Die Herausforderungen, vor denen Hessens Schulen stehen, sind groß: Trotz vielfältiger Anstrengungen der letzten Jahre ist der Lehrkräftearbeitsmarkt auch in Hessen weiterhin angespannt. So haben nach Auskunft des Kultusministeriums auf unsere Kleine Anfrage im letzten Schuljahr mindestens 830 Lehrkräfte an Hessens Schulen gefehlt. Dabei ist die Zahl von 830 unbesetzten Stellen noch die wohlwollende Interpretation der Ergebnisse – werden Stellenüberhänge, die es in manchen Schulamtsbezirken an manchen Schulformen gibt, nicht gegengerechnet, beläuft sich das Minus hessenweit sogar auf knapp 1.000 unbesetzte Stellen. In Wahrheit dürfte die Zahl sogar deutlich darüber liegen, da die Schulen für den Ganztag oftmals Mittel statt Stellen zugewiesen bekommen, mit denen sie Personal einstellen können. Wie viele dieser ‚kapitalisierten‘ Stellen – hiervon gab es im letzten Schuljahr 4.736 – unbesetzt sind, ist deswegen statistisch gar nicht erfasst.
Zudem haben viele Schüler*innen auch in Folge der Corona-Pandemie große Defizite in Deutsch und Mathematik und leiden unter zum Teil schwerwiegenden psychischen Problemen – Konzentrationsstörungen, psychische Erkrankungen und Schulabstinenz haben Expert*innen und Praktiker*innen zufolge massiv zugenommen. Die hessischen Abiturergebnisse sowie die Ergebnisse der Abschlussprüfungen an Haupt- und Realschulen zeigen zudem ein stetig wachsendes Leistungsgefälle innerhalb der hessischen Schülerschaft sowohl innerhalb des gymnasialen Bildungsgangs als auch vor allem zwischen gymnasialem und Haupt- und Realschulbildungsgang: Während sich die Durchschnittsnote beim Landesabitur in den letzten 10 Jahren kontinuierlich verbessert hat, sind die Ergebnisse der Abschlussprüfungen an Haupt- und Realschulen in den Fächern Mathematik und Deutsch im selben Zeitraum nämlich drastisch eingebrochen. So hat sich beispielsweise die Durchschnittsnote der Abschlussprüfungen an Realschulen im Fach Deutsch in den letzten 10 Jahren von 2,71 auf 3,06 und im Fach Mathematik von 3,20 auf 3,88 verschlechtert. Mit einem Medianwert von 4 erzielt mehr als die Hälfte der Haupt- und Realschüler*innen im Fach Mathematik inzwischen die Note 4 oder schlechter. Gleichzeitig hat sich trotz stetig besserer Durchschnittsnoten im Abitur auch hier der Anteil der nicht bestandenen Prüfungen vor allem seit Corona deutlich verschlechtert: von 3,6 Prozent im Jahr 2020 auf 5,5 Prozent in diesem Jahr. Das hat die Antwort des Kultusministers auf zwei Kleine Anfragen von uns ergeben.
Doch anstatt sich diesen Herausforderungen konsequent anzunehmen, hat sich der neue Kultusminister Armin Schwarz in seiner noch jungen, knapp 10-monatigen Amtszeit bisher vor allem mit Symbolthemen wie dem Gendern, der Cannabislegalisierung und der Frage, ob die Bundesjugendspiele in der 3. und 4. Klasse nun ein ‚Wettbewerb‘ oder ‚Wettkampf‘ sein sollen, beschäftigt. Mehr noch: Mit ihrem Nachtragshaushalt 2024 kürzt die neue schwarz-rote Landesregierung als eine ihrer ersten Amtshandlungen erstmals seit vielen Jahren an der Bildung, u.a. 3 Millionen Euro beim Ganztag und über 200 Lehrkräftestellen. Dabei ist auch unerheblich, ob diese Stellen zuletzt unbesetzt waren oder wofür sie mal eingeführt wurden. Diese Stellen hätten im Bildungsetat verbleiben und in anderer Verwendung mit Lehrkräften besetzt werden können. Auch CDU und SPD besetzen diese Stellen jetzt anderweitig – nur eben nicht mit Lehrkräften, sondern mit neuen Ministerialbeamten in den eigenen Ministerien. Das ist die völlig falsche Prioritätensetzung und sendet ein verheerendes Signal an Lehrkräfte, Schüler*innen und Eltern in ganz Hessen.
Auch das Corona-Aufholprogramm „Löwenstark“ stampft die Landesregierung nach eigenen Angaben größtenteils ein, mit der Begründung, dass der Aufholbedarf bei den hessischen Schüler*innen inzwischen deutlich gesunken sei. Das grenzt angesichts der jüngsten Ergebnisse zahlreicher Bildungsvergleichsstudien sowie der Ergebnisse der Abschlussprüfungen an Haupt- und Realschulen in Hessen (s.o.) an Realitätsverweigerung und ist unverantwortlich. Nicht zuletzt sendet es ein verheerendes Signal an alle Kinder und Jugendlichen, die während der Corona-Pandemie massiv zurückstecken mussten – mit erheblichen langfristigen Folgen, wie wir inzwischen wissen.
Und auch das Startchancenprogramm des Bundes, mit dem in den kommenden zehn Jahren Bund und Länder 4.000 Schulen in herausfordernden Lagen in ganz Deutschland gezielt unterstützen wollen – 320 davon in Hessen, will das Land allem Anschein nach nicht mit substanziellen Eigenmitteln unterstützen, sondern nur den minimal notwendigen Kofinanzierungsanteil leisten und alle Anrechnungsmöglichkeiten bestehender Landesprogramme ausschöpfen.
Schon nach wenigen Monaten zeigt sich, dass Investitionen in Bildung unter der neuen Landesregierung aus CDU und SPD massiv an Priorität verlieren. Wir finden: Wenn die Realisierung teurer und noch dazu wirkungsloser Wahlgeschenke wie dem Hessengeld Vorrang vor Investitionen in die Bildungschancen unserer Kinder und Jugendlichen hat, läuft etwas grundlegend falsch. Was es jetzt mehr denn je braucht, ist ein gezielter Ressourceneinsatz an den Schulen und für die Schüler*innen mit den größten Herausforderungen und Bedarfen. Wir fordern das Kultusministerium und die hessische Landesregierung deswegen auf, das Startchancenprogramm mit substanziellen Eigenmitteln zu unterstützen und Hessens Schulen weitere Ressourcen für Förderprogramme zum Aufholen nach Corona zur Verfügung zu stellen. Das sind wir unseren Kindern und Jugendlichen schuldig.
Nicht zuletzt fordern wir den Kultusminister auf, seine Politik der Ablenkungsmanöver nun endlich zu beenden und die großen Herausforderungen im Bildungsbereich nicht länger auszusitzen. Vielmehr braucht es einen neuen Aufbruch in der Bildungspolitik: zur Schließung der Betreuungslücken im Ganztag sowie mit Qualitätskriterien für den Rechtsanspruch an Grundschulen; für mehr multiprofessionelle Teams zur Entlastung von Lehrkräften; für eine flächendeckende digitale Ausstattung aller Schüler*innen ab Klasse 7 sowie einem Chancenbudget für alle Schulen für zusätzliche Förderangebote im Ganztag, um nur einige Beispiele zu nennen.