Inhalt

17.06.2009

Andreas Jürgens zum Thema Chancen- und Teilhabegerechtigkeit

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Im Koalitionsvertrag von CDU und FDP spielt die Sozialpolitik praktisch keine Rolle. Hessen ist inzwischen das einzige Land, das nicht einmal mehr ein Ministerium hat, das in seinem Zuständigkeitsnamen das Soziale trägt.

(Zurufe von der CDU)

Wir haben einen Sozialminister, der eigentlich etwas ganz anderes machen wollte und seinen gegenwärtigen Job erkennbar lustlos versieht. Der sozialpolitische Sprecher der FDP hat in der letzten Plenarrunde erklärt, er habe an einer gerechten Gesellschaft kein Interesse – oder so etwas Ähnliches.

(Zuruf des Abg. Florian Rentsch (FDP))

Herr Rentsch erklärt uns heute, es gebe angeblich einen Widerspruch zwischen Sozialstaat und Bürgergesellschaft. Dann legen Sie uns noch einen Antrag vor, der nichts anderes ist als eine Aneinanderreihung von Worthülsen und Sprechblasen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Florian Rentsch (FDP): Da steht er doch, der Sozialminister! Da steht er doch!)

Meine Damen und Herren, wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, dass Sie Sozialpolitik weder können noch wollen, haben Sie ihn hiermit geliefert.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Damit es jeder merkt, machen Sie das Ganze auch noch zum Setzpunkt. Herzlichen Dank dafür. Es gilt der alte Satz: Jeder blamiert sich, so gut er kann. – Sie können das besonders gut.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Eines ist ganz klar: Ein paar dürre Sätze in einem Antrag können nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Politik dieser Landesregierung unsozial ist. Mit der „Operation düstere Zukunft“ im Jahr 2005 wurde die soziale Infrastruktur in Hessen erheblich beschädigt. Wir haben das nicht vergessen.

Frauenhäuser mussten zumachen, Schuldnerberatungsstellen mussten ihre Arbeit reduzieren, die Hilfe für straffällige Jugendliche gibt es nicht mehr, und die Mittel für Familienberatungsstellen wurden ebenfalls reduziert. All das ist plattgemacht worden, oder die Mittel wurden deutlich reduziert.

Natürlich hat das die CDU damals allein verbrochen. Aber die Aufnahme der FDP in die Koalition hat nichts daran geändert. Das haben wir eigentlich auch nicht erwartet. Sie haben bisher nichts korrigiert. Deswegen werden wir Ihnen das immer wieder vorhalten.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die schönen Worte und die Bekenntnisse in Ihrem Antrag stehen nämlich in diametralem Gegensatz zu Ihrer realen Politik. Einen Satz finde ich besonders bemerkenswert. Da steht: „Der Mensch steht im Mittelpunkt politischen Handelns.“ Das ist so allgemein wie richtig, könnte man meinen.

Aber schauen wir uns doch einmal Ihre politische Praxis an. Welcher Mensch steht denn bei Ihnen im Mittelpunkt? Homosexuelle Menschen können Sie damit jedenfalls nicht gemeint haben; denn denen enthalten Sie weiterhin gleiche Rechte vor. Deren rechtliche Diskriminierung wollen Sie gar nicht beseitigen, sondern Sie wollen sie aufrechterhalten.

(Zuruf des Abg. Hans-Jürgen Irmer (CDU))

Sie können auch nicht wirklich behaupten, dass junge Menschen, also Kinder, im Mittelpunkt Ihrer Politik stehen. Sonst hätten Sie nicht die dringend notwendige Verbesserung der Mindeststandards für die Kinderbetreuung wieder gestrichen, wie es gerade vor ein paar Tagen geschehen ist.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuiruf des Abg. Hans-Jürgen Irmer (CDU))

Sie meinen auch nicht die weiblichen Menschen. Frauenpolitik kommt nämlich bei Ihnen nur noch als Familienpolitik vor. Den Anspruch auf Gleichstellung haben Sie sogar als politisches Ziel aufgegeben.

