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02.02.2012

Andreas Jürgens: Neuregelung des Wohnens mit Pflege und Betreuung in Hessen

Herr Präsident, Kolleginnen und Kollegen! Der Gesetzentwurf von CDU und FDP, über den wir heute in zweiter Lesung verhandeln, ist auch nach der zweiten umfangreichen Nachbesserung, die Sie vorgenommen haben, unvollständig, unsystematisch und unübersichtlich.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Murks bleibt eben Murks, auch wenn mehrfach daran herumgemurkst wird.

Ich habe in der ersten Lesung auf erhebliche Mängel des Gesetzentwurfs hingewiesen. Sie haben bereits – das war ungewöhnlich genug – vor der Anhörung einen umfangreichen Änderungskatalog vorgelegt,

(Zuruf des Abg. Dr. Thomas Spies (SPD))

dabei ein paar besonders krasse Fehler beseitigt, aber auch neue hineingeschrieben. Wir haben dann die Anhörung gehabt, wo Ihr Gesetzentwurf in der Luft zerrissen wurde. Danach brauchten Sie fünf weitere Monate, um ihn ein erneutes Mal zu verschlimmbessern. Es gilt, was ich auch in der ersten Lesung gesagt habe: Sie brauchen am meisten Zeit und legen uns den größten Mist vor. Das ist das Ergebnis.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der LINKEN)

Es gab von Anfang an einen Streitpunkt, das war die Einbeziehung von ambulanten Diensten in den Geltungsbereich des Gesetzes. Ich hatte auf Einladung des Bundesverbandes privater Anbieter sozialer Dienste im Sommer letzten Jahres ein Gespräch bei einer Pflegestation in Pfungstadt. Anwesend waren auch Herr Dr. Bartelt für die CDU- und Herr Mick für die FDP-Fraktion. Es ging natürlich um den Gesetzentwurf, und es ging vor allem auch um den Änderungsantrag, der damals schon eingebracht war, wie gesagt, vor der Anhörung.

Auf Nachfragen erklärte der eine von beiden, nunmehr sei klargestellt, dass ambulante Dienste keinesfalls geprüft würden. Der andere sagte, es sei klargestellt, dass ambulante Dienste geprüft werden könnten. Ich weiß nicht mehr, wer welche Position vertreten hat. Wahrscheinlich wissen sie es selbst nicht mehr. Das Problem war: Sie wussten selbst nicht, was im eigenen Gesetzentwurf steht. Dieser Eindruck hat sich bis heute fortgesetzt. Sie wissen selbst nicht, um was es eigentlich geht.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der LINKEN)

Das zeigt sich an der denkwürdigen Diskussion, die wir in der letzten Ausschusssitzung hatten. Wir haben verschiedene Fragen zu dem erneuten Änderungsantrag gestellt, was denn mit einzelnen Änderungen gemeint sei, was nunmehr gelten solle. Das Erschreckende war, dass kein einziger der anwesenden Abgeordneten der Koalition eine dieser Fragen beantworten konnte – weder falsch noch richtig, sondern überhaupt nicht beantworten konnte.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich nehme einmal einen Satz. In § 16 Abs. 1 soll es nach Ihrer erneuten Änderung heißen:

Einrichtungen nach § 2 Abs. 1 Nr. 1

– das sind stationäre Einrichtungen –

sind in regelmäßigen Abständen durch die Behörde zu prüfen;

– so gut, so klar, so richtig; aber dann kommt ein Halbsatz –

anlassbezogene Prüfungen bleiben unberührt.

Auf die schlichte Frage, ob damit anlassbezogene Prüfungen nicht nur bei den stationären Einrichtungen in Halbsatz 1, sondern auch bei den ambulanten Diensten möglich sein sollten, die ja Bestandteil des Gesetzentwurfs sind, wusste niemand aus der Koalition eine Antwort.

