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07.03.2012

Karin Müller: Nordhessen nutzt die Chancen der Energiewende und steht vor den Herausforderungen des demographischen Wandels

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Eigentlich wollte ich die beiden Anträge zusammen abhandeln. Deswegen hatte ich mich noch nicht gemeldet und erst einmal abgewartet. Aber gut.

(Zuruf von der CDU)

– Wegen so viel Gutem aus Nordhessen war ich völlig sprachlos.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Lage ist zwar gut für Nordhessen, aber sie ist anscheinend nicht gut für CDU und FDP.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf des Abg. Peter Beuth (CDU))

Sonst würden Sie nämlich nicht wie in fast jedem Plenum einen Antrag auf eine Aktuelle Stunde – dieses Mal ist es sogar Ihr Setzpunkt – zu dem Thema Nordhessen stellen. Anscheinend beginnt bei Ihnen schon jetzt der Landtagswahlkampf.

(Peter Beuth (CDU): Uns ist Nordhessen wichtig! Wenn es Ihnen nicht wichtig ist, setzen Sie sich doch wieder hin! – Weitere Zurufe von der CDU)

Vizepräsident Heinrich Heidel:

Werte Kolleginnen und Kollegen, Frau Müller hat jetzt das Wort, und wir alle hören Ihr zu.

(Zuruf des Abg. Tarek Al-Wazir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Karin Müller:

Genau. – Die Unterstellung, dass uns das nicht wichtig sei, weise ich entschieden zurück. Als Nordhessin freut es mich natürlich, hier über Nordhessen zu reden. Ich frage mich nur, ob es zielführend ist, immer über die Millionenprojekte zu reden, die der Region eigentlich nichts bringen.

Aber ich muss Herrn Landau durchaus loben. Er hat sich heute nämlich etwas zurückgehalten. Deshalb will ich mich ebenfall zurückhalten und nicht zum wiederholten Male über die A 44, die A 49 und den Flughafen Kassel-Calden sprechen. Ich denke, unsere Position dazu ist Ihnen hinlänglich bekannt.

(Zuruf des Abg. Peter Beuth (CDU))

– Es hätte einen gewissen Neuigkeitswert gehabt, wenn Sie in Ihren Antrag hineingeschrieben hätten, wie hoch der volkswirtschaftliche Wert der Investitionen in den Flughafen, in die Autobahnen und in die Umgehungsstraßen ist. Aber so viel Mühe haben Sie sich nicht gemacht. Auch mit dem Antrag selbst haben Sie sich nicht allzu viel Mühe gegeben. Sie haben ein paar Punkte heruntergeschrieben.

(Zuruf des Abg. Günter Rudolph (SPD))

Ich will gleich noch einmal darauf eingehen, ob dieser Antrag wirklich einen solchen Jubel wert war.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich gebe zu, bei Punkt 1 Ihres Antrags kann man nichts Negatives feststellen. Es steht auch nichts drin, was von Ihnen in irgendeiner Weise beeinflusst worden wäre. Sie haben einfach aus der Wirtschaftswoche zitiert.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Bei dem, was unter Punkt 2 steht, wird es aber schon abenteuerlich. Es heißt, die aktuellen ökonomischen Rahmenbedingungen seien die Bestätigung der erfolgreichen Standortpolitik der Landesregierung, die seit zehn Jahren konsequent den Strukturwandel unterstütze. Sie müssten schon genauer erklären, wie Sie den Strukturwandel unterstützt haben. Ihr Wirtschaftsminister drückt sich nicht ganz so vermessen aus. Er hat bei der letzten Regionalkonferenz immerhin gesagt, dass dies in erster Linie die Leistung der Region selbst ist, die sich auf ihre Stärken besonnen und sie gezielt entwickelt hat.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Förderpolitik des Landes habe allenfalls einen Beitrag dazu geleistet. Wenn man sich die Förderpolitik anschaut, stellt man fest, dass es sich meistens um Bundesmittel oder Europamittel handelt. Bei den ÖPNV-Investitionen, die Herr Landau eben erwähnt hat – es sind nicht 400 Millionen Euro, sondern sogar 621 Millionen Euro –, stammt kein einziger Cent aus Landesmitteln, sondern es sind Bundesmittel und Mittel aus dem Kommunalen Finanzausgleich.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf des Ministers Dieter Posch)

– Herr Posch, sie waren aber zweckgebunden. – Derselbe Wirtschaftsminister, also Herr Posch, hat auf der letzten Nordhessen-Konferenz auf die Früchte einer regionalen Zusammenarbeit über Landkreisgrenzen hinweg verwiesen. Da frage ich mich doch: Was ist mit der Regionalreform? Wird die von der Landesregierung unterstützt? Ich kann mich gut an eine Diskussion erinnern, in der sich Herr Bouffier vehement geweigert hat, die Idee einer Regionalreform zu unterstützen. Gerade durch einen demokratisch legitimierten Regionalkreis hätte man die Identität stärken und eine Vernetzung fördern können.

