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22.06.2010

Andreas Jürgens zur Regierungserklärung von Justizminister Jörg-Uwe Hahn

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Herr Minister, Sie haben zur Einleitung Ihres Beitrages allgemeine Ausführungen über die Wirtschafts- und Finanzsituation gemacht. Ich glaube, dazu hätten Sie in diesem Kontext lieber schweigen sollen; denn wenn diejenigen, die mit ihrer Politik in Berlin die Einnahmeseite des Staates auf Hartz-IV-Niveau abzusenken versuchen, zu anderen sagen: „Ihr müsst sparen“, dann hat das zumindest ein Geschmäckle.

(Zuruf der Abg. Petra Fuhrmann (SPD))

Sie haben noch nicht verstanden, dass wir in Hessen ein von der Finanzkrise unabhängiges strukturelles Problem haben. Wir haben nämlich ein strukturelles Defizit im Haushalt, das wir bekämpfen müssen. Herr Staatsminister, wenn Sie dann Opel dafür loben, dass die ein Sanierungskonzept ohne Standortschließungen haben, und ein eigenes Konzept präsentieren, das vor allem Standortschließungen zum Gegenstand hat, dann ist das schon ein bisschen merkwürdig.

Schauen wir uns Ihr Konzept einmal in der Sache an. Ich will nicht weiter zur Finanzkrise, sondern zur Strukturreform in der Justiz reden. Verglichen mit den Gerüchten, die wir in den letzten Wochen und Monaten vernehmen mussten, ist das, was uns schlussendlich hier unterbreitet wurde, im Ergebnis vergleichsweise bescheiden. Immerhin war angedroht worden – intern offensichtlich noch weitaus konkreter als in der Öffentlichkeit –, das größte hessische Verwaltungsgericht, das Verwaltungsgericht in Frankfurt, zu schließen. Das Gericht mit den meisten Verfahren in Hessen – mit Sonderzuständigkeiten im Wirtschaftsrecht, von der Börsen- bis zur Bankenaufsicht – von der Bankenmetropole wegzuverlagern, war von Anfang an eine Schnapsidee. Hiervon abgebracht haben den Minister offenbar aber nicht Überlegungen der praktischen Notwendigkeit, sondern vor allem Angebote von Richterinnen und Richtern in der Verwaltungsgerichtsbarkeit, durch Abordnung an andere Gerichtsbarkeiten den Überhang an Richterstellen in der Verwaltungsgerichtsbarkeit zu beseitigen. Ich sage an dieser Stelle ausdrücklich: Dies ist ein großartiger Akt praktischer Solidarität mit anderen Gerichtsbarkeiten, die unter weit höheren Belastungen zu leiden haben, insbesondere der Sozialgerichtsbarkeit.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

Auch wenn die Freiwilligkeit der Bereitschaft zur Abordnung an andere Gerichte durch drohende Gerichtsschließungen mit motiviert sein sollte, ist sie doch geeignet, das Vorurteil über Richter, sie seien privilegienverliebt und arbeitsscheu, nachhaltig zu korrigieren. Nichts an diesem Zerrbild ist wahr. Das können jetzt alle am praktischen Beispiel erleben. Ich möchte mich deswegen an dieser Stelle ausdrücklich bei allen Richterinnen und Richtern in der Verwaltungsgerichtsbarkeit bedanken, die diese einmalige Aktion möglich gemacht haben. Sie sind ein Vorbild an Verantwortung und Solidarität mit anderen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

Im Ergebnis bleibt nach den Vorschlägen des Justizministers die Zahl der Verwaltungsgerichte unverändert. Ich darf nur daran erinnern, dass wir vor einigen Jahren auch einmal darüber diskutiert haben, das kleinste Verwaltungsgericht, das Verwaltungsgericht in Wiesbaden, zu schließen. Das ist offenbar nicht wieder aufgenommen worden, weil das Verwaltungsgericht Wiesbaden gerade erst im Justizzentrum eine neue Heimat gefunden hat. Das ist ein weiteres Beispiel dafür – ich komme bei Gelegenheit darauf noch zurück –, dass bei Entscheidungen des Ministers Immobilienaspekte offenbar eine größere Rolle gespielt haben als eine tatsächliche Effizienzsteigerung beim Rechtsschutz.

