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17.06.1009

Kordula Schulz-Asche zum Gedenken an 20 Jahre Mauerfall und an die gewaltsame Niederschlagung des Volksaufstandes am 17. Juni 1953

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Vor genau einem Jahr haben wir uns an dieser Stelle ebenfalls über den 17. Juni 1953 unterhalten, und die Unkenntnis über diesen Tag – gerade bei vielen jüngeren Menschen – zeigt, dass man solche Diskussionen nicht oft genug wiederholen kann. Ja, es ist die Aufgabe von Bildungsinstitutionen, Wissen zu vermitteln. Es ist aber gerade die breite gesellschaftliche Debatte – auch hier im Landtag –, die Meinungsfreiheit und Demokratie erfahrbar macht, und deswegen ist dies auch das geeignete Mittel, sich mit dem 17. Juni 1953 auseinanderzusetzen.

Meine Damen und Herren, ich bin stolz darauf, dass wir Deutsche uns rühmen können, in einem Jahrhundert zwei unterschiedliche Diktaturen überwunden und in der Folge in beiden Fällen eine umfassende Aufarbeitung des Geschehens in Angriff genommen zu haben. Es ist nicht immer rund gelaufen. Es gibt immer noch viel zu tun und zu klären, aber es ist ein Grundkonsens unserer demokratischen Gesellschaft, diese Aufarbeitung vorzunehmen, und das ist eine wesentliche Grundlage unserer Demokratie.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der Abg. Nancy Faeser (SPD))

In meiner Rede vor einem Jahr habe ich mich auf die Ereignisse konzentriert, die zu dem Aufstand am 17. Juni führten: die Abwanderung in den Westen, die zunehmende politische Repression, letztendlich die Normerhöhung in den staatseigenen Betrieben. Und in der Folge die menschenverachtende Zusammenarbeit zwischen der Sowjetarmee, der Polizei und der Justiz der DDR.

Seit Juni 1953, also nach dem Aufstand, war Hilde Benjamin, die im DDR-Volksmund unter anderem die blutige Hilde genannt wurde, Justizministerin, berüchtigt durch Schauprozesse gegen Oppositionelle, gegen Sozialdemokraten, gegen völlig willkürlich Angeklagte und verantwortlich für viele Todesurteile im Zusammenhang mit dem 17. Juni 1953. Obwohl sie 1967 als Ministerin abdanken musste, war sie bis zu ihrem Tod 1989 Mitglied des Zentralkomitees der SED.

Meine Damen und Herren, es bedurfte erst eines neuen Aufstands der Bürgerinnen und Bürger, diesem Regime endlich und hoffentlich dauerhaft den Boden zu entziehen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU und der SPD)

Der vorliegende Antrag erwähnt auch – das ist schon angesprochen worden – die unrühmliche Rolle der sogenannten Blockparteien. Seit der Gründung 1949, also bereits vor 1953, wurden die Blockparteien und ihre Mitglieder zu verlässlichen Mitläufern. Meine Damen und Herren, Herr Klee hat sicher nicht ganz Unrecht: Man kann sich hinterher selten vorstellen, in welchen Situationen sich Menschen befinden. – Aber ich glaube, eine Lehre aus der Geschichte ist, dass Mitläufer das Öl im Getriebe von Diktaturen sind. Auch damit müssen wir uns auseinandersetzen. Das müssen wir aufarbeiten. Deswegen ist es gut, dass im Jahre 1989 die Bürgerinnen und Bürger den Aufstand probten und gewonnen haben.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU, der SPD und der FDP)

Der 17. Juni 1953 ist von Anfang an von vielen Seiten instrumentalisiert worden. Die DDR-Führung machte den Westen als fernsteuernden Drahtzieher verantwortlich. Auch der damaligen Bundesrepublik diente er eher zu einer Art Selbstgerechtigkeit unter dem Schlagwort Freiheit. Deswegen erlauben Sie mir, dass ich kurz Willy Brandt zitiere, der meines Erachtens zu Recht darauf verwiesen hat, dass die Aufständischen des 17. Juni mitnichten die Reprivatisierung der Staatsbetriebe forderten. Er sagte weiter:

Keineswegs drückte sich in den Demonstrationen der Schrei nach dem Anschluss an Bonn aus, sondern der Anspruch auf echte Mitgestaltung dieser arbeitenden Menschen bei der Schaffung einer gesamtdeutschen Ordnung.

Deswegen sollten wir auch nicht vergessen, dass erst im Jahre 1952 Stalin den Vorschlag für ein neutrales vereintes Deutschland gemacht hatte, was aber von den Westalliierten und von westdeutscher Seite abgelehnt wurde.

