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26.11.2015

Frank Kaufmann: Atom-Moratorium

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Verehrte Kollegin Wissler, als Erstes sage ich ganz klar vorweg: Wir haben ein intensives Interesse an der Aufklärung, und zwar alle im Ausschuss.
(Widerspruch von der LINKEN)
Wir haben bisher massiv gemeinsam Aufklärung betrieben. Ein Beweis dafür ist, dass wir alle Verfahrensbeschlüsse in den letzten fast eineinhalb Jahren einvernehmlich gefasst haben.
(Zuruf der Abg. Janine Wissler (DIE LINKE))
Wir haben auch den Besuch in Berlin zur Vernehmung der Bundeskanzlerin am Ende aufgrund eines Antrags der SPD gemeinsam vereinbart, an dem wir noch zusammen gearbeitet haben. Insoweit ist das Ziel der gemeinsamen Aufklärung eindeutig.
(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der CDU und der FDP – Zuruf der Abg. Janine Wissler (DIE LINKE))
Das Zweite, was eingangs festzuhalten ist, verehrte Kollegin Wissler, ist Folgendes: Ich verstehe, dass Sie einen schönen Bericht von einer Reise nach Berlin hier abgegeben haben. Man hört gerne zu. Alle, die dabei waren, erinnern die eine oder andere Detailfrage.
(Zuruf des Abg. Michael Boddenberg (CDU))
Aber das ist aus unserer Sicht noch keine sinnvolle Bewertung der Sachzusammenhänge. Denn wir stecken nach wie vor mitten in der Beweisaufnahme.
(Zuruf der Abg. Janine Wissler (DIE LINKE))
Wir haben die Beweisaufnahme noch nicht abgeschlossen. Demzufolge finde ich es ein bisschen früh, jetzt schon Ergebnisse daraus zu ziehen. Das kann man natürlich machen. Aber dann könnte es sein, dass andere Gründe im Vordergrund stehen, warum man das tut. Das könnte dazu führen, dass die Sachaufklärung nicht an erster Stelle steht.
Es ist nicht das erste Mal, dass wir im Plenum während der Beweisaufnahme schon darüber reden. Im Februar sprachen wir über einen Antrag der SPD, in dem auch bereits Ihrerseits bestimmte Schlussfolgerungen gezogen werden sollten.
(Zuruf des Abg. Timon Gremmels (SPD))
Die will ich im Augenblick, weil die Beweisaufnahme und insbesondere die Würdigung der einzelnen Zeugenaussagen noch gar nicht abgeschlossen sein können, jetzt überhaupt nicht bewerten. Aber wir sollten sie am Ende gemeinsam in einem Abschlussbericht treffen. Gegebenenfalls wird es dann bei der Bewertung dessen, was wir gemeinsam erlebt haben, möglicherweise Unterschiede geben.
Sie haben in Ihren Antrag auch – das wurde von Ihnen eben wiederholt – durchaus eine Spekulation hineingeschrieben, nämlich: Eine rechtssichere Regelung wäre mit einem Bundesgesetz möglich gewesen.
(Zuruf der Abg. Janine Wissler (DIE LINKE))
Das haben Sie gerade gesagt. Das ist eine schöne Prognose dessen, was das Bundesverfassungsgericht in absehbarer Zeit möglicherweise entscheiden wird. Denn genau die Frage, ob der rechtssichere Ausstieg gegeben ist – Stichwort: 13. Novelle zum Atomgesetz –, ist leider – „leider“ aus unserer inhaltlich-politischen Sicht – auch strittig. Daher sollte man mit Schlussfolgerungen und apodiktischen Sätzen in einem solchen Zusammenhang aus unserer Sicht eher ein bisschen vorsichtig sein.
(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU)
Vor allem will ich kurz auf die Ereignisse zurückzuschauen, in die berühmte Woche im März des Jahres 2011, beginnend an dem Freitag, als die Katastrophe in Japan geschah. Dies und die Folgetage haben wir als Hauptgegenstand unserer Untersuchungen.