(Zuruf des Ministers Stefan Grüttner)

– Doch. – Auf die Frage, wo denn die anlassbezogenen Prüfungen, die nach Ihrer Vorschrift unberührt bleiben sollen, ihrerseits geregelt sind – sonst könnten sie nicht unberührt bleiben –, gab es wiederum keine Antwort. Es gibt auch keine Regelung im gesamten Landesrecht und schon gar nicht in Ihrem Gesetzentwurf.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dann macht der Minister noch den allerdings untauglichen Versuch, zu begründen, in § 4 stehe dies. Wenn man sich § 4 anschaut, sieht man Regelungen zu Anregungen, Hinweisen und Beschwerden über Einrichtungen und die allgemeine Regelung, dass die Behörde verpflichtet sei, den Beschwerden unverzüglich nachzugehen. Da steht nichts von Prüfungen und gar keine Ermächtigung, einzelne Einrichtungen oder Büroräume von Diensten oder sonst irgendetwas zu betreten. Im Ergebnis ist nach Ihrem Gesetzentwurf vollkommen offen, ob, unter welchen Voraussetzungen und mit welchen Befugnissen anlassbezogene Prüfungen von wem, wo und wie überhaupt wahrgenommen werden können. Das ist völlig unklar.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Marjana Schott (DIE LINKE))

Diese grenzenlose Ahnungslosigkeit der Mehrheitsfraktionen, die in dieser Ausschusssitzung offenbar geworden ist, lässt sich an verschiedenen Beispielen weiter fortsetzen. Sie wollen z. B. hineinschreiben, dass gerichtlich genehmigte freiheitsentziehende Maßnahmen „auf das notwendige Maß“ beschränkt werden sollen. In der Anhörung ist Ihnen gesagt worden, die Einrichtungen haben gar keinen Gestaltungsspielraum, weil die unterbringenden Gerichte oder die Betreuer das Maß der freiheitsentziehenden Maßnahmen bestimmen. Da gibt es gar keinen Gestaltungsspielraum. Gleichwohl schreiben Sie das hinein.

An zwei Stellen erwähnen Sie in Ihrem Gesetzentwurf einen Einrichtungsfürsprecher. Den gibt es nach Ihrem eigenen Gesetzentwurf aber gar nicht.

Sie verwenden den Begriff des Betreibers. Aber wer ist eigentlich Betreiber? Das ist in vielen Fällen zweifelhaft. Wenn in einer Einrichtung der Vermieter von Wohnraum und der Erbringer von Pflegeleistungen nicht personenidentisch ist, wer ist Betreiber? – Schweigen in Ihrem Gesetz.

Wen treffen beim Einsatz von vermittelten Pflegekräften die Betreiberpflichten, den Vermittler oder die Pflegeperson? – Schweigen im Gesetz.

Wer ist Betreiber einer ambulant betreuten Wohngemeinschaft? Sie schreiben ausdrücklich hinein: Eine ambulant betreute Wohngemeinschaft fällt in den Geltungsbereich des Gesetzes. – Sie definieren dann: Eine ambulant betreute Wohngemeinschaft liegt vor,

wenn die Bewohnerinnen und Bewohner in der Lage sind, ihre Lebens- und Haushaltsführung weitgehend selbstbestimmt zu gestalten, und die erbrachten Betreuungsleistungen nicht auf die ständige Anwesenheit des Betreuungspersonals ausgerichtet sind.

Wer ist denn dann Betreiber, der Vermieter oder die Dienste, die dort im Einsatz sind, oder vielleicht sogar die Betroffenen selbst, die die Dienste in Anspruch nehmen?

