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18.11.2010

Andreas Jürgens: Castor-Transporte – Demokratie und Rechtsstaat achten

Herr Präsident, meine Damen und Herren!

Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung und Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln.

(Zurufe von der CDU: Friedlich!)

So heißt es in Art. 8 Abs. 1 unseres Grundgesetzes.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Willi van Ooyen (DIE LINKE))

Mit dieser Versammlungsfreiheit hat sich das Bundesverfassungsgericht mehrfach beschäftigt. Ich darf nur einmal aus einer Entscheidung vom 14. Mai 1985 zitieren. Darin erläutert das Gericht:

Die Versammlungsfreiheit gilt als unmittelbarster Ausdruck der menschlichen Persönlichkeit und als eines der vornehmsten Menschenrechte überhaupt, welches für eine freiheitliche demokratische Staatsordnung konstituierend ist; denn sie erst ermöglicht die ständige geistige Auseinandersetzung und den Kampf der Meinungen als Lebenselement dieser Staatsform.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das Gericht hat in der genannten Entscheidung übrigens weiter ausgeführt, die freiheitlich-demokratische Ordnung gehe davon aus, dass die bestehenden staatlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse verbesserungswürdig und -fähig seien und in einem nie endenden Prozess demokratischer Willensbildung Demonstrationen einen wichtigen Beitrag leisten können.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

Sie lägen daher, so das Gericht, letztlich auch im „wohlverstandenen Gemeinwohlinteresse“.

Ich kann feststellen: Im Sinne dieser Rechtsprechung gehören die Demonstrationen bei Gorleben, an der Castorstrecke und an vielen anderen Orten zum Lebenselement der Demokratie.

(Zuruf des Abg. Dr. Christean Wagner (Lahntal) (CDU))

Über 50.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer haben sich, von wenigen Ausnahmen abgesehen, um das Gemeinwohl verdient gemacht und der Demokratie einen guten Dienst erwiesen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der LINKEN)

In dieser Entscheidung des Gerichts geht es noch weiter. Dort wird zustimmend eine Literaturstelle zitiert, in der zu Demonstrationen erklärt wird: Sie enthalten ein Stück ursprünglich ungebändigter unmittelbarer Demokratie, das geeignet ist, den politischen Betrieb vor Erstarrung in geschäftiger Routine zu bewahren.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

Herr Bellino, das Demonstrationsrecht endet nicht dort, wo parlamentarische Entscheidungen getroffen worden sind – es beginnt dort erst.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der LINKEN – Zuruf des Abg. Dr. Christean Wagner (Lahntal) (CDU))

Das Gericht stellt dann fest:

Demonstrativer Protest kann insbesondere notwendig werden, wenn die Repräsentativorgane mögliche Missstände und Fehlentwicklungen nicht oder nicht rechtzeitig erkennen oder aus Rücksichtnahme auf andere Interessen hinnehmen.

(Zuruf des Abg. Dr. Christean Wagner (Lahntal) (CDU))

Diesen Ausführungen kann meine Fraktion uneingeschränkt und aus ganzem Herzen zustimmen: Demonstrationen sind ein Lebenselixier der Demokratie.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der LINKEN – Zuruf des Abg. Dr. Christean Wagner (Lahntal) (CDU))

Übrigens stammen diese Zitate aus einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 1985, ich habe es gesagt. Damals hob das Gericht ein Demonstrationsverbot gegen das in Bau befindliche Atomkraftwerk Brockdorf auf.

Das ist eine gewisse Parallelität: Die unverantwortliche Atompolitik – damals der Regierung Kohl, heute der Regierung Merkel – treibt die Menschen auf die Straße.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei Abgeordneten der SPD und der Abg. Janine Wissler (DIE LINKE))

Sie müssen sich doch überhaupt nicht wundern, dass Ihr Atomdeal mit den Kraftwerksbetreibern viele Menschen empört. Ihre Behauptung, wir brauchten die Atomkraft für bezahlbaren Strom, wird von den Menschen als reine Schutzbehauptung wahrgenommen. Sie verstehen, dass die angebliche „Brückentechnologie Atomkraft“ – wie Sie sie immer nennen – nur eine Brücke in den Abgrund ist. Ihnen sind mit Ihrer Entscheidung die wirtschaftlichen Interessen weniger Unternehmen wichtiger als die Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der LINKEN)

Wer gierig genug ist und skrupellos Eigeninteressen über das Allgemeinwohl stellt, der kann auf die Unterstützung von Schwarz-Gelb rechnen – das ist die Botschaft des bilateralen Vertragsbruchs in Sachen Atomausstieg.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Willi van Ooyen (DIE LINKE))

