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03.03.2011

Tarek Al-Wazir: Hessen als Musterland der Integration – Äußerungen von Erdoğan kontraproduktiv

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Mick, ich kann alles unterschreiben, was Sie gesagt haben, wirklich alles.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei Abgeordneten der CDU und der FDP sowie des Abg. Willi van Ooyen (DIE LINKE))

Solche Reden, wie sie Herr Erdoğan gehalten hat, bringen die Integration in Deutschland keinen Millimeter voran.

(Zuruf des Abg. Dr. Christean Wagner (Lahntal) (CDU))

Dazu gehört allerdings auch: Weder diese Reden alle drei Jahre in Köln oder Düsseldorf bringt die Integration voran, noch bringt der „Wetzlar-Kurier“ jeden Monat die Integration voran.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN – Zuruf des Abg. Dr. Christean Wagner (Lahntal) (CDU))

Ich sage das sehr bewusst, denn warum diskutieren wir dieses Thema hier überhaupt?

(Zuruf des Abg. Holger Bellino (CDU))

Da gibt es einen rechtskonservativen türkischen Ministerpräsidenten, und im Juni sind Wahlen in der Türkei. Also macht er hier Wahlkampf. Denn ein Teil derer, die noch die türkische Staatsbürgerschaft haben, sind auch wahlberechtigt.

Natürlich gibt es dann eine Reaktion des rechtskonservativen Teils des Hessischen Landtags auf den rechtskonservativen türkischen Ministerpräsidenten – weil nämlich Ende März Landtagswahlen in drei Ländern und Kommunalwahlen in Hessen stattfinden.

Was haben die beiden gemeinsam?

(Zuruf der Abg. Janine Wissler (DIE LINKE))

Mehr, als sie voneinander denken. Beide haben gemeinsam, dass sie Wahlkampf machen wollen und dass solche Debatten die Integration nicht voranbringen. Denn am Ende gibt es keine konkreten Ergebnisse.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Damit es ganz klar ist: Die Kommunikationssprache in Deutschland ist Deutsch. Wer kein Deutsch kann und dauerhaft in diesem Land lebt, der bekommt Probleme in der Schule, am Arbeitsplatz – er bekommt Probleme in der Kommunikation, in der Gesellschaft, übrigens auch zwischen den unterschiedlichen Migrantengruppen. Es ist völlig klar: Ohne Deutsch geht es hier nicht.

Zweiter Punkt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Fremdsprachenkenntnisse sind für das Leben in der globalisierten Welt ebenfalls von Vorteil.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der Abg. Janine Wissler (DIE LINKE))

Auch darin müssen wir uns einig sein. Deswegen sage ich sehr deutlich: Wir müssen alles dafür tun, dass die Menschen in Deutschland Deutsch können. Aber wir sollten die Herkunftssprache nicht als Ballast sehen, sondern im guten Fall auch als Chance zur Zwei- und Mehrsprachigkeit.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Janine Wissler und Willi van Ooyen (DIE LINKE))

Meine sehr verehrten Damen und Herren, deswegen sage ich: Das, was Herr Erdoğan zur Assimilation gesagt hat, ist schlichter Unfug. Ich zitiere an diesem Punkt meinen Bundesvorsitzenden Cem Özdemir: „Es kann keinen Zwang zur Assimilation geben, aber ein Recht darauf. Kein Staat, kein Politiker, weder Frau Merkel, noch Herr Erdoğan hat den Bürgerinnen und Bürgern vorzuschreiben, ob sie religiös sein sollen, oder welche Sprache sie mit ihren Kindern sprechen.“

Liebe Kolleginnen und Kollegen, das gilt aber in alle Richtungen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Für Politiker kann nur der Rahmen entscheidend sein, und der heißt: Integration, Verfassungstreue, Beherrschen der Amtssprache, Eingliederung ins Berufsleben und bestmögliche Förderung der Kinder – in der Schule genau wie in der Familie.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, gerade von der Union, da sollten Sie sich einmal überlegen, ob Ihre reflexhafte Reaktion auf Herrn Erdoğan nicht ebenfalls ein Teil des Problems ist.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Willi van Ooyen (DIE LINKE))

Ich muss Ihnen sagen: Die Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik Deutschend, egal ob sie einen türkischen oder sonstigen Migrationshintergrund haben, betrachte ich als die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes; da mag Herr Erdoğan sagen, was er will oder sonst wer.

