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16.12.2010

Andreas Jürgens: Volksbegehren und Volksentscheid in Hessen

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! In der Hessischen Verfassung gibt es seit mehr als 64 Jahren ein uneingelöstes Versprechen, nämlich das Versprechen, die hessischen Bürgerinnen und Bürger könnten durch Volksgesetzgebung das hessische Landesrecht aktiv mitgestalten. Das Versprechen, die hessische Demokratie stütze sich ganz besonders auf die aktive Mitwirkung des Volkes, wurde bisher nicht eingehalten. Noch nie in der Geschichte des Landes Hessen war ein Volksbegehren erfolgreich.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der Abg. Nancy Faeser (SPD))

Wir hatten am 1. Dezember – das ist in Hessen immerhin der Verfassungstag – eine ausführliche Anhörung zu diesem Thema. Dabei ging es vor allem um die Frage, mit welchen Maßnahmen erreicht werden kann, dass auch in Hessen Volksbegehren und Volksentscheid eine Chance bekommen können.

Kein einziger Sachverständiger hat erklärt, dass das ohne eine Änderung der Verfassung erreicht werden könnte. Alle – ich betone: alle – Sachverständigen, die anwesend waren und sich geäußert haben, haben unsere Auffassung bestätigt, dass nämlich vor allem das in der Verfassung verankerte Quorum von 20 % der Stimmberechtigten, die ein Volksbegehren unterstützen müssen, eine unüberwindliche Hürde darstellt. Alle Sachverständigen haben unmissverständlich klargemacht, dass ohne eine Änderung der Verfassung keine wirkliche Erleichterung der Volksbegehren erreicht werden kann.

Die Regelung in Hessen sei anachronistisch, sagte ein Sachverständiger. Lediglich eine Veränderung des Gesetzes über Volksbegehren und Volksentscheid vorzunehmen, wie es die CDU und die FDP vorhaben, sei Augenwischerei, sagte eine andere Sachverständige.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Alle anderen haben mit der gebotenen Höflichkeit, aber ebenso bestimmt, eine Änderung der Verfassung als längst überfällig und dringend eingefordert. Dennoch wollen CDU und FDP weiterhin unseren Gesetzentwurf ablehnen. Ich finde, das ist völlig unverständlich.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Nancy Faeser (SPD) und Willi van Ooyen (DIE LINKE))

Demokratie bedeutet Herrschaft des Volkes. In der Hessischen Verfassung heißt es:

Die Staatsgewalt liegt unveräußerlich beim Volke.

Alle Staatsgewalt ist im Rechtsstaat nicht durch einen einzelnen Herrscher, eine Kaste, wie z. B. den Adel, oder gar durch einen Gott wie im Gottesstaat legitimiert. Vielmehr ist sie nur durch das Volks als Gesamtheit der volljährigen Staatsbürger legitimiert.

Dem liegt das freiheitliche Staatsverständnis der Aufklärung zugrunde. Alle Bürgerinnen und Bürger sind frei und gleich geboren, müssen aber im staatlichen Zusammenleben natürlich Einschränkungen der Freiheit und begründete Ungleichheiten hinnehmen. Das ist aber nur auf der Grundlage von Gesetzen legitimiert, die zustande kommen und Gehorsam fordern. Das können sie, weil sie sich auf die dem Gesetz Unterworfenen als gemeinsame Urheber dieser Regeln zurückführen lassen.

Natürlich findet das in der repräsentativen Demokratie in der Regel durch das Parlament statt. Wir sind die Vertreter des gesamten Volkes.

Aber es gibt fast keine entwickelte Demokratie in der Welt, die die Mitwirkung des Volkes auf eine Beteiligung an einer Wahl alle fünf Jahre reduziert und sie ansonsten außen vorlässt. Fast alle Demokratien bieten die Möglichkeit, dass sich die Bürgerinnen und Bürger auch zwischendurch einmal zu Sachfragen zu Wort melden können. Das können sie durch Volksinitiativen, Volksbefragungen, Volksbegehren und Volksentscheid. Zum Teil gibt es das in unterschiedlichen Kombinationen. Das hat auch unterschiedliche Bindungswirkung für die staatlichen Organe. Das gibt es aber.

Eine Volksabstimmung führt zu der höchst möglichen Legitimität, die eine Demokratie überhaupt zu bieten hat. Soviel steht jedenfalls fest. Wenn der Souverän selbst, das Volk, gesprochen hat, ist eine Streitfrage endgültig entschieden. Die Minderheit wird sich diesem Votum beugen, weil das authentisch die Mehrheit des gesamten Volkes widerspiegelt. Das ist bei parlamentarischen Entscheidungen unter Umständen anders.

Ich kann den Widerwillen bei der CDU und der FDP gegen direkte demokratische Elemente deshalb nicht verstehen. Die direkte Demokratie kann natürlich die repräsentative Demokratie nicht ersetzen. Selbstverständlich soll sie es auch gar nicht. Aber sie ist eine sinnvolle Ergänzung zur parlamentarischen Willensbildung.

Der Zustand dauerhafter Entmündigung der Bürgerinnen und Bürger in Hessen ist schlicht unerträglich. Er sollte beseitigt werden,

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)

denn inzwischen ist durch die Untätigkeit des Verfassungsgebers und des Gesetzgebers Hessen zum Schlusslicht bei den Möglichkeiten direkter Demokratie in Deutschland geworden. Nur noch das Saarland, ein einzig verbliebenes weiteres Bundesland, hat ein ebenso hohes Quorum wie wir in Hessen. Das soll allerdings nach dem Willen der dortigen Koalition von CDU und GRÜNEN in naher Zukunft deutlich abgesenkt werden.