Es gibt eine Studie von Herrn Postlep von der Universität Kassel – die Sie und auch wir immer loben –, in der er festgestellt hat, welche finanziellen und auch anderen Vorteile es hätte, wenn es einen Regionalkreis gäbe, statt dass, wie jetzt, jeder Landkreis seine Kirchturmpolitik macht. Zum Beispiel habe ich von der Landesregierung nichts gehört, wenn es darum geht, interkommunale Gewerbeflächen oder einen Fonds für Brachflächen zu fördern. Ich habe von der Landesregierung nicht gehört, dass sie das unterstützt, um den Flächenverbrauch in der Stadt Kassel und in den Landkreisen zu minimieren.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich komme zum Punkt 3 Ihres Antrags. Herr Landau hat noch einmal die Zahlen des Bruttoinlandsprodukts zitiert. Sie beziehen sich auf Zahlen aus dem Jahr 2008, da andere nicht vorlägen. Andererseits ist eben eine Broschüre an uns verteilt worden, aus der Herr Landau ebenfalls zitiert hat. Da stehen die neuesten Zahlen drin. Ich weiß nicht, warum Sie sie nicht verwenden. Diese Zahlen sehen etwas anders aus. Dass die aktuellen Werte nicht so schlecht sind wie in ganz Hessen, liegt – man kann es an den Zahlen ganz deutlich ablesen – an den erneuerbaren Energien.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dort ist investiert worden. Dort sind Arbeitsplätze geschaffen worden, und dort hat man sich zu einer Stadtwerke Union Nordhessen zusammengetan, um in die Windkraft, die erneuerbaren Energien, die Biomasse und die Fotovoltaik zu investieren.

Da wäre es gut gekommen, wenn die Landesregierung ihnen dafür eine verlässliche Grundlage in der Hessischen Gemeindeordnung gegeben hätte. Aber da war Fehlanzeige.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Man hätte auch sehen können, dass die Landkreise durchaus unterschiedlich sind und dass man Kassel und die Landkreise durchaus unterschiedlich betrachten muss und dass man für sie unterschiedliche Maßnahmen ergreifen muss. Zum Beispiel ist die Zahl der Erwerbstätigen im Werra-Meißner-Kreis um 11 Prozent zurückgegangen. Da muss man sich einmal überlegen, woran das liegt und was man da tun kann, um die einzelnen Landkreise zu unterstützen. Da nützt es nichts, hier eine pauschale Jubelveranstaltung zu machen und die Infrastrukturprojekte zu bejubeln.

Deshalb haben wir in unserem Dringlichen Entschließungsantrag andere Schwerpunkte gesetzt, nämlich auf das, was die Region braucht, um die Dynamik zu behalten. Deswegen fordert auch der Leiter der Arbeitsagentur in Kassel zu Recht, sich dem Trend entgegenzustellen und sich besonders um die Fachkräfte zu kümmern und die Erwerbsquote der Frauen zu erhöhen. Denn der Anteil der erwerbstätigen Frauen in Nordhessen ist unterdurchschnittlich.

Hier könnte die Landesregierung konkret etwas tun. Sie könnte nicht nur in die Betreuungsplätze der Kinder unter drei Jahren, sondern auch in die regulären Kindertagesstätten und in die Ganztagsgrundschulen investieren. Das sind alles Stichworte, die Ihnen nicht unbekannt sind. Da könnten Sie investieren, ein verlässlicher Partner sein und die Rahmenbedingungen setzen. Aber da passiert nichts.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Genauso wichtig ist es natürlich, dem Mangel an Erzieherinnen und Erziehern entgegenzuwirken. Das Thema kennen Sie alle.

Darüber hinaus geht es um die Erreichbarkeit der Arbeitsplätze mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Das ist ganz besonders im ländlichen Raum ein Problem. Das hat auch der Präsident der Agentur für Arbeit, Herr Hesse, deutlich gemacht.

