, und zwar in allen Teilen Ihrer Partei zur Mauer und zu den Fragen der Unterdrückung von Menschen aus ideologischen Gründen brauchen, sonst werden Sie nie Vertrauen und Glaubwürdigkeit erringen können.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der CDU, der SPD und der FDP)

Meine Damen und Herren, die Mauer war ein Symbol des Kalten Krieges. Sie war das Symbol für ein Regime ohne die Unterstützung des Volkes.

Die Mauer war in den Köpfen der Machthaber der DDR, bevor sie errichtet wurde. Aber genauso war der Fall der Mauer in den Köpfen der Menschen, den Bürgerinnen und Bürgern der DDR, bevor die Mauer genau von diesen Bürgerinnen und Bürgern niedergerissen wurde. – Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU, der SPD und der FDP)

Vizepräsident Lothar Quanz:

Frau Schulz-Asche, vielen Dank.