(Zuruf des Abg. Dr. Christean Wagner (Lahntal) (CDU))

Ob die Angst vor der Sowjetunion berechtigt war oder nicht, vor diesem Hintergrund den 17. Juni in der damaligen Bundesrepublik bereits am 4. August 1953 zum Tag der Deutschen Einheit zu erklären, war mit Sicherheit eine offensichtliche Instrumentalisierung. Deswegen sollten wir in den Jahren nach der friedlichen Revolution von 1989 ehrlich und offen im Umgang mit der DDR-Geschichte sein. Es gibt inzwischen glücklicherweise eine ganze Reihe von Institutionen, die das tun. Ich möchte in diesem Zusammenhang insbesondere die sogenannte Birthler-Behörde erwähnen.

Meine Damen und Herren, vor diesem Hintergrund reicht es meiner Meinung nach nicht, wenn die Partei DIE LINKE in ihrem Gründungsdokument erklärt:

Wir lehnen jede Form der Diktatur ab und verurteilen den Stalinismus als verbrecherischen Missbrauch von Sozialismus.

Auch die vielen laschen Aussagen der Linkspartei zur sogenannten Schlussstrichfrage – die kennen wir auch aus der Aufarbeitung des Naziregimes – zeigen, dass in ihrer Partei die Aufarbeitung der Vergangenheit bisher zu wenig als Grundlage für eine Demokratie gesehen wird.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU und der FDP)

Die DDR war eben nicht nur eine politische Diktatur. Sie war auch eine Diktatur der Normierung von Individuen, eine Diktatur im Alltag. In den Knästen und Lagern landeten Kritiker des Regimes, aber eben auch unpolitische Flüchtlinge. Dort landeten junge Leute, die sich der 68er-Bewegung oder der Friedensbewegung der GRÜNEN im Westen verbunden fühlten. Dort landeten junge Leute, die am falschen Ort die falsche Frisur und nicht die geforderte Arbeitsmoral hatten. Dort landeten Jugendliche, die Mitglieder in Punkbands waren oder andere Musik machten, die der DDR-Führung nicht angenehm war. Meine Damen und Herren, diesen Opfern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, ist uns Verpflichtung bei der Aufarbeitung allen begangenen Unrechts.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU, der SPD und der FDP)

Deswegen reicht es auch nicht, sich formal von einer Diktatur zu distanzieren. Dazu gehört die offene Diskussion der Strukturen und Mechanismen dieser Diktatur und auch des dahinter stehenden Menschenbilds. Dazu gehört ebenfalls die Benennung der Täter, von ganz oben – ich habe Hilde Benjamin genannt – bis hin zu den kleinen Denunzianten von nebenan. Wir wollen aus der Geschichte lernen. Deshalb – auch das habe ich bereits im letzten Jahr gesagt – werden wir Sie als Linkspartei nicht aus der Verantwortung für die Aufarbeitung der DDR-Geschichte entlassen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU)

Meine Damen und Herren, aus unserer Sicht ist ein Mittel, Sie immer wieder zu fordern und zu eindeutigen Bekenntnissen, wie sie der gemeinsame Antrag beinhaltet, zu bringen.

Wenn es Ihnen von CDU und FDP ernst mit der Aufarbeitung deutscher Geschichte ist, dann sollten Sie zumindest beim Thema DDR-Vergangenheit ihre Praxis, keine gemeinsamen Anträge mit der Linksfraktion zu stellen, dringend überprüfen.

(Zuruf des Abg. Dr. Christean Wagner (Lahntal) (CDU))

Denn Sie haben dafür gesorgt, dass nicht nur dieser Antrag, sondern noch ein weiterer Antrag auf der heutigen Tagesordnung, bei dem es um eine Anhörung zur Unterstützung von SED-Opfern geht, kein gemeinsamer Antrag des Hauses werden konnte. Dass Sie hier auch noch ein gemeinsames Aufrufen verhindert haben, dient nicht gerade der Glaubwürdigkeit Ihrer Ausführungen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Ich weiß, manchmal tun Sachen auch weh.

Meine Damen und Herren, die Aufarbeitung der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts und die Ernsthaftigkeit, mit der unsere Gesellschaft dies seit Generationen tut, hat sehr viel zum Ansehen Deutschlands in der Welt beigetragen. Es gibt viele Länder, die Diktaturen überwinden und die sich hinsichtlich der Aufarbeitung beider Regime bei uns orientieren und von uns lernen. Wir dürfen diese Ernsthaftigkeit nicht leichtfertig verspielen. – Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Lebhafter Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU und der FDP)

Vizepräsident Frank Lortz:

Vielen Dank, Frau Kollegin Schulz-Asche.