Was aber macht die Landesregierung? – Sie kürzt den Verkehrsverbünden die Zuwendungen um 20 Millionen Euro und steckt das Geld in das „Zukunftsprojekt Straßenbau“. Das ist keine in die Zukunft gerichtete Politik, sondern rückwärtsgewandte Betonköpfigkeit.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

In Nr. 4 Ihres Entschließungsantrages schreiben Sie über die umfassende Unterstützung der Universität. Da hätte ich mir verlässliche Aussagen darüber gewünscht, dass der Campus Nord jetzt auch in vollem Umfang gebaut wird.

(Unruhe – Glockenzeichen des Präsidenten)

Das Lob auf das Fraunhofer-Institut hat einen leichten Beigeschmack. Wir erinnern uns alle daran, dass die Zuwendungen an das ISET von der Landesregierung gekürzt wurden. Damals haben Sie noch nicht zu schätzen gewusst, wie wichtig die Nutzung der erneuerbaren Energien für die Region ist.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Aber immerhin sind Sie lernfähig. Das hoffen wir zumindest. Sie haben begriffen, dass die Nutzung der erneuerbaren Energien die Grundlage für die Energiewende ist. Das schafft Arbeitsplätze und bringt die Region voran. Deswegen fordern wir von Ihnen ein deutliches Zeichen, dass Sie diese Branche auch weiterhin zuverlässig unterstützen und dass Sie nicht hopplahopp die Rahmenbedingungen auf einmal von heute auf morgen verändern. Das werden wir aber morgen noch einmal länger diskutieren.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Zu den Infrastrukturprojekten, die in Punkt 5 des Entschließungsantrags aufgeführt sind, sage ich nichts mehr. Im 6. Punkt loben Sie den Schienenverkehr. Da hätte ich mir auch ein paar lobende Worte zur Regio-Tram, dem Erfolgsmodell in der Region, gewünscht.

Gut ist auch, dass Sie sagen, dass der Ausbau der Strecke Kassel – Korbach – Frankenberg – Marburg kommen muss. Aber was ist denn mit dem Lückenschluss zwischen Frankenberg und Korbach? – Auf den warten wir heute noch. Da gibt es die Tourismusregion Edersee/Nationalpark Kellerwald. Die ist mit öffentlichen Verkehrsmitteln nicht zu erreichen. Da zahlen wir im Moment mehr für bestellte Leistungen drauf, die nicht erbracht werden können, als wenn die Strecke reaktiviert worden wäre. Herr Posch, was ist also mit Ihren Versprechen aus zwei oder drei Wahlkämpfen? Das weiß ich nicht mehr so genau. Jedenfalls warten wir auf die Reaktivierung, damit der Nationalpark Kellerwald auch erreichbar wird.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Krise war für Nordhessen eine Chance, die genutzt wurde. Jetzt gilt es, daran anzuknüpfen und in Zukunftsprojekte zu investieren. Nordhessens Wirtschaftswachstum ist auf die Vernetzung unterschiedlicher Akteure vor Ort und die Konzentration auf die Schwerpunkte Nutzung erneuerbarer Energien, Gesundheit, Wellness, Tourismus und Logistik zurückzuführen. Diese Bereiche und die Universität als bedeutendste Bildungseinrichtung der Region gilt es zu stärken.

Hier könnten Sie beweisen, dass Sie es mit der Unterstützung Nordhessens ernst meinen. Schon jetzt klagen nämlich Unternehmen über einen signifikanten Fachkräftemangel. Junge Leute unter 40 Jahren verlassen die Region. In Saldo haben insgesamt 9.000 Menschen in zehn Jahren die Region verlassen. Herr Landau, nicht die Arbeitsplätze, sondern die Fachkräfte sind der begrenzende Faktor. Deswegen, das habe ich schon gesagt, muss neben den anderen – –

Vizepräsident Heinrich Heidel:

Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss Ihrer Rede kommen.

Karin Müller:

Ja, ich beeile mich.

(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Deswegen muss es eine ausreichende Zahl an Kinderbetreuungsangeboten geben. Kulturelle Einrichtungen und die Documenta, all das ist wichtig, um die Menschen nach Nordhessen zu bekommen. Investieren Sie nicht nur in Beton, sondern auch in die Köpfe, dann wird es mit der Region auch weiterhin vorangehen.

(Anhaltender Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Willi van Ooyen (DIE LINKE))

Vizepräsident Heinrich Heidel:

Frau Kollegin Müller, schönen Dank.