Sie meinen sicherlich auch nicht, dass behinderte Menschen bei Ihnen im Mittelpunkt stehen. Wenn man sich einmal das Hessische Behindertengleichstellungsgesetz anschaut, stellt man fest, dieses Gesetz ist eines der zahnlosesten in der ganzen Republik. Der gemeinsame Unterricht von behinderten und nicht behinderten Kindern findet in Hessen so wenig statt wie in fast keinem anderen Bundesland. Sie wollen das noch nicht einmal ändern.

Schließlich können Sie auch kaum die Menschen mit Migrationshintergrund meinen. Die stehen bei Ihnen ganz und gar nicht im Mittelpunkt. Die Einbürgerungsquote ist in Hessen beschämend gering. Wir haben das vor Kurzem lesen können. Was das Bleiberecht betrifft, so wollen Sie die Hürden für Härtefälle anheben. Darüber werden wir morgen diskutieren. Die ausländerfeindlichen Kampagnen in diversen Wahlkämpfen sind jedem noch in Erinnerung.

Meine Damen und Herren, das ist genau das Problem: Bei Ihnen stehen nicht alle Menschen im Mittelpunkt. Bei Ihnen steht der heterosexuelle, nicht behinderte weiße Mann im erwerbsfähigen Alter ohne Migrationshintergrund im Mittelpunkt.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich muss Ihnen sagen: Das ist in unserer Gesellschaft eine Minderheit, auch wenn sich praktisch die gesamte FDP-Fraktion aus dieser Minderheit rekrutiert.

(Heiterkeit bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Es handelt sich dabei um eine Minderheit in unserer Gesellschaft.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der Abg. Heike Hofmann (SPD))

Wahrscheinlich ist das auch einer der Gründe, weshalb Sie einen sehr eingeschränkten Blick auf die Lebenswirklichkeit haben. Das Leben ist nämlich viel bunter, als es in Ihrem Entschließungsantrag zum Ausdruck kommt.

Natürlich ist das eine Aufgabe der Sozialpolitik. Sie schreiben in Ihrem Entschließungsantrag – ich zitiere –: Sie soll „Schutz vor und Hilfe in Notlagen“ leisten. Das ist gar keine Frage. Wer wollte bestreiten, dass das eine wichtige Aufgabe der Sozialpolitik ist. Aber darin erschöpft sich doch eine aktive Sozialpolitik nicht, die diesen Namen verdient.

Der Sozialstaat ist nicht nur der Ausfallbürge für diejenigen, die in Notlagen geraten sind. Er muss für eine angemessene Betreuungs- und Erziehungsmöglichkeit für alle Kinder sorgen, und nicht nur für arme Kinder oder solche in Notlagen. Wir müssen allen Jugendlichen Hilfe anbieten, auch wenn sie nicht in Not sind, sondern alterstypische Probleme zu bewältigen haben. Das gilt z. B. für Straffälligkeit im jugendlichen Alter. Da haben Sie die notwendigen Hilfen gestrichen. Sie bieten jetzt nur noch den Jugendknast an. Das war falsch, das ist falsch, und das bleibt falsch.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

Es gibt Menschen mit Behinderungen, die in allen Lebenslagen, und nicht nur in Notlagen, auf Assistenz und Unterstützung angewiesen sind. Die Bekämpfung der Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, des Alters, der sexuellen Identität, einer Behinderung usw. ist eine fortwährende Aufgabe auch des Sozialstaates. Das heißt, wir brauchen den Sozialstaat nicht nur in Notlagen und Notzeiten, sondern immer und überall.

Auch die Schaffung von Arbeitsplätzen für Menschen, die Schwierigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt haben, dient nicht nur der Vermeidung der Armut und Notlagen. Die Menschen brauchen diese Hilfen für ihr Selbstwertgefühl und die Gewissheit, von dieser Gesellschaft nicht ins Abseits gestellt zu werden. Das ist doch der Kern.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

In einer offenen und freiheitlichen Gesellschaft muss die Botschaft für alle Menschen lauten: Es gibt für dich einen Platz im Leben, es gibt für dich einen Platz in dieser Gesellschaft.

Die Sozialpolitik muss dafür sorgen, dass dies kein leeres Versprechen bleibt. Sie kann und muss sogar dem Einzelnen dabei helfen, diesen Platz im Leben zu suchen und zu finden. Einnehmen und Ausfüllen kann diesen Platz in der Gesellschaft selbstverständlich nur jedes einzelne Mitglied selbst. Das ist meine feste Überzeugung.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das verstehen wir unter Selbstbestimmung, gleichberechtigter Teilhabe und unter Gerechtigkeit.