In dieser Woche hat an dem Folgefreitag, am 18. März, eine Sitzung des Umweltausschusses stattgefunden. Frau Kollegin Wissler, Sie sollten sich daran erinnern, dass Sie eine von denjenigen waren, die quasi inquisitorisch die Ministerin befragt haben, warum das alles so lange dauere und warum die Verfügung noch nicht längst draußen war. Es war eine öffentliche Sitzung, daher darf ich aus dem Protokoll zitieren. Frau Wissler fragt:
Warum hat sich das Ministerium erst heute in der Lage gesehen, eine solche Verfügung zu erlassen? Das ist in anderen Bundesländern zum Teil schon am Dienstag passiert. Da sind erste AKWs in Baden-Württemberg bereits vom Netz gegangen. Warum hat die Regierung bis heute gewartet?
Heute erklären Sie uns mit Ihrem Antrag auch,
(Zuruf der Abg. Janine Wissler (DIE LINKE))
dass das der völlig falsche Weg gewesen sei, den Sie aber am 18. März 2011 sozusagen noch beschleunigen wollten. – Ich stelle das nur in den Raum, weil ich damit deutlich machen will, dass man vielleicht etwas sorgfältiger bei der Bewertung sein sollte. Wenn Sie jetzt Widersprüche in Aussagen feststellen,
(Zurufe der Abg. Janine Wissler (DIE LINKE) und Timon Gremmels (SPD))
Widersprüche z. B. zwischen der Bundeskanzlerin und dem Ministerpräsidenten, dann frage ich Sie: Sehen Sie nicht auch bei Ihren Aussagen zwischen damals und heute erhebliche Widersprüche? Insoweit würde ich dazu raten – immer im Sinne des Aufklärens, und zwar des vollständigen Aufklärens –, dass wir erst dann, wenn wir die Arbeit sorgfältig beendet haben, unsere abschließenden Bewertungen treffen.
(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der CDU)
Meine Damen und Herren, ich möchte die Gelegenheit, dass das heute wieder auf der Tagesordnung steht, durchaus dazu benutzen, die Dinge, die uns GRÜNEN wichtig sind, noch einmal deutlich zu unterstreichen. Das Erste ist: Es ist gut und richtig, dass wir in Hessen jetzt bereits und in Deutschland absehbar bis zum Jahr 2022 unseren Strom nicht mehr mit Atomkraft erzeugen,
(Beifall der Abg. Timon Gremmels und Stephan Grüger (SPD))
dass also die unverantwortliche, die unbeherrschbare und die heute lebende und viele nachfolgende Generationen noch weiterhin belastende Technologie endlich ein Ende hat.
(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Ich erinnere daran: Das war schon immer eines der wichtigsten politischen Ziele der GRÜNEN. Deswegen sind wir froh, dass wir es jetzt erreicht haben, auch wenn ich deutlich unterstreiche – das habe ich auch gegenüber der Bundeskanzlerin in Berlin gesagt –: Wir hätten Fukushima nicht gebraucht. Wir wussten es vorher schon und haben es auch immer und immer wieder gesagt, dass es unverantwortlich ist.
(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD)
Uns wurde dort gesagt, und das ist, was die gesamtpolitische Szene in Deutschland angeht, nicht zu bestreiten, dass natürlich die Ereignisse aus Fukushima zu einer anderen Beurteilung oder einem anderen Blickwinkel bei vielen beigetragen haben. Ich sage aus unserer Sicht: Gott sei Dank; denn endlich konnte der Atomausstieg jetzt im Konsens oder zumindest in einer sehr breiten Übereinstimmung durchgesetzt werden und wird hoffentlich – nein, ich bin ziemlich sicher – nicht noch einmal zurückgenommen.
