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17.11.2011

Kai Klose: Mindestlohn

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Bevor auch ich bei diesem Tagesordnungspunkt auf die vermeintliche Wendigkeit der CDU und auf das Potemkinsche Dorf namens „Merkel-Mindestlohn“ zu sprechen komme, das in Leipzig errichtet wurde, will ich den Fokus auf die Menschen richten, die in diesem Land trotz Vollzeitbeschäftigung nicht von ihrem Einkommen leben können.

Erst am Dienstag, also vor zwei Tagen, hat das Institut Arbeit und Qualifikation der Universität Duisburg-Essen aktuelle Zahlen zu den prekären Arbeitsverhältnissen veröffentlicht. Demnach arbeiteten 2009 rund 3,5 Millionen Menschen in Deutschland – das sind gut 11 Prozent aller Beschäftigten – für weniger als 7 Euro brutto pro Stunde. 1,2 Millionen arbeiteten sogar für weniger als 5 Euro brutto pro Stunde.

Ein wohlhabendes Land, das sich so viel auf seine soziale Marktwirtschaft zugutehält, müsste sich dafür eigentlich schämen. Da haben Herr Laumann und Frau von der Leyen in der Analyse Recht, auch wenn sie noch nicht die richtigen Schlüsse ziehen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ein allgemeiner Mindestlohn ist eine elementare Grundlage sozialer Gerechtigkeit. Die Bundesregierung hat sich bisher geweigert, dafür die notwendigen Rahmenbedingungen zu schaffen. Deshalb erhalten viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer keine angemessene Entlohnung.

Was sind die Folgen? Eine Folge ist die Armut trotz Arbeit, wenn das Monatseinkommen trotz Vollzeitbeschäftigung bei weniger als 800 Euro liegt. Über 1,3 Millionen Erwerbstätige müssen ihr Arbeitseinkommen mit Arbeitslosengeld II aufstocken. Arbeitgeberpräsident Hundt hat heute Morgen in einem dpa-Gespräch zum Ausdruck gebracht, dass er das richtig findet. Ich halte das für zynisch.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Von der Tradition unternehmerischer Verantwortung, die einst ein wichtiger Pfeiler der sozialen Markwirtschaft bundesrepublikanischer Prägung war, hat sich der Herr offensichtlich meilenweit entfernt.

Der Niedriglohnsektor in Deutschland ist in den vergangenen zehn Jahren dramatisch gewachsen. Damit nehmen wir in Europa einen unrühmlichen Spitzenplatz ein. Das ist kein Wunder; denn in den allermeisten anderen europäischen Ländern schützen gesetzliche Mindestlöhne oder vergleichbare Regelungen die Beschäftigten vor Lohndumping und sorgen für fairen Wettbewerb.

Im Übrigen ist die Situation nicht nur für die Betroffenen, sondern auch für die Wirtschaft ein Problem. Auch immer mehr Betriebe beklagen nämlich unlauteren Wettbewerb durch Dumpinglöhne. Darauf kann man nicht à la FDP mit Schulterzucken reagieren; das darf keiner von uns hinnehmen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Willi van Ooyen (DIE LINKE))

Mehrere Millionen Beschäftigte würden von einer verbindlichen Lohnuntergrenze profitieren. Gilt die Lohnuntergrenze allerdings nur für Branchen, in denen es bisher überhaupt keine tariflichen Regelungen gibt – so hat es die CDU am Wochenende beschlossen –, geht ihre Einführung an den realen Bedürfnissen vorbei.

Insofern hat der Herr Ministerpräsident ausnahmsweise sogar Recht, wenn er sagt, der CDU-Beschluss sei nichts anderes als Symbolpolitik. Ihr zugegebenermaßen pompös inszeniertes „Die CDU sagt ja zum Mindestlohn“ entpuppt sich bei genauerem Hinsehen nämlich leider wieder einmal als typisches Soufflé à la Merkel, das in sich zusammenfällt, sobald man hineinpiekst: ein bisschen aufgehübschte Fassade und viel heiße Luft.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ihr Mindestlohn soll nämlich erstens nur für die Branchen gelten, in denen es gar keine Tariflöhne gibt. Man braucht gar nicht bei den 3,6 Euro Stundenlohn für die sächsische Friseurin anzufangen, die durch Ihren Beschluss keinen Cent mehr in der Tasche hat. Sie wissen sehr wohl, dass das auch für eine große Zahl von Beschäftigten im Hotel- und Gaststättengewerbe, im Gartenbau und in der Landwirtschaft gilt. Für all diese Beschäftigten ändert sich nichts. Im Grunde genommen bedeutet Ihr Beschluss nichts anderes, als dass Hungerlöhne dann akzeptabel sind, wenn sie den tariflichen Segen haben.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das aber ist eine Einladung an die Arbeitgeber, Dumpinglöhne einzuführen. Wir werden das mit Sicherheit nicht mitmachen.