Das alles ist selbstverständlich nicht allein Aufgabe des Staates. Wie könnte das sein? Das ist selbstverständlich eine Aufgabe der gesamten Bürgergesellschaft und eine fortwährende Herausforderung. Es ist aber eben auch die Aufgabe des Staates, sich hier nicht zurückzulehnen und die Gesellschaft sich selbst zu überlassen. Vielmehr muss er dort, wo es notwendig ist, aktiv werden.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Selbstverständlich kann und darf meiner Überzeugung nach der Staat den Menschen nicht die Aufgabe abnehmen, ihr eigenes Leben zu führen. Wir wollen keinen paternalistischen Versorgungsstaat.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Für uns ist völlig klar: Jede noch so gut gemeinte Fürsorge ist tendenziell auch freiheitsbedrohend. Das muss uns immer klar sein.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

Wie jede Medizin Nebenwirkungen hat und in Überdosierung giftig wird, so gilt das auch für Fürsorgeleistungen. Wer weiß das besser als die Menschen mit Behinderungen? Wir begegnen im Laufe unseres Lebens einer ganzen Reihe Berufsgruppen, die alle, selbstverständlich im besten Glauben, meinen, besser als wir selbst zu wissen, wie, wo und wann wir zu leben haben.

Notwendige Hilfe kann schnell entmündigend wirken. Sie tut dies auch in vielen Fällen. Das Fördern und Fordern kann schnell aus dem Gleichgewicht geraten. Es kann in Gängelung und Überwachung umschlagen. Wir haben das an anderer Stelle oft diskutiert.

Dennoch kann das kein Grund sein, die notwendige Hilfe zu verweigern. Wir müssen uns darüber klar sein, dass sie so erbracht werden muss, dass sie die Selbstbestimmung fördert und nicht behindert. Das ist eine fortwährende Aufgabe. Wir brauchen aber keinen Nachtwächterstaat, der alles sich selbst überlässt.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

Meine Damen und Herren der CDU und der FDP, bei der Gerechtigkeit haben Sie eine eingeschränkte Sichtweise. Das wird mit Ihrem Entschließungsantrag deutlich. Ihnen geht es nur, wie Sie es in der Überschrift festgehalten haben, um Chancen- und Teilhabegerechtigkeit. Ob die Menschen, die Ihnen gewährten Chancen nutzen, interessiert Sie schon nicht mehr.

Unsere Vorstellung der Gerechtigkeit ist weitergehend. Wir wollen auch die Verteilungsgerechtigkeit, die Geschlechtergerechtigkeit, die Generationengerechtigkeit usw.

Ob eine Gesellschaft ihren Mitgliedern Gerechtigkeit bietet, entscheidet sich nicht nur beim Start ins Leben und hinsichtlich der Frage, ob die Chancen gerecht verteilt sind. Es entscheidet sich darin, ob alle Menschen an Bildung, Arbeit, Gesundheit, Einkommen, politischer Gestaltung und dem Leben in der Gemeinschaft gleichberechtigt teilhaben können. Gemessen daran ist Ihre neoliberale Politik zweifelsfrei ungerecht.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)

Deshalb haben wir Ihrem Entschließungsantrag der leeren Worte einen eigenen Dringlichen Entschließungsantrag gegenübergestellt. Wir wollen damit die Spannweite aktiver Gesellschafts- und Sozialpolitik deutlich machen. Herr Spies wird das sicherlich auch feststellen, sobald er den Dringlichen Entschließungsantrag etwas aufmerksamer gelesen hat.

(Heiterkeit der Abg. Kordula Schulz-Asche und Jürgen Frömmrich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Wir wollten diese Spannweite verdeutlichen, soweit das im Rahmen eines Dringlichen Entschließungsantrags überhaupt möglich ist.

Wir bitten um Zustimmung zu unserem Dringlichen Entschließungsantrag. – Danke schön.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Frank Lortz:

Herr Dr. Jürgens, vielen Dank.

Zum Thema