Inhalt

18.11.2009

Kordula Schulz-Asche zum Haushaltsplan des Ministeriums für Arbeit, Familie und Gesundheit

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Mein Kollege Tarek Al-Wazir hat heute Morgen in der Generalaussprache zum Haushalt die Frage gestellt: Welchen Staat wollen wir? – Das ist eine der ganz entscheidenden Fragen gerade auch für den Sozialhaushalt. Es ist ein bisschen schade, dass sich meine Vorredner eher im Detail verloren haben; denn ich halte diese Frage für grundsätzlich. Wenn wir uns den Haushalt des Ministeriums für Arbeit, Familie und Gesundheit ohne Soziales anschauen, dann sehen wir, dass er nicht nur zunehmend intransparent wird, was die Haushaltsgestaltung angeht – aber das ist heute nicht mein Thema –, sondern wir sehen auch, dass er keine Antwort auf Herausforderungen grundsätzlicher Art hat, die mit der Veränderung unserer Gesellschaft zusammenhängen, und schon gar nicht mit der Wirtschaftskrise und drittens auch nicht hinsichtlich der nachhaltigen Gestaltung von sozialem Frieden in unserem Land. Meine Damen und Herren, deshalb lehnen wir diesen Haushalt ab.

(Beifall bei der BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Was man bestenfalls über diesen Haushalt sagen kann – das ist bei der Beteiligung der CDU an einer Regierung schon fast ein Vorteil –, ist, dass es kein zurück, sondern nur ein „weiter so“ gibt. Meine Damen und Herren, wir haben eine Austrocknung der sozialen Landschaft. Wenn wir uns die Finanzsituation des Landes und der Kommunen sowie die prognostizierte Entwicklung im nächsten Jahr anschauen, dann wissen wir alle, dass hier noch ganz andere Herausforderungen auf uns zukommen werden.

Lassen Sie mich nur wenige Beispiele nennen. Bei den Frauenhäusern ist die Situation inzwischen so, dass zum Teil bis zu 40 Prozent Fremdmittel eingeworben werden müssen, um die Arbeit der Frauenhäuser überhaupt aufrechterhalten zu können.

Das Thema sexuelle Gewalt gegen Mädchen und Jungen ist ein Thema, für das man nicht so leicht Spenden sammelt und Spender findet. Das ist tragisch für unsere Gesellschaft, aber das ist so. Diese Bereiche haben überhaupt keine Möglichkeit, Fremdmittel einzuwerben. Sie sind deshalb auf die Unterstützung der Länder und Kommunen angewiesen. Meine Damen und Herren, in diesem Bereich ist seit Jahren nichts mehr passiert.

Lassen Sie mich einen weiteren Punkt herausgreifen. Herr Dr. Bartelt hat vorhin den Mitarbeitern in den Einrichtungen gedankt und hat gesagt: „Die brauchen Luft zum Atmen“. Meine Damen und Herren, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den meisten sozialen Projekten haben doch schon heute gar keine Luft mehr zum Atmen. Warum? In den meisten Projekten sind die Mitarbeiter durch die Einsparungen der letzten Jahre auf 80 Prozent oder sogar auf 60 Prozent der Arbeitszeit heruntergegangen und arbeiten weiter 100 Prozent wie früher. Meine Damen und Herren, das ist doch die Situation, die wir in den meisten sozialen Projekten bei uns haben. Wenn Sie hier nicht eingreifen, wird sich durch die Tariferhöhung im nächsten Jahr die Situation weiter verschlechtern. Meine Damen und Herren, deswegen darf es auch in diesem Bereich ein „weiter so“ nicht geben.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der Abg. Petra Fuhrmann (SPD))

Ministerpräsident Roland Koch hat heute Morgen, wie ich finde zu Recht, auf die Bedeutung des Ehrenamtes hingewiesen. Meine Damen und Herren, gerade bei einem qualifizierten Einsatz von vielen ehrenamtlichen Menschen brauchen wir aber auch eine professionelle Betreuung. Auch hier nenne ich nur ein einziges Beispiel. Im Hospizbereich müssen Sie – glücklicherweise gibt es viele Menschen, die das tun – mit ehrenamtlichen Helfern arbeiten.

Aber diese Arbeit ist hoch belastend, und deswegen brauchen Sie eine professionelle Betreuung, eine Supervision, eine Unterstützung dieser ehrenamtlichen Helfer. Wenn wir das nicht bezahlen können, wenn wir diese Leistung nicht erbringen können, dann werden wir keine ehrenamtlichen Helfer mehr finden. Dann wird auch ein so wichtiger Bereich der sozialen Tätigkeit in unserem Land zusammenbrechen. Das dürfen wir nicht zulassen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)

Meine Damen und Herren, ich könnte noch viel zu diesem Haushalt sagen. Ich habe gesagt, er ist ein „Weiter so!“ in vielen Bereichen. Das ist aber nicht das, worauf es im Moment meiner Meinung nach ankommt. Wir stehen tatsächlich vor der Entscheidung, welchen Staat wir wollen. Das heißt in der Sozialpolitik, dass wir uns überlegen müssen, wie wir den sozialen Frieden langfristig und nachhaltig in unserem Land sichern können.

