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07.03.2012

Andreas Jürgens: Neuregelung des Wohnens mit Pflege und Betreuung in Hessen

Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe während der zweiten Lesung zum Gesetzentwurf der Koalition gesagt, er sei unvollständig, unsystematisch und unübersichtlich. Wir haben gerade in der Berichterstattung gehört, dass er in dritter Lesung auch nicht besser geworden ist. Deswegen könnte ich noch weitere Unwörter hinzufügen: Er ist auch undurchdacht, unüberlegt, uninspiriert, undurchführbar, unordentlich gemacht, untragbar – mit anderen Worten: unmöglich, ungenügend, unterirdisch.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Herr Minister Grüttner hat kürzlich zu einem Gesetzentwurf der SPD gesagt, es sei der schlechteste Gesetzentwurf gewesen, den er je gelesen habe. Das kann nur dann stimmen, wenn er den Gesetzentwurf, den wir jetzt behandeln, nicht gelesen und zur Kenntnis genommen hat;

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

denn der ist mit Sicherheit der mit Abstand schlechteste, den wir hier je vorliegen hatten.

Meine Damen und Herren von FDP und CDU, ich bleibe dabei: Sie wissen selbst nicht, was Sie eigentlich regeln wollen und was Sie tatsächlich geregelt haben. Sie haben keine Ahnung, was Sie mit diesem Machwerk eigentlich denjenigen zumuten, die das Gesetz ausführen sollen – den Behörden, den Einrichtungsträgern, den Kostenträgern und natürlich vor allem den betroffenen Menschen, die eigentlich einen Anspruch darauf hätten, dass ihr Lebensumfeld in vernünftiger Form geregelt wird. Dieses Flickwerk in Paragrafenform gehört eigentlich in die Mülltonne, und nicht ins Gesetz- und Verordnungsblatt, soviel steht fest.

Sie erweisen den vielen Menschen einen Bärendienst. Der heutige Tag ist deshalb ein schlechter Tag für pflegebedürftige Menschen und ihre Angehörigen. Es ist ein schlechter Tag für ältere und behinderte Menschen mit Hilfebedarf und denjenigen, die ihnen die notwendige Hilfe leisten wollen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich will die aus meiner Sicht wichtigsten Unsinnigkeiten kurz in Erinnerung rufen. Erstens. Der Anmeldungsbereich ist weiterhin unklar. Fallen Einrichtungen der Behindertenhilfe, Rehabilitationseinrichtungen oder Internate von Förderschulen unter das Gesetz oder nicht? Das ergibt sich weder aus dem Wortlaut noch aus der Begründung.

Zweitens. Wer Betreiber einer Einrichtung ist, ist ebenfalls vielfach unklar. Wenn in einer Einrichtung der Vermieter von Wohnraum und der Erbringer von Dienstleistungen nicht personenidentisch ist, wer ist dann Betreiber – Vermieter oder Anbieter? Beim Einsatz von vermittelten Pflegekräften: Wer ist Betreiber – der Vermittler oder die vermittelte Pflegekraft? Oder bei einer ambulant betreuten Wohngemeinschaft: Wer ist da eigentlich Betreiber – der Vermieter, die Dienste, die dort im Einsatz sind, oder gar die Betroffenen selbst, die ihren Alltag selbstbestimmt gestalten? Wen also treffen die Betreiberpflichten wie Anmeldung und sonstige Geschichten? – Das ist völlig offen, völlig ungeregelt.

Drittens. Es ist weiterhin offen, welche Kompetenzen die Heimaufsichtsbehörden eigentlich haben. Vor allem ob, unter welchen Voraussetzungen und mit welchen Befugnissen anlassbezogene Prüfungen eigentlich stattfinden dürfen, vor allem, ob diese nur bei stationären Einrichtungen oder auch bei ambulanten Diensten in Betracht kommen. Sie wissen ja nicht einmal, was Sie politisch wollen. Wir haben das in der zweiten Lesung ausführlich besprochen. Sie wissen deswegen auch nicht, warum es eigentlich so chaotisch in Ihren Entwurf gelangt ist.