Im Ergebnis bleiben jedenfalls die Landgerichte, die Staatsanwaltschaften, die Amtsanwaltschaft in Frankfurt, die Sozial- und Finanzgerichtsbarkeit sowie die Justizvollzugsanstalten unangetastet – letzteres ein bisschen überraschend, weil nach der Schließung der JVA Kassel III immer wieder über die Schließung weiterer Anstalten spekuliert worden war, zumal die Gefangenenzahlen seit einigen Jahren rückläufig sind. Aber so ist es nun einmal.

Nun werden uns zu den Arbeitsgerichten genau die Vorschläge präsentiert, die der Rechnungshof schon in seinem Bericht im Jahr 2005 vorgelegt hatte. Auch hier hat es übrigens zwischenzeitlich Gerüchte gegeben: das Arbeitsgericht Offenbach solle auf die Standorte Hanau und Darmstadt aufgeteilt, das mittelhessische Arbeitsgericht in Marburg angesiedelt und das Arbeitsgericht Fulda nach Bad Hersfeld verlegt werden – statt umgekehrt. Auch über eine mögliche Schließung der JVA Limburg – nach der Schließung der JVA Kassel III – wurde lange spekuliert. Jetzt bleibt sie, ich habe es schon gesagt, unangetastet.

Ich weiß nicht, wer diese Spekulationen in die Presse und jeweils vor Ort gestreut hat.

(Lachen bei der FDP)

Geholfen haben sie jedenfalls dem Justizminister, denn er findet für seine Vorschläge jetzt eine höhere Akzeptanz – nach dem Motto: „Es hätte alles noch schlimmer kommen können“. Offenbach und Fulda sind froh über den Bedeutungsgewinn ihrer Arbeitsgerichte. Entsprechende öffentliche Erklärungen haben uns ja schon erreicht. Limburg verliert zwar das Arbeitsgericht, ist aber froh, dass nicht auch noch die JVA geschlossen wird, und der Schmerz über den Verlust des Arbeitsgerichts wird in Bad Hersfeld durch die Aufwertung des dortigen Amtsgerichts gemildert, bei dem das Amtsgericht Rotenburg eingegliedert werden soll. Wer Schmerzhaftes durchsetzen will, muss vorher noch Schmerzhafteres androhen. Das scheint die Taktik des Justizministers gewesen zu sein.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

Übrig bleibt die Umsetzung der Vorschläge des Rechnungshofs aus dem Jahr 2005 zu den Arbeitsgerichten. Da fragt man sich natürlich schon: Wenn das alles so sinnvoll, effizienzsteigernd und wirksam ist, wie der Herr Justizminister behauptet, warum hat die Landesregierung dann 5 Jahre gewartet, um das umzusetzen? Einen Grund dafür nennt der Bericht des Rechnungshofs selbst. Die Landesregierung hatte damals dem Rechnungshof Folgendes mitgeteilt – ich zitiere –:

Aus Gründen der Standortsicherung sollten jedoch die Arbeitsgerichte Bad Hersfeld und Limburg bestehen bleiben.

Warum die Landesregierung das inzwischen nicht mehr so sieht, wurde uns bisher nicht mitgeteilt. Die jetzige Entscheidung ist damit nach meiner Beurteilung auch eine Watsche für die Vorgängerjustizminister Dr. Wagner und Banzer, die das offensichtlich noch anders haben wollten.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

Weiterhin wurde uns damals als Stellungnahme der Landesregierung mitgeteilt, vor einer Zusammenlegung seien weitere Untersuchungen notwendig, bei denen insbesondere die Erreichbarkeit der Gerichte mit öffentlichen Verkehrsmitteln, die Interessen der Rechtsanwälte und der ehrenamtlichen Richter sowie die Umsetzungsperspektiven des Personals berücksichtigt werden sollten. Aber nichts davon ist in der Zwischenzeit geschehen: Weder wurde die Erreichbarkeit mit öffentlichen Verkehrsmitteln geprüft – jedenfalls wurde uns das nicht mitgeteilt –, noch wurden die Rechtsanwälte einbezogen, sonst könnte es ja nicht sein, dass ausgerechnet die Rechtsanwälte diejenigen sind, die jetzt die heftigste Kritik an den Plänen äußern.