Der zweite Punkt ist in der Tat, und das sprachen Sie schon an, dass das Gesetz vom 22. April 2002, das berühmte Gesetz zur geordneten Beendigung der Kernenergienutzung zur gewerblichen Erzeugung von Elektrizität, also der Atomausstieg der rot-grünen Bundesregierung und damaligen Bundestagsmehrheit, eindeutig und unstreitigerweise ein rechtssicherer Atomausstieg war,
(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD)
weil er mit der Atomindustrie vorher – dazu gab es viel Kritik – so verabredet und vereinbart war. Dieser Atomausstieg ist nun leider wieder zurückgenommen worden.
Deswegen habe ich Ihnen, um Ihnen drei Sätze vorzulesen, den Gesetzentwurf der Fraktionen von CDU/CSU und FDP für ein Elftes Gesetz zur Änderung des Atomgesetzes vom 28. September 2010 mitgebracht. Das ist die berühmte Rücknahme des Ausstiegs. Da wurde argumentiert:
Die Laufzeit der 17 Kernkraftwerke in Deutschland wird aus den genannten Gründen
– weil die Kernenergie eine Brückenfunktion haben soll und die Brücke verlängert werden sollte –
um durchschnittlich zwölf Jahre verlängert. Bei den Kernkraftwerken mit Beginn des Leistungsbetriebs bis einschließlich 1980
– dazu gehört Biblis –
wird die Laufzeit um acht Jahre verlängert, bei den jüngeren beträgt der Zeitraum der Verlängerung 14 Jahre.
Das ist sozusagen die wahre Quelle der Problematik.
(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD)
Denn wenn das nicht von der schwarz-gelben Mehrheit auf der Ebene des Bundes angekündigt gewesen wäre, wäre auch Biblis zu dem Zeitpunkt, der Fukushima betroffen und uns alle ereilt hat, längst nicht mehr am Netz gewesen, und eine Verlängerungsperspektive hätte es nicht gegeben. Das muss man also feststellen bei der Gesamtwürdigung.
(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)
Dann kam der 11. März, das Moratorium. Ganz spannend ist es mit Geschichten aus Berlin, wo wir neu dazugelernt haben. Der Begriff Moratorium wurde von Herrn Westerwelle erfunden und hatte erst den Inhalt: Es geht nur darum, diejenigen, die von der Laufzeitverlängerung schon profitieren, stillzulegen. Das war nur eines. Dann hat man den Begriff bei Beibehaltung des Namens Moratorium auf die ältesten Atomkraftwerke ausgedehnt, sodass Biblis mit eingeschlossen war.
Man hat dann – das ist sozusagen das Ende der Geschichte, wo Sie sagen, das war der rechtssichere Weg – die 13. Novelle des Atomgesetztes in Gang gesetzt, nachdem während der Zeit des Moratoriums sowohl die Reaktorsicherheitskommission als auch eine neu für diesen Zweck errichtete Ethikkommission ihre Ergebnisse produziert haben. Es ist eigentlich eine Debatte für sich wert, das zu betrachten. Auf jeden Fall wurde dann wiederum von derselben Mehrheit im Bundestag ein Gesetzentwurf zur Änderung des Atomgesetzes eingebracht, dass die Nutzung der Kernenergie zum frühestmöglichen Zeitpunkt zu beenden sei. So steht es im Vorblatt.
Das heißt, der Irrweg aus 2010 wurde 2011 wieder zurückgenommen, und das ist der Stand, von dem wir ausgehen, dass es politisch das Ziel ist, die Atomenergienutzung zu sogenannten friedlichen Zwecken für die Energiegewinnung ein für allemal in Deutschland loszuwerden – in Hessen haben wir es schon –, und die Folgeschäden müssen noch bewältigt werden.
 
Vizepräsident Wolfgang Greilich:
Den allerletzten Satz, bitte.
 
Frank-Peter Kaufmann:
Dann können wir alle ein Stück aufatmen. – Vielen Dank.
(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der CDU)
 
Vizepräsident Wolfgang Greilich:
Vielen Dank, Herr Abg. Kaufmann.