Ich darf das Zitat eben vom Bundesverfassungsgericht wiederholen: „wenn die Repräsentativorgane Missstände und Fehlentwicklungen nicht erkennen oder aus Rücksichtnahme auf andere Interessen hinnehmen.“ Man könnte meinen, die Verfassungsrichter hätten damals gewusst, wie CDU und FDP in dieser Regierung handeln.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Willi van Ooyen (DIE LINKE))

Sie verschließen die Augen vor dem Missstand Atomkraft aus Rücksichtnahme auf die Interessen einzelner Unternehmen. Im Sinne des Bundesverfassungsgerichts waren danach die Demonstrationen in Gorleben und anderswo absolut notwendig für die demokratische Kultur in diesem Land.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der LINKEN)

Meine Damen und Herren von der CDU, meine Herren von der FDP, Sie haben einen gesellschaftlichen Großkonflikt wiederbelebt. Da dürfen Sie sich über Massendemonstrationen doch nicht wundern.

(Zurufe von der CDU)

Solange Sie an diesem Irrweg festhalten, werden jeden Tag weitere Demonstrationen folgen, da können Sie sicher sein.

(Hugo Klein (Freigericht) (CDU): Aber ohne Gewalt! – Zuruf des Abg. Dr. Christean Wagner (Lahntal) (CDU))

Das ist auch kein Verstoß gegen parlamentarische Spielregeln, wie Sie uns suggerieren wollen, sondern notwendige Willensbekundung des Volkes, das sich von der Mehrheit seiner Repräsentanten in der Frage der Atomkraft nicht mehr vertreten sieht.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der LINKEN)

In Ihrem Antrag, den Sie vorgelegt haben, verlangen Sie, dass sich alle politischen Kräfte an die im Genehmigungsverfahren zustande gekommenen und durch parlamentarische Mehrheit legitimierten Entscheidungen halten und dass sozusagen – so muss man es ja wohl verstehen – das Demonstrationsrecht an dieser Stelle endet.

Nein, das ist ein ganz falsches Verständnis. Sie vergessen dabei, dass vor allem bei hoch komplexen Verfahren die Einhaltung der formalen Regeln eben nicht immer zu hinreichender Legitimation führt.

Wir sehen es doch gerade. In Stuttgart gehen jede Woche Tausende von Bürgern gegen Stuttgart 21 auf die Straße. Warum? Weil sie nicht mehr glauben, dass ihre Lebensqualität von der Gigantomanie unsinniger Vorhaben abhängig ist.

(Zuruf des Abg. Horst Klee (CDU))

Warum demonstrieren die Menschen gegen die Atompolitik der Bundesregierung? Weil sie wissen, dass mit den Konzepten von vorgestern die Probleme der Zukunft nicht bewältigt werden können.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, des Abg. Günter Rudolph (SPD) und des Abg. Willi van Ooyen (DIE LINKE))

Nun gibt es ja verschiedene Proteste und verschiedene Demonstrationen gegen verschiedene Vorhaben. Auch gegen die Castortransporte gab es immer Proteste und Demonstrationen. Warum aber haben sie sich gerade jetzt bei Stuttgart 21 und bei den Anti-AKW-Demonstrationen so massenhaft entwickelt? Warum sind da so viele Menschen auf die Straße gegangen? Manche haben zum ersten Mal demonstriert. Bis tief ins bürgerliche Lager hinein regt sich der Protest.

Deswegen, weil sich die Menschen in beiden Fällen betrogen fühlen: bei Stuttgart 21 durch manipulierte „Vorteile“ und explodierende Kosten, im Falle Ihres Atomdeals durch den Bruch des Atomkompromisses wegen einseitiger Profitinteressen. Sie sind dabei, Ihre Basis zu verlieren. Das sollte Ihnen zu denken geben.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Im Übrigen: Wie viel es Ihnen wert ist, die parlamentarischen Spielregeln tatsächlich einzuhalten, das haben Sie gerade der ganzen Welt vorgeführt. Die parlamentarischen Spielregeln im Bundestag waren Ihnen doch gerade einmal schnuppe, als es um die Laufzeitverlängerung ging. Der Präsident des Deutschen Bundestages, Norbert Lammert, immerhin Mitglied der CDU/CSU-Fraktion, hat ausdrücklich kritisiert, dass dieses Gesetz nicht sorgfältig beraten wurde. Es trage „den Verdacht mangelnder Sorgfalt in sich“, so wird er zitiert. Es sei auch politisch unklug, das Gesetz ohne Zustimmung des Bundesrats zu verabschieden.