(Zuruf von der FDP)

Die Rechtsanwaltskammer Kassel hat kürzlich auf einer Tagung in Marburg eine Resolution zum Erhalt der Gerichtsstandorte – insbesondere der Arbeitsgerichtsbarkeit – verabschiedet, und fast täglich werden von örtlichen Rechtsanwälten die Pläne in den Medien kritisiert. Sie befürchten natürlich, dass mit der Schließung von Gerichtsstandorten ein Bedeutungsverlust der eigenen Kanzlei einhergehen wird. Ich bin übrigens gespannt, wie die Anwaltsfraktion der FDP mit diesen Fragen umgehen wird.

(Heiterkeit bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)

In der Stellungnahme der Landesregierung heißt es übrigens auch, eine Optimierung der Struktur der Arbeitsgerichte sei mit den Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbänden abzusprechen. Eine solche Absprache hat offenbar nicht stattgefunden. Wir haben Bekundungen der IHK in Offenbach und der Wirtschaftsjunioren in Limburg, die sehr scharf gegen die Gerichtsschließungen protestiert haben. Die Gewerkschaften sind sowieso dagegen. Offensichtlich hat also all das, was damals angekündigt worden war, nicht stattgefunden.

Ich weiß, dass mit Kolleginnen und Kollegen aus der Arbeitsgerichtsbarkeit relativ intensiv Gespräche geführt wurden und dass die jetzt präsentierten Pläne mit ihnen abgestimmt waren. Ihre Zustimmung wurde übrigens im Wesentlichen dadurch motiviert, dass ihnen versprochen wurde, kein Personal abzubauen. Aber immerhin wurde offenbar mit dieser Richterschaft gesprochen, während alle anderen Beteiligten eher außen vor waren. Mindestens das muss noch nachgeholt werden.

Bei den Amtsgerichten, die jetzt geschlossen werden sollen, ist die Situation ein bisschen anders. Hier gab es 2004 ja schon einmal eine Aktion, bei der kleinere Amtsgericht geschlossen oder zu Zweigstellen einer größeren Einheit herabgestuft wurden. Warum im Jahre 2012 geschlossen werden soll, was 2004 noch als erhaltenswert angesehen wurde, ist bisher nicht hinreichend erklärt; denn die jetzt zur Schließung anstehenden Gerichte waren damals ja nicht größer. Soll also jetzt nachgeholt werden, was vom damaligen Justizminister Dr. Wagner versäumt wurde, oder erleben wir nur einen weiteren Schritt im Rahmen einer Salamitaktik? Dann ist natürlich die Frage: Wann folgt der nächste Schritt, und wie soll der aussehen? Sind in einem weiteren Schritt vielleicht diejenigen dran, die sich jetzt noch sicher wähnen, wie die Amtsgerichte in Seligenstadt, Kirchhain, Idstein usw.? Der damalige Justizminister Herr Dr. Wagner hat uns damals erklärt, jetzt sei die Struktur der Amtsgerichte in Ordnung. Die neue Landesregierung sagt nun plötzlich, es sei alles ganz anders. Das bedarf zumindest eines Worts der Erklärung.

Meine Damen und Herren, es ist natürlich so, dass die Standorte der heutigen Amtsgerichte in vordemokratischer Zeit oft rein willkürlich, durch Entscheidung irgendeines feudalen Gerichtsherrn, entstanden sind. Die Verleihung der Gerichtshoheit an eine Gemeinde oder einen Vasallen galt damals ja als große Ehre und Aufwertung der Bedeutung. So sind einige sehr alte Gerichtsstandorte entstanden. Die jetzige Struktur – Amtsgericht, Landgericht und Oberlandesgericht – ist ja erst mit den Reichsjustizgesetzen 1870/1871 entstanden. Seitdem haben alle ordentlichen Gerichte, die Landgerichte und Amtsgerichte sowohl von den Standorten als auch von den Arbeitsabläufen und Zuständigkeiten her ständig Änderungen erfahren. Standorte wurden aufgegeben oder verlagert, andere ausgebaut bzw. erweitert. Vielfach wird in den Regionen das örtliche Gericht als Zeuge vergangener Größe einer Stadt verstanden und diese Historie liebevoll gepflegt. Das ist gut und richtig. Wenn ich den örtlichen Ärger über den angedrohten Verlust des „eigenen“ Gerichts höre, ist das natürlich nachvollziehbar.