Deswegen schlagen wir wie jedes Jahr, aber immer angepasst, verändert und fortentwickelt, unser grünes Sozialbudget vor, in diesem Jahr mit einer zusätzlichen Summe von rund 26,5 Millionen Euro, weil wir der Meinung sind, dass die Träger, die soziale Dienstleistungen anbieten, mehr Verlässlichkeit brauchen. Wir können nicht weiter zulassen, dass  Einjahresverträge die Regel sind und die Beschäftigten dort keinerlei Sicherheit haben. Wir wollen mit unserem Sozialbudget eine längere Sicherheit für die Träger schaffen, damit sie auch wieder vernünftige Arbeitsverträge anbieten können.

Herr Rock hat es angesprochen. Natürlich brauchen wir ein Instrument für die Armuts- und Reichtumsberichterstattung, durch das wir sehen können, welche Maßnahmen wirksam sind und welche nachhaltig wirken. In diesem Bereich ist überhaupt noch nichts passiert. Im Gegenteil, die meisten Träger sind im Moment mit Bürokratie beschäftigt, und die zustande kommenden Daten lassen sich untereinander überhaupt nicht vergleichen.

Das wesentliche Ziel, das Sozialpolitik erreichen kann – es ist ein ganz wesentliches Ziel, wenn wir von sozialem Frieden und Nachhaltigkeit sprechen –, muss doch sein, die Menschen für Teilhabe zu befähigen, und zwar entsprechend ihren Möglichkeiten. Das ist die Aufgabe einer Sozialpolitik, die die Bürgerinnen und Bürger wirklich emanzipatorisch einbezieht. Deswegen haben wir beim Sozialbudget, das insgesamt neun Fachziele umfasst, fünf Schwerpunkte gesetzt.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

– Jetzt klatscht meine Fraktion schon, wenn ich sage, wir setzen Schwerpunkte. Aber ich würde auch gerne vorstellen, welche wir setzen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Meine Damen und Herren, zur Sozialpolitik gehört ganz wesentlich die Solidarität zwischen den Generationen. Wir reden viel über demografischen Wandel, aber auch hierzu ist im Haushaltentwurf, den die Landesregierung vorgelegt hat, überhaupt nicht zu erkennen, wie der Umbau von Lebensräumen, um sich auf eine alternde Gesellschaft einzustellen, in Stadt und Land gestaltet wird. Hier wollen wir einen besonderen Akzent unserer Arbeit setzen.

Herr Rock hat gesagt, man wolle die Situation in den Kindergärten verbessern. Sie nehmen seit Jahren nicht zur Kenntnis, dass wir einen zunehmenden Erziehernotstand in den Kindergärten haben. Das ist ein Problem, das a) durch die Bezahlung, b) durch die Arbeitsbedingungen und c) wahrscheinlich auch dadurch bedingt ist, dass diese Landesregierung seit Jahren keine vernünftige Perspektive für diesen Bereich vorlegt. Hier wollen wir Abhilfe schaffen und schlagen deswegen ganz konkret ein Programm vor, das die Ausbildung von mehr Erzieherinnen und Erziehern – um die Männer nicht zu vergessen – fördert.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Willi van Ooyen (DIE LINKE))

Ich habe den demografischen Wandel schon angesprochen. Wir haben ein ähnliches Problem bei der Pflege, sowohl in der Altenpflege als auch in der Krankenpflege. Wir brauchen dringend eine bessere Ausbildung und auch mehr Ausbildung in diesen Bereichen, wenn wir uns auf eine alternde Gesellschaft einstellen wollen. Wir brauchen außerdem – das gilt sowohl für ältere, aber vor allem auch für behinderte Menschen aller Altersgruppen – mehr Unterstützung zum selbstbestimmten Wohnen. Auch das ist ein wesentlicher Bereich, den wir als Schwerpunkt in unserer Sozialpolitik anerkennen.

Meine Damen und Herren, der Arbeitsmarkt ist ein weiteres Problem, das sich durch die schwarz-gelbe Regierung in Berlin eher verschärft. Man braucht sich nur die Arbeitsmarktpolitik dort anzuschauen. Wir haben seit Jahren im System von Hartz IV eine relativ kleine, aber klar erkennbare Zahl von Menschen, bei denen klar ist, dass sie aufgrund ihrer individuellen Situation langfristig oder mittelfristig nicht in den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren sind. Das können Alleinerziehende mit bestimmten Hintergründen sein, das können Menschen mit bestimmten Erkrankungen sein. Hören wir doch bitte auf, diese Menschen von einem Amt zum anderen zu jagen, sie zu demütigen und zu diskriminieren. Schaffen wir einen sozialen Arbeitsmarkt, der diesen Menschen endlich eine Perspektive schafft, der ihnen wieder Mut gibt, der ihnen wieder die Möglichkeit der gesellschaftlichen Teilhabe gibt. Das ist überfällig. Lassen Sie uns endlich daran arbeiten, einen solchen sozialen Arbeitsmarkt zu schaffen, um diesen Menschen endlich zu helfen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der LINKEN)

Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Schluss kommen. Wir brauchen – auch hier möchte ich den Bogen zur Generaldebatte von heute Morgen schlagen – keine Marktideologen und keine Staatsideologen. Wir brauchen eine Sozialpolitik, die nachhaltig für sozialen Frieden sorgt, und das tut sie am besten, indem sie Bürgerinnen und Bürgern mündige Partizipation an der Gesellschaft ermöglicht, Teilhabe ermöglicht. Das ist unser Ziel. – Danke schön.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)

Vizepräsident Frank Lortz:

Herzlichen Dank, Frau Kollegin.