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06.10.2011

Andreas Jürgens: Reformgesetz der Eingliederungshilfe

Herr Präsident, Kolleginnen und Kollegen! Die Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen ist nach wie vor von außerordentlich großer Bedeutung für die Behindertenhilfe in Deutschland und in Hessen, obwohl sie Bestandteil der Sozialhilfe und damit eines nachrangigen sozialen Sicherungssystems ist. Die Eingliederungshilfe ist für Menschen, die mit einer Behinderung geboren wurden oder durch Unfall oder Krankheit in frühen Jahren eine solche erworben haben, nach wie vor unverzichtbar. Die Eingliederungshilfe wirkt präventiv, rehabilitativ und inklusiv, wenn sie richtig umgesetzt wird. Es ist ihre Aufgabe, eine drohende Behinderung zu verhüten bzw. eine Behinderung oder deren Folgen zu beseitigen oder zu mildern und Menschen mit Behinderungen in die Gesellschaft einzugliedern. So lautet der allgemeine Auftrag. Deswegen ist sie von außerordentlich großer Bedeutung.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

Seit Langem ist eigentlich völlig unumstritten, dass die Eingliederungshilfe reformiert werden muss. Von den Betroffenen und ihren Angehörigen wird schon seit langem die Forderung erhoben, dass sie aus der einkommens- und vermögensabhängigen Sozialhilfe herausgelöst und durch ein Leistungsgesetz für Menschen mit Behinderungen ersetzt werden soll. Das Forum behinderter Juristinnen und Juristen, dem anzugehören ich die Ehre habe, hat kürzlich einen viel beachteten Entwurf für ein Teilhabeleistungsgesetz der Öffentlichkeit vorgestellt in dem die Eingliederungshilfe – nach den Vorstellungen des Forums – aufgehen soll. Jetzt hat die Landesregierung in ihrer Antwort auf die Große Anfrage der LINKEN einem solchen Vorhaben bedauerlicherweise ein weiteres Mal eine Absage erteilt – aus meiner Sicht völlig unverständlich, denn nur ein solches Teilhabeleistungsgesetz wäre aus meiner Sicht geeignet, die Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention tatsächlich umzusetzen, und ist deshalb dringend erforderlich.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)

Nun teilt uns die Landesregierung auf die Fragen der LINKEN mit, dass die Aufwendungen für die Eingliederungshilfe in Hessen von 2000 bis 2007 um etwa 25 Prozent gestiegen seien. Das ist natürlich eine Zahl, die so, allein in den Raum gestellt, wenig aussagekräftig ist, wenn nicht zugleich mitgeteilt wird, wie viele Menschen mit Behinderungen jeweils Leistungen bezogen haben. Die jährliche Steigerung der Ausgaben für die Eingliederungshilfe hängt nämlich ganz entscheidend von der gestiegenen Anzahl der betroffenen Menschen zusammen. Ich habe mir einmal die Zahlen des Landeswohlfahrtsverbands herausgesucht. Danach bezogen im Jahr 2005  43.470 behinderte Menschen Leistungen der Eingliederungshilfe – soweit der Landeswohlfahrtsverband zuständig ist –, im Jahr 2011 sind es bereits 51.700 Menschen, und im Jahr 2012 rechnet man mit 53.100 Menschen. Das ist eine Steigerung um 22 Prozent innerhalb von sechs Jahren. Seit 1981 haben sich bei allen überörtlichen Sozialhilfeträgern die Fallzahlen verdoppelt.

Auch Menschen mit Behinderung werden natürlich inzwischen älter. In Hessen sind zwei Drittel der Menschen mit Behinderung, die vom Landeswohlfahrtsverband Leistungen bekommen, älter als 40 Jahre. 41 Prozent sind zwischen 51 und 65 Jahre alt. Die höchste Steigerungsrate in den letzten Jahren – und wahrscheinlich auch in den Folgejahren – gibt es übrigens bei Menschen mit seelischen Behinderungen. Psychische Beeinträchtigungen nehmen in dieser Gesellschaft dramatisch zu, und immer mehr betroffene Menschen sind für lange Zeit oder gar auf Dauer auf eine Unterstützung im Rahmen der Eingliederungshilfe angewiesen.

In Hessen gibt es übrigens im Vergleich zu anderen Bundesländern eine gewisse Spezialität. In Hessen beteiligt sich das Land nämlich fast überhaupt nicht an den Aufwendungen der Eingliederungshilfe für Behinderte, sondern überlässt diese insgesamt den Kommunen. Diese sind entweder als örtliche Träger der Sozialhilfe zuständig – dann müssen sie sowieso zahlen –, oder sie bezahlen über die Verbandsumlage zum Landeswohlfahrtsverband die Aufwendungen, die dieser in der Eingliederungshilfe hat. Das, was das Land über den Kommunalen Finanzausgleich zum Haushalt des Landeswohlfahrtsverbands beisteuert, ist nicht einmal ausreichend, um das Landesblindengeld zu tragen. Für die Eingliederungshilfe bleibt da überhaupt nichts mehr übrig. Das heißt, die Eingliederungshilfe wird in Hessen komplett von den Kommunen bezahlt, auch wenn sie vom Landeswohlfahrtsverband ausgegeben wird.