Es ist auch – was ich positiv sehe – ein Beleg für die Verbundenheit mit der Justiz und der eigenen lokalen Geschichte. Insofern ist es ein gutes Zeichen, wenn so viele Menschen vor Ort zunächst einmal – ich sage es vorsichtig – reserviert auf die Pläne der Landesregierung reagieren. Aber für uns im Landtag können die örtlichen Besonderheiten natürlich nur ein Aspekt unter vielen sein, die wir unserer Entscheidung zugrunde legen müssen.

Sie erinnern sich vielleicht daran, dass meine Fraktion auch schon bei der letzten Schließungsrunde von Amtsgerichten nicht pauschal alle Veränderungen abgelehnt hat. Vielmehr haben wir uns auf die Schließungen konzentriert, die wir aus sachlichen Gründen nicht für gerechtfertigt hielten.

Ich habe schon damals in verschiedenen Diskussionsrunden gesagt, die Tatsache, dass in einem Ort mehr als 150 oder 200 Jahre lang ein Gericht ansässig war, ist kein hinreichender Grund dafür, dass dort auch in den nächsten 150 oder 200 Jahren ein Gericht ansässig sein muss. Selbstverständlich müssen wir uns immer wieder vergewissern, welche Standorte die richtigen sind, und selbstverständlich kann auch eine Zusammenlegung von Gerichten sinnvoll sein, wenn dadurch effektiver arbeitende Einheiten entstehen. Der Hessische Rechnungshof hat dargestellt, dass mittlere Gerichte mit zehn bis 25 Richterplanstellen am effektivsten arbeiten würden.

Natürlich ist die Zusammenlegung von Kleinstgerichten, die nur zwei oder drei Richterstellen haben, mit einem Effizienzgewinn in den Arbeitsabläufen verbunden. Bei ganz kleinen Gerichten mit nur zwei Richterstellen ist schon eine Vertretung im Krankheits- und Urlaubsfall ein Problem.

Frau Hofmann hat vorhin gesagt, die Spezialgerichtsbarkeiten müssten erhalten bleiben, weil das Recht immer komplizierter werde, und die Spezialisierung sei so wichtig. Eine Spezialisierung gibt es bei zwei Richtern vor Ort selbstverständlich nicht. Die müssen alles machen: Betreuungssachen, Wohnungseigentumssachen, Nachlasssachen, Vollstreckungssachen, Zivilsachen, Registersachen und alles, was noch dazukommt. Das ist ein großes Sammelsurium; eine Spezialisierung gibt es nicht. Die ist erst möglich, wenn man mehr Richterstellen hat.

Das Gleiche gilt für Geschäftsstellen, Rechtspfleger und Kostenbeamte. Natürlich sind in den Arbeitsabläufen Effizienzgewinne zu generieren. Die wären auch schon vor 50 oder 60 Jahren zu generieren gewesen. Wir müssen erklären, warum wir das jetzt erst machen und es früher bleiben ließen. Der Herr Minister hat gesagt, mit der IT-Ausstattung sei das viel günstiger, und deshalb könne man es jetzt machen. Das ist eigentlich eher ein Argument in die umgekehrte Richtung. Früher war der Richter in Zivilsachen höchstens mit einem Kommentar ausgestattet.

Vizepräsident Frank Lortz:

Herr Kollege Dr. Jürgens, gestatten Sie eine Zwischenfrage von Frau Hofmann?

Dr. Andreas Jürgens:

Nein, im Augenblick nicht. Sie können aber bei 20 Minuten gern eine Intervention machen.

