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24.08.2011

Andreas Jürgens: Gerichtsschließungen aussetzen und neu bewerten

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben seit der Regierungserklärung des Justizministers im letzten Jahr schon mehrfach über die Gerichtsschließungen diskutiert. Das gehört sich auch so, denn die Justiz als dritte Gewalt gewährleistet die Rechtsweggarantie der Verfassung, einen effektiven Rechtsschutz, und ist damit ein Grundpfeiler des Rechtsstaates. Wir haben also allen Anlass, uns darüber miteinander zu unterhalten.

Ich stelle auch fest, die Argumente, mit denen der Justizminister bisher die Gerichtsschließungen begründet hat, haben sich seit der vorletzten Woche fast alle in Luft aufgelöst. In der Anhörung des Rechts- und Integrationsausschusses zu Ihrem Gesetzentwurf wurde eigentlich alles widerlegt, was Sie bisher für Ihre Pläne ins Feld geführt haben. Hierzu nur ein paar Beispiele.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

Herr Minister, Sie haben bisher Ihre Argumentation nahezu allein auf Rechnungshofberichte gestützt. Der Rechnungshof hat gesagt: Mittelgroße Gerichte arbeiten am effektivsten und sind deswegen zu bevorzugen und kleine zu schließen. – Nun haben wir in der Anhörung erfahren, dass der Rechnungshof selbst eigentlich nicht mehr so genau weiß, wie er zu diesem Ergebnis gekommen ist,

(Zuruf von dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

dass mittelgroße Amtsgerichte am effektivsten sind. Sie selbst haben überhaupt keine Untersuchungen vorgenommen, welche Gerichtsgröße am effektivsten ist. Sie haben dazu also nichts vorzutragen. Weiter hat der Rechnungshof empfohlen, kleine Amtsgerichte mit nicht mehr als drei Richterstellen zu schließen – jetzt kommt es –, „wenn eine räumliche Nähe zu einem anderen Amtsgericht besteht, das die Aufgaben übernehmen kann.“ Diesen Halbsatz in der Stellungnahme des Rechnungshofes unterschlagen Sie in Ihren Begründungen immer.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

In der Anhörung hat es der Vertreter des Rechnungshofes ausdrücklich dahin gehend konkretisiert, dass Entfernungen von bis zu 20 km noch als räumliche Nähe angesehen wurden. Wenn man sich das einmal anschaut: Beim Amtsgericht Schlüchtern liegen die aufnehmenden Gerichte sogar 30 und 60 km entfernt, beim Amtsgericht Usingen das Amtsgericht Königstein ─ das soll ein Teil aufnehmen ─ 28 km. Damit ist Ihre gesamte Argumentationsgrundlage null und nichtig. Sie können sich gerade nicht auf den Rechnungshof stützen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Dr. Ulrich Wilken (DIE LINKE))

Herr Minister, Sie und Ihre Mitarbeiter behaupten immer, dass die kleinsten Gerichte am ineffektivsten wären. Wenn es denn so wäre. Aber wir erfahren in der Anhörung, dass in Ihrem eigenen Hause im Jahre 2008 eine Untersuchung stattgefunden hat und eine Feststellung getroffen wurde, dass gerade die Arbeitsgerichte in Wetzlar und Marburg, die Sie schließen wollen, am effektivsten und am schnellsten die meisten Verfahren erledigt haben. Einer der Anzuhörenden hat es Expertise genannt. Ich weiß nicht, was das für ein Schriftstück sein soll; wir haben in der Hoffnung auf ein bisschen Klarheit einen Dringlichen Berichtsantrag gestellt. Jedenfalls hat er daraus – aus Ihrem eigenen Hause – eine entscheidende Stelle zitiert, die ich wiedergeben darf:

Bei den Arbeitsgerichten Marburg und Wetzlar liegen nicht nur die Neuzugänge, sondern auch die Erledigungen pro Richter über dem Landesdurchschnitt. Bei den Arbeitsgerichten Bad Hersfeld und Fulda dauern die Verfahren durchschnittlich am kürzesten.

Bad Hersfeld soll geschlossen werden.

Es sind die einzigen Gerichte in Hessen, bei denen die Verfahrensdauer im Durchschnitt unter drei Monaten liegt. An den hervorragenden Zahlen zeigt sich, dass kleine Arbeitsgerichte eine arbeitseffiziente und schlagkräftige Organisationseinheit darstellen können.