(Zuruf der Abg. Sarah Sorge (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

In diesem Zusammenhang ist es ziemlich merkwürdig, wenn Sie in Ihrem Antrag darauf hinweisen, es solle alles parlamentarisch legitimiert sein. Wer im Schweinsgalopp Gesetze durch den Bundestag peitscht,

(Zurufe der Abg. Horst Klee und Hartmut Honka (CDU))

die Rechte der Opposition missachtet

(Zuruf des Abg. Holger Bellino (CDU))

und damit sogar den Widerspruch des eigenen Präsidenten provoziert, der delegitimiert das eigene Handeln.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der LINKEN – Zurufe der Abg. Hans-Jürgen Irmer und Holger Bellino (CDU))

Auch hiergegen ist der Protest nicht nur legitim, sondern geradezu „notwendig“ – um noch einmal die Formulierung des Bundesverfassungsgerichts zu gebrauchen.

Dann noch diese denkwürdige Debatte über End- und Zwischenlager für den Atommüll in der letzten Woche. Wir haben es erlebt. Nach dem Interview des niedersächsischen Umweltministers, die Castoren müssten nicht immer in Gorleben anlanden, sondern könnten auch im Süden der Republik geparkt werden, beeilte sich Frau Puttrich, dies umgehend zurückzuweisen; dagegen erklärte der Ministerpräsident, man könne darüber nachdenken.

„Ja, was denn nun?“ fragt sich das geneigte Publikum. Es mag ja sein, dass die eine das Endlager, der andere das Zwischenlager meinte, vielleicht aber auch umgekehrt.

Vielleicht haben das auch beide durcheinander gebracht. Es mag auch sein, dass der eine die Rechtslage im Blick hat, der andere die Weltlage, die politische Lage, die Ablage oder welche Lage auch immer.

(Beifall und Heiterkeit bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der SPD und bei Abgeordneten der LINKEN)

Aber eines ist völlig klar: Die Entsorgungslage haben Sie völlig aus dem Blick verloren. Sie haben keinen Plan, wohin mit dem Atommüll. Sie wissen es nicht. Natürlich weiß das niemand. Aber Sie beschließen schon einmal, dass Sie den Müllberg immer höher machen wollen. Da müssen Sie sich doch nicht wundern, dass die Menschen gegen diesen Irrsinn auf die Straße gehen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der LINKEN)

Das ist auch der wesentliche Unterschied zu Entscheidungen in rot-grünen Zeiten. Wir haben einen geordneten Ausstieg aus der Atomkraft beschlossen und mussten für einen überschaubaren Zeitraum noch den Zuwachs an Müll hinnehmen. Sie entscheiden bewusst und gewollt: Wir wollen den Müllberg immer höher machen, damit sich einige daran eine goldene Nase verdienen. Das ist ein großer Unterschied.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)

Vizepräsident Frank Lortz:

Herr Kollege Dr. Jürgens, Sie müssen zum Schluss kommen.

Dr. Andreas Jürgens:

Das politische Versagen der schwarz-gelben Bundesregierung wird auch einmal mehr auf dem Rücken der Polizeibeamten ausgetragen.

(Zuruf von der CDU)

Ich darf daran erinnern. Der Vorsitzende der Gewerkschaft der Polizei hat dies in deutlicher Weise kritisiert. Er sprach von einem Fanal fataler politischer Fehlentscheidungen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)

Meine Damen und Herren, wir sind uns einig darin, dass das Demonstrationsrecht kein Freibrief für Rechtsbruch sein kann. Gewaltakte und Eingriffe in den Schienenverkehr sind vom Grundrecht auf Versammlungsfreiheit nicht gedeckt. Wir GRÜNE haben uns immer – auch in diesem Falle – für Gewaltfreiheit eingesetzt und werden es auch weiterhin tun.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD – Zuruf des Abg. Dr. Christean Wagner (Lahntal) (CDU))

Vizepräsident Frank Lortz:

Herr Dr. Jürgens, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.

Dr. Andreas Jürgens:

Wir haben Ihnen einen Dringlichen Entschließungsantrag vorgelegt, der aus unserer Sicht die Situation zurechtrückt und bitten um Zustimmung dafür. – Herzlichen Dank.

(Anhaltender Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

Vizepräsident Frank Lortz:

Vielen Dank, Herr Dr. Jürgens.