Jetzt hat ein Richter an einem kleinen Amtsgericht über die IT-Struktur natürlich die Möglichkeit, die ganze Rechtsprechung und die ganze Literatur dazu einzusehen. Das ist also eher ein Argument in die andere Richtung.

Ich bin sicher, wir können durch die Zusammenlegung von kleinen Amtsgerichten und auch von kleinen Arbeitsgerichten Effizienzgewinne in den Arbeitsabläufen generieren. Aber damit ist noch nicht die Frage beantwortet, ob wir das auch machen sollen. Wir müssen uns nämlich überlegen, welche Belastungen und Nachteile für das Rechtspublikum auf der anderen Seite möglicherweise damit verbunden sind.

Eine entscheidende Frage, auch in unserem Kontext, lautet – das ist hier als ein besonderes Sparbeispiel dargestellt worden –: Was bringt das in Euro und Cent? Es geht also um die Frage, wie viel man mit diesen Effizienzgewinnen wirklich einspart.

Kommen wir zunächst zur Bürgernähe der Justiz. Natürlich ist die Bürgernähe für einen demokratischen Rechtsstaat unabdingbar. Recht haben und Recht bekommen sind bekanntlich zweierlei. Der Zugang zum Recht erfolgt vor allem über die Gerichte. Sowohl bei den Arbeitsgerichten als auch bei den Amtsgerichten sind die räumlichen Entfernungen besonders bedeutsam. Bei den Arbeitsgerichten – Frau Hofmann hat es schon angesprochen – hängt das mit den obligatorischen Güteterminen zusammen. Der Arbeitnehmer muss dort erscheinen; er muss vor Gericht auftreten. Auch zu den Amtsgerichten – ich greife nur die Betreuungs- und die Nachlasssachen heraus – müssen die Betroffenen kommen. Es muss einen persönlichen Kontakt geben; das ist sogar gesetzlich vorgeschrieben.

Aber ich sage auch: Eine Reduzierung der Zahl der Arbeitsgerichte von zwölf auf sieben ist aus meiner Sicht noch nicht zwingend ein Verstoß gegen die Erreichbarkeit der Gerichte. Ich darf nur daran erinnern, dass wir in Hessen von alters her sieben Sozialgerichte haben, nicht zwölf. Ich kenne niemanden, der wegen mangelnder Bürgernähe für eine Erhöhung dieser Zahl plädiert. Auch DIE LINKE hat in ihrem Antrag nicht gefordert, fünf neue Sozialgerichte in Hessen einzurichten.

Ich glaube im Übrigen, dass für die Entscheidung, einen Prozess zu führen – die freiwillige Gerichtsbarkeit ist wieder etwas anderes –, die Frage, wo das Gericht angesiedelt ist, von eher untergeordneter Bedeutung ist. Es geht um die Erfolgsaussichten und darum, wie man sich vertreten lässt, was man mit seinem Gegenüber macht. Ob man als Arbeitnehmer wirklich 37 € von seinem Arbeitgeber einklagt, wird von vielen Fragen beeinflusst. Möglicherweise wird es auch von der Entfernung zum Gericht beeinflusst; aber das ist eher von untergeordneter Bedeutung.

Deswegen sage ich ganz klar zu dem Antrag der LINKEN, die hier im Grunde genommen fordern, dass das, was schon immer so war, auch so bleiben soll: Dieser Antrag ist uns, mit Verlaub, viel zu konservativ. Wir wollen in der Sache entscheiden: Was ist sinnvoll? Wo kann man Effizienzgewinne generieren? Wo spart man dadurch Geld, und wo ist eine Änderung im Ergebnis sinnvoll, ohne dass die Menschen unzumutbar belastet werden?

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Aber dann müssen wir uns auch besonders gut anschauen, wie weit die Wege sind, die dadurch entstehen. Von Schwalmstadt, Frielendorf oder Neukirchen in der Schwalm, die bisher zum Einzugsgebiet des Arbeitsgerichts Marburg gehören, ist es bis Gießen, wohin sie in Zukunft gehören, unglaublich weit. Ich glaube, das ist die weiteste Fahrtstrecke, die entsteht.