Sie haben im Ergebnis überhaupt keinen Beleg mehr dafür, dass Ihre Pläne tatsächlich der Effizienz der Justiz dienen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der SPD und des Abg. Willi van Ooyen (DIE LINKE))

Auch Ihre Darstellungen im Bereich der Einsparung bei Sachaufwendungen sind nacheinander eigentlich alle wie ein Kartenhaus zusammengefallen. Wir hatten schon mehrfach darüber diskutiert, dass die Auswirkungen der Schließungen von Amtsgerichten in 2004 überhaupt nicht untersucht wurden. Ob weitere Wege z. B. tatsächlich zu mehr Kosten führen, wissen wir eigentlich gar nicht, weil es überhaupt nicht untersucht worden ist.

So kann man jedenfalls auch Ihren aktuellen Darstellungen über angebliche Einsparungen – ich sage es freundlich – einen gewissen Mangel an Plausibilität attestieren. Auch hier nenne ich Beispiele. Sie behaupten z. B., Kosten für IT- und Telefonanlagen könnten eingespart werden.

(Zuruf der Abg. Petra Fuhrmann (SPD))

Nun wissen wir durch den Controllingbericht 2010 Ihres eigenen Hauses, auf Grundlage der Zahlen von 2009, dass bei den Gerichten die IT-Kosten pro Kopf der Beschäftigten nur wenig schwanken, völlig unabhängig von der Größe des Gerichts. Kleinere Gerichte haben also teilweise höhere Kosten, aber auch geringere. Da aber mit den Gerichtsschließungen zunächst kaum Personal eingespart werden soll und alle ihre Anschlüsse brauchen: Wo bleibt die Einsparung? – Das ist nicht plausibel.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

Ich komme nun zu den Einzelheiten. Sie begründen z. B. die Schließung des Arbeitsgerichts Marburg in einer Pressemitteilung vom 15. Juni letzten Jahres – die man übrigens zu Recht auf Ihrer Homepage jetzt nicht mehr findet; die ist da gestrichen worden – damit, dass die Kosten der Instandsetzung des Parkplatzes von voraussichtlich 232.000 € erspart blieben. Ich weiß nicht, was das für ein Parkplatz ist, den man angeblich für 232.000 Euro sanieren muss. Aber jedenfalls hören wir dann in der Anhörung, dass der gleiche Parkplatz noch von anderen Behörden benutzt wird, unter anderem vom Sozialgericht. Für die muss er doch auch saniert werden, oder nicht? Also beträgt die Einsparung null, und nicht 232.000 Euro.

Zum Amtsgericht Bad Arolsen haben Sie z. B. erklärt, durch die Schließung wurden 119.000 Euro für notwendige Sanierungen gespart. Dann erfahren wir in der Anhörung: Beim Amtsgericht Korbach, das aufnehmen soll, entstehen Kosten von 240.000 Euro. Das ist keine Ersparnis, sondern es muss zunächst mehr ausgegeben werden.

Sie begründen alle Schließungen damit, dass Gebäudekosten in unterschiedlicher Höhe eingespart werden. Dann erfahren wir, dass in Gießen ein neues Gebäude zu einem Kostenaufwand instand gesetzt werden muss, den wir bisher noch nicht kennen. Die Einsparung beträgt möglicherweise null, gegebenenfalls entstehen sogar Mehrkosten.

Auch Ihre optimistischen Prognosen hinsichtlich eines Verkaufs der alten Gerichtsgebäude dürften frei erfunden sein. Wir haben das an den Beispielen der bisher geschlossenen Amtsgerichte erfahren. Das ehemalige Amtsgericht Butzbach sollte 578.000 Euro wert sein. Verkauft wurde es für 1 Euro. Das Amtsgerichtsgebäude in Wolfhagen kam für lediglich 123.500 Euro unter den Hammer, obwohl es angeblich 360.000 Euro wert sein sollte. Die Angaben der damaligen Landesregierung wurden erheblich nach unten korrigiert. Das könnte man mit Beispielen von verschiedenen anderen Gerichten fortsetzen. Sie haben ein Minimum von dem erzielt, was Sie erzielen wollten.

Schließlich sind auch Ihre Darstellungen zur Personalentwicklung aus meiner Sicht im Ergebnis nicht viel mehr als heiße Luft. Sie behaupten immer, durch den Wegfall von Verwaltungsanteilen der Gerichtsspitze, also der Direktoren und der Geschäftsleiter, könnten Personalkosten gespart werden.

In der Anhörung haben wir erfahren, dass sich der Verwaltungsanteil nach den entsprechenden Personalbedarfsberechnungssystemen nach der Kopfzahl der Bediensteten berechnet. Was Sie beim Verwaltungsaufwand vom abgebenden Amtsgericht A einsparen, das kommt an Verwaltungsaufwand beim Amtsgericht B an. Also wo ist die Einsparung? Wo ist der Gewinn?

