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07.10.2009

Kordula Schulz-Asche zu: Das Unrecht und das Leid der Menschen in der DDR darf nicht in Vergessenheit geraten

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Herr Kollege Quanz, ich möchte Ihnen für diese dem Anlass angemessene Rede ausdrücklich danken. Es war eine sehr gute Rede. Sie hat alles umfasst, was gesagt werden muss, und sie war wirklich so, dass sie mir sehr zu Herzen gegangen ist.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD, der FDP und der LINKEN – Zurufe von der CDU)

Auf der anderen Seite erfüllt mich die Rede des Kollegen Irmer mit tiefer Scham. Ich habe nicht geglaubt, dass es möglich ist, in diesem Hause unter dem Beifall von CDU und FDP eine solche Rede zu einem solchen Anlass zu halten.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN – Lebhafte Zurufe von der CDU)

Wir haben einen Antrag der SPD-Fraktion vorliegen, dem wir zustimmen werden. Wir haben einen nicht ganz so guten Antrag der CDU-Fraktion vorliegen, zu dem wir einen Änderungsantrag gestellt haben. Wenn es im Ausschuss gelingt, vernünftig über diese Themen zu reden, dann kann sich Herr Irmer vielleicht ein bisschen zurückhalten,

(Zuruf des Abg. Volker Hoff (CDU) – Weitere Zurufe von der CDU)

sodass es gelingen sollte, einen gemeinsamen Antrag zu formulieren, der dem 3. Oktober, dem Tag der Wiedervereinigung unseres Landes, wirklich angemessen ist.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN – Axel Wintermeyer (CDU): Sie versuchen sich hier in Geschichtsklitterung! Haben Sie sich das schon vorher aufgeschrieben? – Weitere Zurufe von der CDU)

Meine Damen und Herren, es ist selbstverständlich richtig, Museen und Gedenkstätten zur deutschen Geschichte zu besuchen. Das ist eine gemeinschaftliche und notwendige Form der Erweiterung des Wissens und der Kultur bewussten Erinnerns. Beides ist eine Voraussetzung für eine lebendige Demokratie. Das gilt natürlich auch für die Bildung unserer Kinder und Jugendlichen. Es ist eine besondere Herausforderung für die Pädagogik, die man anwendet, Kindern nicht Erlebtes erfahrbar zu machen und gleichzeitig kritisches Hinterfragen zu fördern, denn die Lehrer, die Eltern und die Großeltern sind ja Teil der Geschichte, ihre Werte und Einstellungen sind durch diese Geschichte und durch ihre eigenen Erfahrungen geprägt.

Wie kann man Geschichte vermitteln? Wir haben Bilddokumente von der Prager Botschaft, von der Öffnung der Mauer, von hupenden Autos, von jubelnden Menschen. Wie aber vermittelt man die Angst im Alltag? Wie vermittelt man den Schrecken in Gefängnissen, wie das Misstrauen gegenüber Freunden, den Verrat durch Familienmitglieder? Joachim Gauck hat am 3. Oktober in der Paulskirche gesagt: Die Bewohner der ehemaligen DDR erinnern sich nicht gern an den Teil der Geschichte, der schmerzt. Aber an das Hinnehmen des Unrechtsregimes, das ist keine Spezialität der Ostdeutschen. – Meine Damen und Herren, wir Deutschen haben innerhalb von 60 Jahren zum zweiten Mal eine Diktatur aufzuarbeiten.

Wir befassen uns nicht nur mit der Schwierigkeit, das zu machen, sondern auch mit der Leichtigkeit der Verdrängung.

Wir haben Opfer, die versuchen, ihre Verletzungen psychischer und physischer Natur zu überwinden. Wir haben glücklicherweise Zeitzeugen, die zu einer guten Erinnerungskultur beitragen. Wir haben Täter, die guten Grund haben, ihre Taten und Motive zu verschweigen.

Schließlich haben wir die sogenannten Mitläufer, die 80 bis 90 % der Bevölkerung ausmachen. Sie haben nichts getan, nichts gesehen und nichts gewusst, und nach ihren Aussagen konnten sie auch nichts tun, nichts sehen und nichts wissen. Die Wiener Journalistin Nadine Hauer hat gesagt, es seien immer die Mitläufer, die Unrecht zulassen, dulden und dies später zu einem Erdulden uminterpretieren.