Die Intervention aus dem Werra-Meißner-Kreis ist schon angesprochen worden. Sie sagen, sie wollen insgesamt unter die Zuständigkeit des Arbeitsgerichts Kassel fallen. Das macht aber ein anderes Problem deutlich. Aufgrund der vorgesehenen Verlagerungen gibt es oberhalb einer gedachten Linie Gießen – Fulda nur noch ein einziges Arbeitsgericht, nämlich das Arbeitsgericht Kassel. Ich denke, wir müssen in der Ausschussberatung sorgfältig darüber sprechen, ob das hinreichend bürgernah ist.

Nun wird die Aktion des Justizministers vor allen Dingen mit den Sparvorgaben des Finanzministers begründet. Also fragen wir uns einmal, was durch das Ganze eingespart wird. Beim Personal wird praktisch nichts eingespart. Wir haben gehört, dass es wegen der hohen Belastung der Justiz dort keine Reduzierungen geben kann. Ob ein Richter in Limburg oder in Wiesbaden richtet, es kostet immer das Gleiche. Eingespart werden ein paar Zulagen für künftig nicht mehr benötigte Direktorenstellen. Aufgrund des Zuwachses an anderer Stelle werden die Kosten aber wieder aufgebaut. Im Grunde genommen ist das ein Nullsummenspiel.

Natürlich werden Kosten gespart, wenn Liegenschaften aufgegeben werden. Aber wie hoch ist die Ersparnis? Die kann nämlich tatsächlich realisiert werden. Der Herr Justizminister hat in der letzten Woche in der Vorlage zur Pressekonferenz erklärt, mit der Schließung der Arbeitsgerichte sollten 600.000 € eingespart werden. Mich würde interessieren, wie sich dieser Betrag zusammensetzt. Durch die Schließung der Amtsgerichte sollen übrigens 2 Millionen € eingespart werden. Konkretisiert haben Sie das nicht. Wir haben hier noch erheblichen Informationsbedarf. Aber Sie haben angekündigt, dass das im Ausschuss nachgeholt wird.

In der Pressekonferenz in der letzten Woche wurde übrigens auch erklärt, dass das Amtsgericht Idstein, das wegen seiner Größe durchaus als Schließungskandidat infrage gekommen wäre, nicht geschlossen werden soll. Das sei nicht möglich, da das dortige Gerichtsgebäude im Zuge von Leo an einen Investor verkauft und langfristig wieder angemietet worden sei.

Das ist genau das, was wir immer gesagt haben: Wenn man etwas für 30 Jahre anmietet, verhindert man, dass man irgendwelche Strukturentscheidungen treffen kann. Also auch hier: Immobilienfragen entscheiden über die rechtliche Struktur. Das ist unseres Erachtens falsch.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Bleiben wir dabei, wo gespart wird. Dazu gehört auch die Frage: Entstehen durch die Gerichtsschließungen unter Umständen an anderer Stelle Mehrkosten? Im Rechts- und Integrationsausschuss wollte ich durch einen Dringlichen Berichtsantrag erfahren, welche Einsparungen die Schließung der kleinen Amtsgerichte vor ein paar Jahren gebracht hat.

Eigentlich sollte man, wenn man sich daranmacht, die nächste Schließungsrunde vorzubereiten, wissen, was die letzte Schließungsrunde gebracht hat; aber die Antworten darauf waren ernüchternd: Das Ministerium weiß, dass es nichts weiß.

Das ist wohl auch der Eindruck in der betroffenen Richterschaft. Im Gegensatz zu den Arbeitsrichtern fühlen sich die Kolleginnen und Kollegen in der ordentlichen Gerichtsbarkeit vom Justizministerium offenbar nicht sehr gut mitgenommen.

Ich habe ein Schreiben des Bezirksrichterrats beim Oberlandesgericht Frankfurt vom 12.06. an Staatssekretär Dr. Kriszeleit vorliegen. Dort wird kritisiert, es werde nicht hinreichend dargelegt, zu welchen Einsparungen es bisher gekommen sei. Ich zitiere einen Satz aus diesem Schreiben:

Soweit Sie, erst auf unsere Nachfrage, wenigstens einige Beispielzahlen für Bad Arolsen und Usingen genannt haben, sind diese nicht ausreichend, um auch nur ansatzweise beurteilen zu können, ob Ihre Ankündigung, „people“ seien wichtiger als der Erhalt von Beton, hier überhaupt eine Grundlage findet.