(Zuruf der Abg. Mürvet Öztürk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Übrigens: Es ist dem Landeswohlfahrtsverband gelungen, durch konsequentes Umsteuern den Anteil der Menschen, die ambulante Hilfen bekommen, gegenüber dem Anteil der Menschen mit stationärer Versorgung deutlich zu steigern. Das finde ich ein ganz wichtiges Qualitätsmerkmal: von 36 Prozent im Jahr 2005 auf immerhin 46 Prozent im Jahr 2010.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die ambulante Hilfe ist in der Regel menschenwürdiger, weil sie inklusiver ist, und sie ist eben oft auch die preiswertere Hilfe. Das ist der Grund, weshalb beim Landeswohlfahrtsverband die durchschnittlichen Ausgaben pro Fall in den letzten Jahren sogar gesunken sind und der Ausgabenanstieg dadurch geringer ausfiel, als in den anderen Bundesländern. Mehr Geld bedeutet nicht immer bessere Hilfe, und passgenaue Unterstützung kann kostengünstiger sein. Übrigens: Den Menschen in den Mittelpunkt zu stellen und die Hilfe genau danach auszurichten, was der Mensch braucht, nicht danach, ob die Institution richtig finanziert ist, ist kein Sparkonzept, sondern ein menschenwürdiges Konzept, das den Menschen und nicht die Institution in den Mittelpunkt stellt. Frau Schott, das als „Sparkonzept“ zu diskreditieren, finde ich in höchstem Maße fragwürdig.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU, der SPD und der FDP)

Ein Leben in Stolz und Würde, selbstbestimmt und gleichberechtigt, ist nämlich im wahrsten Sinne des Worts unbezahlbar und kann nicht in Euro und Cent bemessen werden.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Als die Arbeits- und Sozialministerkonferenz – Frau Schott hat es erwähnt – erstmals ihre Vorstellungen für eine Neuordnung der Eingliederungshilfe vorstellte, waren die Behindertenorganisationen eigentlich positiv überrascht. Alle Vorschläge davor – es gab ja immer wieder Vorstöße der BAG, der Vereinigung der Sozialhilfeempfänger auf überörtlicher Ebene – waren in der Tat nur durch Einsparziele motiviert. Die ASMK griff dagegen langjährige Forderungen der Menschen mit Behinderung und ihrer Organisationen auf, tatsächlich den Menschen in den Mittelpunkt zu stellen, nicht mehr die Institution. Dieser personenzentrierte Ansatz ist vergleichsweise einfach zu formulieren, aber schwer, schwer umzusetzen. Wir stehen aber dazu und halten ihn für richtig. Passgenaue Hilfen können nur erbracht werden, wenn der einzelne Mensch mit seinen individuellen Bedürfnissen im Vordergrund steht – statt der Träger von Angeboten, die ihre Leistungen verkaufen wollen, so gut oder so schlecht diese auch sein mögen.

Die LINKE diskreditiert – ich habe es so verstanden – in ihrer Großen Anfrage diesen Ansatz als Leistungsabbau und als Sparmaßnahme. Sie sind offenbar weiterhin der paternalistischen Vorstellung verhaftet, wenn es der Institution gut geht, dann geht es auch den behinderten Menschen gut. Diese Auffassung teilt meine Fraktion ausdrücklich nicht.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der CDU)

Sie tun ja so, als wären die Werkstätten für Menschen mit Behinderung die höchstmögliche Form der Eingliederung in die Gesellschaft.

Auch das finden wir nicht. Die Integration behinderter Menschen wird nicht durch die Integration der Werkstatt in das örtliche Gewerbegebiet vollendet. Für uns sind die Werkstätten nach wie vor notwendige Übel – wobei ich beide Wörter betone. Sie sind notwendig; völlig richtig. Frau Schott hat auf die Zahlen hingewiesen und darauf, dass nicht alle sofort ins Arbeitsleben eingegliedert werden. Es fehlen vielfach Alternativen. Menschen mit Behinderung wollen schließlich auch eine sinnvolle Beschäftigung geboten bekommen.

Aber ein Übel sind die Werkstätten auch, weil sie ein Sondersystem darstellen und damit die Ausgrenzung behinderter Menschen symbolisieren. Das ist nun einmal so; darüber kann man nicht hinwegsehen. Dass die ASMK ausdrücklich Alternativen zu den Werkstätten entwickeln will, ist aus unserer Sicht gut.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Kritik an der ASMK macht sich auch weniger an den Grundsätzen und Zielen fest, sondern eher an deren zögerlicher Umsetzung: viele schöne Worte, aber wenige Taten. Die Lippen werden gespitzt, aber es wird nicht gepfiffen. Immerhin sind seit der ersten Beschlussfassung im November 2007 fast vier Jahre vergangen, ohne dass es zu sichtbaren Veränderungen gekommen wäre.

Ein Beispiel hierfür ist: Alle Ministerinnen und Minister waren sich einig, dass jungen Menschen mit Behinderung beim Übergang von der Schule in den Beruf früher als bisher Hilfestellungen gegeben werden sollen, um einen automatischen Übergang von der Schule in die Werkstatt zu verhindern und Alternativen dafür zu finden. Doch erst in diesem Schuljahr – 2011/2012 – soll an einem Modellstandort in Hessen eine Initiative zur Inklusion starten. Das Vorschlagspapier dazu datiert schon aus dem Jahr 2008. Wir hätten uns eine schnellere Umsetzung gewünscht.

Präsident Norbert Kartmann:

Herr Kollege, Ihre Redezeit ist zu Ende.

Dr. Andreas Jürgens (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Herr Präsident, ich komme zum Schluss. – Wir warten jetzt auf die Vorlage des Aktionsplans zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention. Ich bin gespannt auf das, was dort drinsteht. Ich sehe diesem Aktionsplan mit großem Interesse entgegen, habe aber auf der Grundlage der bisherigen Erfahrungen mit dieser Landesregierung die größten Befürchtungen, dass er uns nicht zufriedenstellen wird und dass wir uns in diesem Landtag nicht nur über das Thema Eingliederungshilfe, sondern auch über das Thema „Situation der behinderten Menschen in unserer Gesellschaft insgesamt und die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention“ bald wieder werden unterhalten müssen. – Danke schön.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)