Es sind diese Mitläufer, die heute als Politiker, als Lehrer und als Eltern Wissen, Erziehung, Haltung und Demokratieverständnis vermitteln sollen und müssen. Da funktioniert die Befriedigung des Bedürfnisses der Eltern, sich auf die Seite der Autoritäten zu stellen, um den Kindern Unannehmlichkeiten und sich selbst Auseinandersetzungen zu ersparen. Aus Angst vor Tabubrüchen wird geschwiegen, verzerrt und unterschwellig kommuniziert. All das wird durch die Erfahrung ergänzt, dass derjenige, der sich nicht anpasst, ganz schnell zum Außenseiter deklariert wird.

Auch das sage ich in Richtung von Herrn Irmer: Da gibt es die zahlreichen Mitglieder der Blockparteien, die bereit waren, das SED-Regime um eigener Vorteile willen aktiv, aber vor allem auch moralisch zu unterstützen, und die heute zum Teil wieder in Amt und Würden sind.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der LINKEN – Zurufe von der CDU)

Auch deswegen haben wir einen Änderungsantrag zu Ihrem Antrag gestellt. Es hätte Ihrer Rede gutgetan, wenn Sie auch auf diesen Teil der dunklen Geschichte eingegangen wären.

Meine Damen und Herren, wir verfügen auch in Westdeutschland über eine ausreichende Erfahrung mit ehemaligen Mitläufern. Die Fünfziger- und Sechzigerjahre in Deutschland waren von Denkverboten, Fragetabus und dem autoritären Gehabe von Politikern, Lehrern und Eltern durchdringen. Erst mit der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule – mit Adorno, Horkheimer, Mitscherlich – begannen die Befreiung des Denkens sowie die gesellschaftliche Aufbereitung und die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit.

Dieser Prozess der Befreiung des Denkens steht für die Aufarbeitung der DDR-Geschichte noch aus. Es reicht nicht aus, zum Besuch von Museen und Gedenkstätten aufzurufen.

(Zuruf von der CDU: Das gehört doch dazu!)

Vielmehr brauchen wir ganz dringend einen breiten gesellschaftlichen Dialog über die Grundlagen unserer Demokratie. Damals wie heute gilt doch, dass Kinder und Jugendliche die Demokratie nicht begreifen, lieben und verteidigen lernen, wenn freies Denken, kritisches Hinterfragen und Einmischen nicht gewünscht werden. Wenn demokratische Gesetze, freie Wahlen, freie Meinungsäußerung und Bürgerinitiativen als Werbung für eine demokratische Gesellschaft nicht ausreichen, besteht dringender Handlungsbedarf.

Dem demokratischen Deutschland ist es im Gegensatz zu autoritären Regimen bis heute nicht gelungen, demokratische Symbole und Rituale zu entwickeln. In vielen Ländern ist der Nationalfeiertag ein Symbol, das zu Herzen geht. Bei uns trifft das für den 3. Oktober nicht – oder vielleicht noch nicht – zu. Aber, Herr Irmer, diesem Nationalfeiertag haben Sie heute bestimmt nicht zu mehr Bedeutung verholfen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der LINKEN)

Bei uns wäre ein mit den Nationalfeiertagen anderer Länder vergleichbarer Tag der 18. März 1848, nicht nur wegen der in der Frankfurter Paulskirche beschlossenen Verfassung. Vielmehr ist dieser Tag ein gutes Symbol für die Demokratie; denn auch in anderen europäischen Ländern haben die Revolutionen in den Jahren 1848 und 1849 wesentlich zur politischen Kultur beigetragen. Sie sind praktisch in ganz Zentraleuropa die Grundlage des politischen, pluralistischen Demokratieverständnisses.

Auf lange Sicht begann damals – 1848 – eigentlich auch der Siegeszug der nationalen Demokratien hin zu einem vereinten, friedlichen, demokratischen Europa. Wenigstens gibt es in Berlin seit den Neunzigerjahren einen Platz, der nach dem 18. März 1848 benannt ist – ein sehr kleines Symbol für das Demokratieverständnis in Deutschland.

Meine Damen und Herren, Demokratie braucht Selbstbewusstsein und Engagement, und sie muss immer wieder mit Leben erfüllt werden, statt dass man sie – Herr Irmer – mit neuen Ideologien belastet. Demokratische Kultur braucht aktive Unterstützung, und als Grundlage benötigt sie die Kenntnis der eigenen Herkunft und der eigenen Geschichte. Dies geht nicht ohne eine Kultur des Erinnerns und nicht ohne eine Kultur, sich der Geschichte zu stellen. Davon hängt die Zukunft unserer Demokratie ab. – Ich danke Ihnen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der LINKEN)

Vizepräsident Frank Lortz:

Vielen Dank, Frau Kollegin Schulz-Asche.