Viertens. Gerichtlich genehmigte freiheitsentziehende Maßnahmen sollen – so steht es in Ihrem Entwurf – auf das notwendige Maß beschränkt werden. In der Anhörung haben wir aber gehört, dass die Einrichtungen überhaupt keinen Gestaltungsspielraum haben, weil die Gerichte oder notfalls die Betreuer festlegen, wie die Unterbringung durchzuführen ist.

Fünftens. In mindestens zwei Stellen Ihres Gesetzentwurfs taucht ein „Einrichtungsfürsprecher“ auf, der an verschiedenen Stellen beteiligt werden soll. Einen Einrichtungsfürsprecher gibt es in Ihrem Gesetzentwurf aber überhaupt nicht. Der ist dort gar nicht vorgesehen.

Sechstens. Mein letztes Beispiel. In § 15 stellen Sie Qualitätsanforderungen für betreute Wohngruppen auf. In Abs. 3 heißt es, das Gesetz finde auf das Zusammenwohnen von Personen, die besondere persönliche Beziehungen zueinander haben, keine Anwendung.

Nun stellen Sie sich einmal vor, ein Mann und eine Frau – jeweils mit Downsyndrom – arbeiten in einer Werkstatt für behinderte Menschen und wohnen gemeinsam in der gleichen Wohnung. Wollen Sie wirklich untersuchen, ob zwischen ihnen besondere persönliche Beziehungen bestehen? Wie wollen Sie das beurteilen? Ob beide die gleiche Butterdose benutzen oder zwei haben? Oder wie groß der Abstand zwischen den Betten ist? Wenn die Betten nebeneinander stehen, bleibt die Heimaufsicht weg, und wenn sie in unterschiedlichen Zimmern stehen, kommt sie angelaufen? Das kann doch wirklich nicht ihr Ernst sein.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Vizepräsidentin Sarah Sorge übernimmt den Vorsitz.)

In der Kürze der Zeit mein Fazit: Wir können natürlich einem solchen Unsinn in Paragrafenform nicht unsere Zustimmung geben. Wir werden ihn auch in dritter Lesung ablehnen.

Nun hat die SPD-Fraktion – das ist die einzige wirkliche Neuerung in der dritten Lesung – einen Änderungsantrag eingebracht, den wir allerdings aus unserer Sicht ebenfalls für untauglich halten und deswegen auch ablehnen werden. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die SPD-Fraktion bei Annahme ihres Änderungsantrages dem Gesetzentwurf von CDU und FDP ansonsten zustimmen würde.

Es ist eigentlich der Sinn von Änderungsanträgen, einen Gesetzentwurf, den man für unzureichend hält, so zu ändern, dass man ihn dann für zustimmungsfähig hält. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass die große Streichung des § 8, die Sie vorgeschlagen haben, ansonsten den Gesetzentwurf für Sie zustimmungsfähig machen würde.

In diesem § 8 werden übrigens die Betreiber der Einrichtungen und Dienste verpflichtet, auch gegenüber ihren Beschäftigten Maßnahmen zu treffen, um für eine gewaltfreie und menschenwürdige Pflege Sorge zu tragen. Ausgerechnet diese Vorschrift gehört aus unserer Sicht eher zu den wenigen, die wir für akzeptabel halten.

Den Vorwurf, der in der Anhörung verbreitet wurde, damit würden alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unter Generalverdacht gestellt, teilen wir nicht. Den Grundsatz einer gewaltfreien und menschenwürdigen Pflege zu betonen, ist aus unserer Sicht zu selbstverständlich, dass er auch an exponierter Stelle des Gesetzes stehen kann, ohne dass sich alle Pflegenden angegriffen fühlen sollten. Deswegen können wir den Änderungsantrag der SPD-Fraktion nicht mitmachen.

Allerdings werden wir ihrem eigenen Gesetzentwurf zustimmen, den wir aus unserer Sicht für wesentlich durchdachter, systematischer und vollständiger halten, als den der Regierungsfraktionen und deswegen als zustimmungsfähig ansehen. – Vielen Dank.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Sarah Sorge:

Vielen Dank, Herr Dr. Jürgens.