Eigentlich ist es doch verrückt, dass man die Uhr nach den Reaktionen der Union auf Herrn Erdoğan stellen kann – genau, wie die Kaczyński-Partei auf Frau Steinbach reagiert. Am Ende ist das doch eine Situation, bei der Sie sich einmal überlegen müssen, ob die Art und Weise, in der Sie immer versuchen, das hier hoch zu ziehen, in irgendeiner Form irgendetwas Positives zur Integration beiträgt.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD sowie des Abg. Willi van Ooyen (DIE LINKE) – Zuruf des Abg. Holger Bellino (CDU))

Deswegen stelle ich fest: Wir sind froh darüber, wie die Vorlaufkurse angenommen werden. Am Montag war das in der Zeitung zu lesen. Ich erinnere mich noch sehr genau an die Debatten hier vor zehn Jahren.

(Zuruf des Abg. Dr. Norbert Herr (CDU))

– Herr Herr, passen Sie einmal auf mit dem „Zwangsgermanisierer“. Damals haben Sie nämlich gesagt: Wir müssen unbedingt Sanktionen vorsehen, weil die hier alle kein Deutsch lernen wollen; das ist Parallelgesellschaft usw.

Am Montag habe ich in der Zeitung gelesen, dass eine Empfehlung für den Vorlaufkurs in den vergangenen Jahren von mehr als 95 Prozent der Eltern angenommen wurde. Das sagt ein Sprecher des Kultusministeriums.

(Zuruf der Abg. Mürvet Öztürk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) – Holger Bellino (CDU): Das zeigt, dass wir das gut gemacht haben!)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, das zweite sehr Interessante: 919 von insgesamt 7.773 Kindern in den Vorlaufkursen, also 12 Prozent, haben Deutsch als Muttersprache. Das heißt, wir haben es hier offensichtlich nicht nur mit einem Migrationsproblem zu tun, wir haben es mit einem sozialen Problem zu tun.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN sowie der Abg. Petra Fuhrmann (SPD))

In Familien, in denen der Fernseher die Kommunikation übernimmt, ist die Kommunikationsfähigkeit der Kinder am Ende nicht mehr gegeben – und zwar egal, in welcher Sprache der Fernseher läuft.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

Insofern müssen wir uns die Frage stellen, was hier real gemacht wird. Herr Hahn amselt sich zwar immer als größter Integrationsminister auf der nördlichen Halbkugel auf, hat aber real in den letzten zwei Jahren faktisch nichts gemacht.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

Die zweite Frage, die wir uns stellen müssen – –

Vizepräsident Lothar Quanz:

Herr Al-Wazir, die sechs Minuten sind erreicht.

Tarek Al-Wazir:

Ich komme zum Schluss. – Zwangsgermanisierer. Ich bitte, weil es schon wieder im Landtagsprotokoll auftaucht, die Kollegen der Union, die das immer behaupten, einmal die Belegquelle zu nennen, wann wer wen Zwangsgermanisierer genannt hat. Ich habe nur eine einzige Quelle gefunden. Das war Hans Maier, der vor 30 Jahren der Berliner SPD Zwangsgermanisierung vorgeworfen hat, weil sie gesagt hat: Keine Türkenklassen mehr zur Erhaltung der Rückkehrfähigkeit, sondern Unterricht in Deutsch zur Integration.

Herr Herr, Herr Irmer, ich bitte Sie, nennen Sie einmal die Quelle. – Vielen Dank.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der LINKEN)

Vizepräsident Lothar Quanz:

Herr Al-Wazir, vielen Dank.