Übrigens sind alle anderen Bundesländer diesen Weg schon gegangen. Am niedrigsten liegt das Quorum in Brandenburg mit 80.000 Unterstützerinnen und Unterstützern. Dort sind derzeit rund 3,8 Millionen der Stimmberechtigten. Es wird nicht mehr lange dauern, und Hessen liegt auf dem letzten Platz aller Bundesländer, wenn die Änderung im Saarland vollzogen ist, weil die Mehrheit in diesem Haus unfähig ist, sich in diesem Punkt zu bewegen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN))

Mit unserem heute zur Abstimmung stehenden Vorschlag, das Quorum auf 10 % abzusenken, wären wir ziemlich genau im Durchschnitt der Bundesländer. Wir wären noch nicht einmal weiter vorn. Es gibt vier Bundesländer, die ein Quorum unter 10 % haben. Vier andere haben ein solches über 10 %. Sieben Bundesländer liegen genau bei 10 %, die wir auch für Hessen vorschlagen.

Vor diesem Hintergrund kann ich es nur begrüßen, dass die Sozialdemokraten inzwischen angekündigt haben, unserem Gesetzentwurf anders als noch im Hauptausschuss zuzustimmen. Frau Faeser hatte noch in der ersten Lesung darauf verwiesen, dass sie befürworten würde, dass die Regelung ähnlich wie in Bayern sein würde. Das hat auch eine gewisse Logik, weil Bayern zu den Bundesländern gehört, die die entwickeltste Kultur in Sachen Volksbegehren hat. Seit 1967 hat es dort 18 Volksbegehren gegeben, von denen ungefähr die Hälfte das Quorum von 10 % auch überspringen konnten, zuletzt bekanntermaßen die Nichtraucherinitiative.

Auch in Bayern – nach Art. 74 der dortigen Verfassung – gilt, ein Volksentscheid ist herbeizuführen, wenn ein Zehntel der stimmberechtigten Staatsbürger das Begehren nach Schaffung eines Gesetzes stellen. Genau dieses Quorum von 10 % schlagen wir für Hessen vor. Wir erfüllen also die Bitte von Frau Faeser und freuen uns deswegen auch, dass die Sozialdemokraten zustimmen.

Natürlich könnten wir uns ein noch niedrigeres Quorum vorstellen. Das haben viele Sachverständige in der Anhörung auch vorgeschlagen. Deswegen sind wir dem Änderungsantrag der SPD gefolgt. Sie hatte vorgeschlagen, ein Quorum von 5 %, verbunden mit einem Abstimmungsquorum, einzuführen.

Nun bin ich nicht überzeugt, dass das Abstimmungsquorum der Weisheit letzter Schluss ist. Einige Sachverständige hatten daher auch Bedenken geäußert. Aber im Gesamtkontext hätten wir dies mitmachen können, weil das ein Weg gewesen wäre, um die grundsätzlich plebiszitfeindliche Haltung der Mehrheit in diesem Haus aufzubrechen. Darauf kommt es uns hauptsächlich an.

Deswegen ein Wort an die Kolleginnen und Kollegen von der LINKEN. Wenn Sie, anders als die Sozialdemokraten, bei Ihrem Votum aus dem Hauptausschuss bleiben und unseren Vorschlag ablehnen, dann bedeutet das nur, dass die einen dagegen sind, weil es ihnen zu weit geht, die anderen dagegen sind, weil es ihnen nicht weit genug geht. In der Summe bleibt es aber dabei, wie es bisher gewesen ist, dass Volksbegehren in Hessen keine Chance haben. Sie sollten sich überlegen, ob Ihnen irgendwelche Wunschvorstellungen wichtiger sind, als reale Politik zu machen, die umsetzbar ist. Darum geht es uns.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf des Abg. Hermann Schaus (DIE LINKE))

Ich würde Ihnen übrigens vorschlagen, dass Sie Ihren Entschließungsantrag zur Diskussion an den Innenausschuss im Kontext der Änderung überweisen, die zum Gesetzentwurf dort noch beraten werden muss. Die meisten der von Ihnen erwähnten Punkte betreffen diesen und gar nicht die Verfassungsänderung.

Meine Damen und Herren, die Volksabstimmung zur Schuldenbremse wird am Tag der Kommunalwahl stattfinden. Das wäre aus unserer Sicht eine sehr gute Gelegenheit gewesen, auch das Quorum für ein Volksbegehren in der Hessischen Verfassung realitätstauglich abzusenken. Wir müssen wohl zur Kenntnis nehmen, dass die Mehrheit das anders sieht. Meine Damen und Herren von der CDU und der FDP, damit vertun Sie eine Chance, Hessen ein bisschen demokratischer zu gestalten. Sie verhindern den Fortschritt zu mehr Demokratie. Das bedauern wir ausdrücklich.

Persönlich kann ich verstehen, was in unserer Anhörung ein Sachverständiger geäußert hat, der sagte, er sei verzweifelt und resigniert über die fehlende Mehrheit für mehr Demokratie in Hessen. Dem kann ich mich nur anschließen. – Danke schön.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der Abg. Nancy Faeser (SPD))

Vizepräsidentin Sarah Sorge:

Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Jürgens.