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der Abg. Heike Hofmann (SPD))

Sie haben z. B. behauptet, das Arbeitsgericht Marburg sei mit zwei Richterstellen eines der kleinsten und deshalb ineffizient. Bei der Anhörung erfahren wir, dass dort zwar 2,5 Richterstellen eingesetzt sind, die aber von lediglich zwei Personen mit dem eben geschilderten Arbeitsanfall ausgefüllt werden, die also in Höhe einer halben Stelle überobligatorisch tätig sind. Mit einer Schließung dieses Gerichts würde diese Mehrarbeit natürlich wegfallen.

Meine Damen und Herren, der Justizminister hat in der ersten Lesung zu diesem Gesetzentwurf eine angeblich einfache Alternative, wie er es genannt hat, benannt – ich zitiere –: Entweder es gibt weniger Standorte und viele Richter und Folgepersonal, oder es gibt mehr Standorte und erheblich weniger Richter und Folgepersonal. Also Standorte oder Personal streichen, das war die Alternative, die Sie uns damals genannt haben. Inzwischen wissen wir: Ihre Alternative besteht so nicht mehr, sondern Sie wollen weniger Standorte und weniger Personal. Denn der Minister will im Justizbereich – die Nachricht hat mich diese Woche erreicht – in den nächsten Jahren über 18,2 Millionen Euro Personalkosten einsparen, davon allein 10,8 Millionen Euro in der ordentlichen Justiz.

Diese Zahlen werden im Augenblick den Personalvertretungen vorgeführt, und haben von daher auch mich als Information erreicht. Es gibt eine Berechnung, von einem Mitglied des Bezirksrichterrates angestellt, dass bei den ordentlichen Gerichten dann mehr als 45 Richterstellen und etwa 170 Stellen im mittleren und einfachen Dienst wegfallen würden, obwohl – das ist das Entscheidende – nach den PEBB§Y-Zahlen, also Ihren eigenen Zahlen für die Personalbedarfsberechnung, die reale Belastung schon jetzt bei mehr als 111 Prozent liegt, also eigentlich 11 Prozent mehr Richterstellen und Stellen für Nachfolgepersonal eingerichtet werden müssten. Diese neuen Pläne belegen deutlich: Diesem Minister kann man nichts glauben. Er will die Personaleinsparung nicht vermeiden. Er will sie durchführen. Er will sowohl Standorte als auch Personal reduzieren.

Meine Damen und Herren, wir GRÜNEN sind durchaus bereit, auch über die Änderung von Behördenstrukturen einschließlich von Gerichtsstandorten nachzudenken. Ich habe schon immer gesagt: Wenn ein Amtsgericht seit 200 Jahren – oder von mir aus auch seit 300 oder erst seit 100 Jahren – an einem Ort besteht, dann ist das aus unserer Sicht kein hinreichender Grund, dass es auch die nächsten 200 Jahre dort belassen wird. In dieser Beziehung sind wir nicht so strukturkonservativ wie viele Kollegen von der SPD und der LINKEN, für die jede Änderung tabu zu sein scheint.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir glauben im Übrigen auch nicht, dass Standortentscheidungen vor allem aus Sicht der Kommunen getroffen werden können. Denn das Land ist für eine effiziente, bürgernahe und moderne Justiz verantwortlich und muss danach seine Standortentscheidungen treffen.

Vizepräsident Lothar Quanz:

Herr Dr. Jürgens, kommen Sie bitte zum Schluss.

Dr. Andreas Jürgens:

Aber genau hier liegt der entscheidende Fehler des Justizministers. Er hat eben nur mit Zahlen argumentiert. Er hat überhaupt nicht plausibel machen können, dass das, was er vorhat, tatsächlich zu einer Effizienzsteigerung führt. Hätte er das getan, hätten die Menschen vielleicht noch verstehen können, dass sie für den Fall des Falles, dass sie ein Gericht brauchen, zwar längere Wege in Kauf nehmen müssen, sie dafür aber besser, effektiver und schneller behandelt werden. Das haben Sie nicht getan. Sie haben nur mit Zahlen argumentiert. Die Zahlen sind wie ein Kartenhaus in sich zusammengefallen. Sie stehen in der Argumentation bloß da. Wir meinen: Es muss mindestens der Bericht des Rechnungshofs und der Haushaltsstrukturkommission abgewartet werden. – Danke schön.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Lothar Quanz:

Vielen Dank, Herr Dr. Jürgens.