Ich habe in meinem Dringlichen Berichtsantrag übrigens unter anderem gefragt, ob durch die Schließung die Beträge für Erstattung von Fahrtkosten für Prozessbeteiligte gestiegen oder gesunken seien. Nach meiner Auffassung müsste man das relativ schnell herausfinden können, indem man einfach schaut, was in den Amtsgerichten X und Y vorher dafür ausgegeben wurde und was in dem zusammengelegten Amtsgericht Z anschließend dafür veranschlagt wird. Dann hätte man zwar keine Untersuchung mit nach Euro und Cent bezifferten Ergebnissen gehabt, aber zumindest eine Tendenz.

Hinsichtlich der Immobilien wurde uns damals angegeben, man habe 900.000 Euro gespart, allerdings auf der Grundlage eines fiktiven Quadratmeterpreises von 10 Euro pro Monat. Der fällt vielleicht im Rhein-Main-Gebiet an, ganz sicher aber nicht in den kleinstädtischen und ländlichen Räumen.

Die spannende Frage ist also: Was kommt für den Haushalt dabei heraus? Sie ist im Augenblick noch weit von einer Klärung entfernt.

Wir werden unsere Haltung ganz entscheidend davon abhängig machen, ob wir den betroffenen Rechtsuchenden die Belastung, die mit den längeren Wegen selbstverständlich verbunden ist, zumuten können. Diese steht gegenüber den Effizienzgewinnen im Arbeitsablauf und den Einsparungen für den Haushalt der Justiz.

Herr Justizminister, vor allem frage ich mich aber eines – die Frage haben Sie auch heute wieder nicht beantwortet –: Wie sollen eigentlich die 23,6 Millionen Euro Einsparung für den nächsten Haushalt zustande kommen? – Nach den Vorgaben des Finanzministers müssen Sie das einsparen. Denn all das, über das wir heute reden, wird frühestens im Haushaltsjahr 2012 wirksam werden. Denn die Schließung der Amts- und der Arbeitsgerichte braucht einige Zeit an Vorlauf. Vielleicht geht das beim Arbeitsgericht Limburg. Da ist der Mietvertrag schon ausgelaufen. Die sind jetzt beim Landgericht untergeschlüpft.

Wir brauchen eine Änderung des Gesetzes. Die Vorlage liegt dem Landtag noch nicht einmal vor. Es wird sich also hinziehen. Nach meiner Einschätzung würde das im Jahr 2011 nicht mehr wirksam werden.

Ich hatte das schon erwähnt. Wenn man es einmal zusammenrechnet, erkennt man, dass Sie bei den Amtsgerichten auf Einsparungen in Höhe von 2 Millionen Euro und bei den Arbeitsgerichten in Höhe von 0,6 Million Euro kommen. Das sind in der Summe 2,6 Millionen Euro und damit gerade einmal etwas mehr als 10 Prozent des Gesamtbetrags, der eingespart werden soll. Also stelle ich auch hier die Frage: Wo kommt der Rest her?

Sie haben in der Presseerklärung und in der heutigen Erklärung ein paar Zahlen genannt, die nicht näher substanziiert waren. In der Summe würden Sie damit im Übrigen die 23,6 Millionen Euro gar nicht erreichen.

Ich will schon noch wissen, woher die Einsparungen eigentlich kommen sollen. Bisher ist das, was Sie hier erklärt haben, nur ein Hinweis darauf, dass Sie sparen wollen. Es ist noch kein Beleg dafür, dass Sie das tatsächlich einsparen können.

Wir werden sicherlich noch sehr intensive Diskussionen über dieses Thema im Ausschuss und auch im Plenum haben. – Danke schön.

(Anhaltender Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Frank Lortz:

Herr Dr. Jürgens, vielen Dank.