Zweitens sieht Ihr Mindestlohn keine einheitliche Lohnuntergrenze vor. Da kann ich dem CDA-Vorsitzenden Karl-Josef Laumann wirklich nur zustimmen: Auch ich kann mir kein Deutschland vorstellen, in dem es 500 unterschiedliche Lohnuntergrenzen gibt. Ein solcher Flickenteppich wäre für die Wirtschaft übrigens unzumutbar. Auch deshalb können wir diesen Weg nicht gutheißen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Was bleibt also? Es bleibt der ziemlich unappetitliche Eindruck, die vermeintliche Einsicht der Union in die Notwendigkeit von Mindestlöhnen ist nicht mehr als weiße Salbe. Weiße Salbe für die CDU-Sozialausschüsse ließe sich sicherlich verschmerzen. Aber dass Sie gleichzeitig auch den Beschäftigten im Niedriglohnsektor weiße Salbe auf die Backen schmieren, nehmen wir nicht hin.

Wir wollen einen echten Mindestlohn und damit echte Lohngerechtigkeit.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Meine Damen und Herren, wir GRÜNE wollen einen generellen Mindestlohn, der von einer Kommission nach britischem Vorbild festgelegt und jährlich angepasst wird, der mindestens 7,50 Euro betragen muss und für alle verbindlich ist. Diese Kommission soll sich aus Vertreterinnen und Vertretern der Sozialpartner und der Wissenschaft zusammensetzen und die Mindestlohnhöhe unter Berücksichtigung der sozialen und wirtschaftlichen Anforderungen ermitteln, die dann durch Rechtsverordnungen der Bundesregierung wirksam wird.

So macht man das, wenn man es mit der Sorge um die Situation der prekär Beschäftigten in diesem Land ernst meint. Wer wie Herr Laumann meint, dass, wer arbeite, doch auf einen grünen Zweig kommen müsse, darf es nicht bei weißer Salbe belassen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Deshalb geht die Frage jetzt auch an die CDU in Hessen: Wie halten Sie es nun konkret mit Ihrem Parteitagsbeschluss? Nehmen Sie ihn schulterzuckend hin, weil sich praktisch sowieso nichts ändert? Halten Sie den Mindestlohn für Schwachsinn, wie es Ihr Koalitionspartner in Gestalt von Herrn Rentsch hat verlautbaren lassen, der Ihrer Parteivorsitzenden und Kanzlerin im gleichen Atemzug eine psychische Störung bescheinigt hat? Oder sorgen Sie dafür, dass dieser Beschluss dann doch mehr wird als weiße Salbe im Interesse der vielen betroffenen Menschen, die trotz ihrer Vollzeittätigkeit nicht von ihrer Hände Arbeit leben können?

Die CDU in Hessen schuldet den Betroffenen hier im Land schon eine Aussage darüber, was dieser Parteitagsbeschluss nun konkret ändert. Wir brauchen einen Ordnungsrahmen, der für faire Arbeitsbedingungen sorgt und sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse erhält. Genau deshalb geht es nicht mehr länger ohne einen Mindestlohn, ohne eine echte Lohnuntergrenze.

Meine Damen und Herren, vor wenigen Tagen war in der „Bild“ zu lesen – ich darf zitieren –:

Eine so wohlhabende Gesellschaft wie unsere muss doch in der Lage sein, wenigstens 7,50 Euro für die Stunde zu bezahlen.

Meine Damen und Herren, wenn selbst Friedrich Merz das sagt, den Sie auch seitens der FDP gern als Kronzeugen für eine angeblich vernünftige Wirtschaftspolitik zitieren, müssten doch auch Sie sich wenigstens an dieser Stelle einmal einen Ruck geben können.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Überlegen Sie es sich gut. Es gibt auch in diesem Landtag eine breite Mehrheit für eine wirksame Mindestlohnregelung, jenseits der Partei, der aktuell noch 0 Prozent Problemlösungskompetenz zugesprochen werden.

(Zuruf des Abg. Florian Rentsch (FDP))

Wenn Sie Ihre Standing Ovations für Herrn Laumann vom Montag ernst meinen, dann ringen auch Sie sich dazu durch, den Antrag der SPD-Fraktion zum Mindestlohn zu unterstützen, so wie wir das tun. Wir wollen, nachdem es hier zum Thema Bodenverkehrsdienste inzwischen drei Anträge verschiedener Fraktionen gibt, auch an Sie appellieren, alle drei Anträge mit dem Ziel eines gemeinsamen Beschlusses im Ausschuss zu beraten. Auch wir GRÜNE wollen die EU-Verordnung so nicht.

Meine Damen und Herren, statt Trickserei und Schlupflöchern, statt potemkinsche Dörfer und weißer Salbe brauchen die Betroffenen endlich faire Löhne, von denen sie leben können. – Vielen Dank.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Vizepräsident Frank Lortz:

Vielen Dank, Herr Kollege Klose.

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