Überlegen Sie sich: Wenn Sie mit Ihrer Familie in einer Wohngemeinschaft leben und eine Haushaltshilfe in Anspruch nehmen, wen bezeichnen Sie dann als Betreiber? Das wäre eine vergleichbare Situation. Die gibt es nicht. Kurt Tucholsky hat einmal sinngemäß gesagt: Erst verstehen sie nicht, um was es geht, und dann drücken sie es auch noch schlecht aus. – Genau das ist bei Ihrem Gesetzentwurf der Fall.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Torsten Warnecke (SPD) und Marjana Schott (DIE LINKE))

Da stellen Sie z. B. in § 15 Qualitätsanforderungen für betreute Wohngruppen auf. In Abs. 3 heißt es dann, das Gesetz finde auf das Zusammenwohnen von Personen, die besondere persönliche Beziehungen zueinander haben, keine Anwendung. So weit, so gut.

Man stelle sich vor, eine Frau und ein Mann, jeweils mit Down-Syndrom, leben gemeinsam in einer Wohnung, beide arbeiten in einer Werkstatt für behinderte Menschen – ein Beispiel, das es häufig gibt. Wie wollen Sie dann untersuchen, ob zwischen ihnen besondere persönliche Beziehungen bestehen? Wollen Sie nachgucken, ob es zwei Butterdosen gibt oder nur eine? Wollen Sie dann, wenn die Betten in unterschiedlichen Zimmern stehen, sagen, es gibt keine persönliche Beziehung, da geht die Heimaufsicht hin, und, wenn sie in einem Zimmer stehen, bleibt sie weg? Das ist doch absurd. So etwas können Sie doch nicht ernst meinen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Torsten Warnecke (SPD) und Marjana Schott (DIE LINKE))

Das Grundproblem bei der Thematik ist: Sie haben den ganzen Themenkomplex gedanklich nicht mit der notwendigen Tiefe durchdrungen. Sie haben keinen Plan von dem, was Sie regeln wollen. Sie wissen in vielen Punkten nicht einmal selbst, was Sie geregelt haben, wie Sie es regeln wollen.

Sie haben schon einen Titel gewählt, der irreführend ist: Hessisches Gesetz über Betreuungs- und Pflegeleistungen soll es heißen, obwohl Sie gar keine Gesetzgebungskompetenz haben, Pflegeleistungen und Betreuungsleistungen zu regeln. Es geht um den institutionellen Rahmen, es geht um die Einrichtungen, innerhalb derer diese Dienste erbracht werden. Aber die Leistungen selbst sind entweder im BGB, im Pflege- und Betreuungsleistungsgesetz, im Sozialgesetzbuch oder wo auch immer geregelt, aber nicht in Ihrem Gesetz.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Torsten Warnecke (SPD) und Marjana Schott (DIE LINKE))

Wir können einem solchen Unsinn sicher nicht zu stimmen. Wir werden dem Gesetzentwurf der SPD zustimmen, nicht weil wir glauben, dass er zu 100 Prozent gelungen ist. Sie haben zwar nicht beim Bundesgesetz, aber ein bisschen von Rheinland-Pfalz abgeschrieben. Das ist durchaus legitim. Aber beim Abschreiben – das habe ich in der ersten Lesung schon gesagt – ist das eine oder andere nicht ganz richtig gelaufen.

Aber der Unterschied ist: Der Gesetzentwurf der Koalition muss von einer neuen Landesregierung komplett überarbeitet werden, es muss ein komplett neuer Gesetzentwurf gemacht werden. Der Gesetzentwurf der SPD wäre vielleicht in der einen oder anderen Richtung ein bisschen nachbesserungsbedürftig, insgesamt aber in sich logisch und schlüssig und deswegen eine gute Grundlage für die weitere Arbeit.

Was Sie den Betreibern und den Menschen, die pflegebedürftig und auf Hilfe angewiesen sind, mit diesem Gesetzentwurf zumuten – wenn Sie sich das in einer ruhigen Stunde vergegenwärtigten, dann könnten Sie das nicht verabschieden.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Torsten Warnecke, Regine Müller (Schwalmstadt) (SPD) und Marjana Schott (DIE LINKE))

Vizepräsident Lothar Quanz:

Danke sehr, Herr Dr. Jürgens.